Anzeige
Anzeige

Interview Corona-Krise: Social Distancing und die Folgen für Familien

Ein Junge schaut sehnsüchtig aus dem Fenster und versucht mit dem Social Distancing klarzukommen.
© tatyana_tomsickova / iStock
Familienalltag tagein, tagaus in den gleichen Räumen, keine Kita, keine Schule: Eine Situation, die es bei uns so noch nicht gegeben hat. Wir haben mit dem systemischen Berater und Therapeuten Dr. Matthias Finkemeier über Social Distancing und die möglichen Folgen gesprochen. Er sieht, neben den vielen Einschränkungen, auch Chancen für Familien. Ein Gespräch über die Kommunikation mit Kindern während der Corona-Krise und wie wir uns als Gesellschaft gegenseitig unterstützen können.

Artikelinhalt

Dr. Finkemeier, gibt es Erfahrungswerte wie Menschen, und vor allem Kinder, mit Social Distancing umgehen?

Dr. Matthias Finkemeier
© Dr. Matthias Finkemeier

Evolutionär bilden sich in Krisenzeiten normalerweise Gruppen, die Schutz und Sicherheit bieten sollen. Es ist vor allem für Kinder – und leider auch für viele Erwachsene – zunächst unverständlich, dass in Corona-Zeiten ausgerechnet Abstand und Isolation die beste Art von Fürsorge sein sollen.
 
Kleinkinder suchen bei Unsicherheit grundsätzlich den direkten Kontakt zu den Eltern. Das bei körperlicher Berührung ausgeschüttete Bindungshormon Oxytocin hat einen beruhigenden Antistress-Effekt. Es lässt sich tatsächlich messen, wie Puls und Blutdruck runtergehen und das Immunsystem reagiert. Es bietet sich bei Kleinkindern also an, sie im Arm hin und her zu wiegen oder eine Kleinkindmassage zu machen.

Ältere Kinder und Jugendliche scheinen die ganze Angelegenheit eher mit Ruhe zur Kenntnis zu nehmen. Hier sind die Eltern gefragt, ebenso Ruhe zu bewahren und förderlich auf ihre Kinder einzuwirken.

Welche Auswirkungen kann die körperliche Isolation von Freunden und älteren Familienmitgliedern haben?

Die Kinder und Jugendlichen werden ja nicht körperlich isoliert, sondern sie haben für einen begrenzten Zeitrahmen keine direkten Kontakte außerhalb der Familie. Die Familie ist hier als Bezugsrahmen gefragt. Im schlimmsten Fall verbringt ein Kind also sehr viel Zeit mit einem Erwachsenen.
 
In der derzeitigen Lage ist es wichtig zu beachten, dass soziale Isolation nicht gleichbedeutend mit Einsamkeit ist. Kinder sind eingebettet in ihre Kernfamilie und es besteht die Möglichkeit, dass sie nicht weniger, sondern sogar mehr Zeit mit den Eltern und Geschwistern verbringen. Meine Erfahrungen zeigen zwar, dass einsame Kinder anfälliger für depressive Symptome in der Jugend sind, doch soweit sehe ich das hier nicht.
 
Das King’s College London hat in einer ganz aktuellen Veröffentlichung wichtige Faktoren zur Prävention psycho-sozialer Auswirkungen von Quarantäne aufgezeigt. Dies sind vor allem die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Hier scheint die Bundesregierung vieles zu tun, etwaigen Stressfaktoren vorzubeugen: Den Menschen wurde mitgeteilt, wofür die einzelnen Maßnahmen geeignet sind und wie lange diese (vorerst) dauern werden. Es wurde eine klare Kommunikation zwischen den einzelnen Bundesländern hergestellt und Telefonhotlines für Betroffene wurden geschaltet. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Wasser und medizinischer Versorgung ist ebenso sichergestellt. Der letzte entscheidende Faktor zur Stressvorbeugung liegt im Angebot sinnvoller Aktivitäten und klarer Strukturen während der Quarantäne. Diese Aufgabe obliegt derzeit den Familien.

Welche Strategien können Eltern nutzen, um ein emotionales Trauma zu vermeiden?

Eine Mutter spielt drinnen mit ihren zwei Kindern und einem Wäschekorb
© jacoblund / iStock

Soziale Isolation ist zunächst kein Problem, sondern eine Tatsache. Erst die Frage, wie damit gezielt umgegangen werden kann, entscheidet darüber, ob es eher als ein Problem oder als eine Herausforderung gesehen wird. Wichtig ist hier zu schauen, welche Sinngebung der Situation zugeschrieben wird. Dabei ist die Frage des „Wofür“ entscheidend. Es gibt keine Untersuchung, in der geprüft wurde, ob die obligatorische oder die freiwillige Quarantäne einen unterschiedlichen Einfluss auf das Wohlbefinden haben. Allerdings kann das Gefühl, dass andere von der eigenen Situation profitieren, Stresssituationen leichter ertragbar machen und dem Ganzen einen positiven Sinn geben.
 
Wenn ein Kind die Botschaft erhalten würde: „Du bist isoliert, weil du nicht okay bist!“, so würde dies mit ziemlicher Sicherheit eine Traumatisierung auslösen. Aber hier ist die Lage eine andere: Die Corona-Pandemie ist ein Weltereignis und somit in einen sozialen Kontext eingebettet. Eine Normalisierung, dass sich tatsächlich alle anderen in ähnlichen Herausforderungen befinden, schweißt zusammen und führt zu einem kollektiven Wir-Gefühl. Ich würde also nicht die Trauma-Gefahr in den Fokus rücken, sondern die Herausforderung annehmen, wie Kinder unter zeitlich begrenzten, schwierigen Umständen gedeihen können.
 
Im Eltern-Kind-Kontakt gelten ein paar einfache Grundregeln: Machen Sie mehr MIT den Kindern als FÜR die Kinder, beziehen Sie die Kinder in Aktivitäten im Haushalt ein und schaffen Sie klare Strukturen über Tagespläne. Es ist auch wichtig, die Gefühle der Kinder wie Frust und Langeweile zu bestätigen, diese gemeinsam auszuhalten und gleichzeitig Trost zu spenden, dass es momentan eben nicht anders geht. Kinder, die sich geliebt und angenommen fühlen, werden diese vorübergehenden Zustände überstehen.

Der Sohn einer Kollegin hatte zum Beispiel ein „Langeweile-Kissen“, auf das er sich setzte, wenn ihm gerade fad war. So gab es einen Platz für die Langeweile, meistens ist ihm dann etwas eingefallen.
 
Eine andere Strategie kann sein, die Sorgen und Nöte der Kinder abends auf Zettel zu schreiben und in eine Kiste zu legen. Morgens ist die Kiste wie auf wundersame Weise leer.

Eine Mutter unterhält sich liebevoll mit ihrer Tochter
© fizkes / iStock

Sollten ihre Kinder überfordernde Fragen stellen, können Sie dies auf Augenhöhe, aber in Ihrer Rolle als verantwortlicher Erwachsener zur Kenntnis nehmen. Älteren Kindern kann man etwas vorlesen oder es können Entspannungs- und Phantasiereisen gemacht werden. Sie finden leicht einen sicheren, ruhigen Ort, der sie entspannen und zur Ruhe kommen lässt.

Kindern, die häufig Fragen nach dem Ende der sozialen Einschränkungen stellen, können imaginative Gedankenspiele helfen, wie es nach der Krise weitergehen wird. Sprechen Sie mit ihren Kindern darüber, was sie gerne als erstes machen wollen, wenn sie wieder unbegrenzt raus können, was sie sich wünschen und was sie derzeit vermissen. Hier kann eine positive Zukunftsvision Zuversicht stiften.

Das Thema Kommunikation kommt jetzt tatsächlich immer wieder auf. Wie sollten wir mit unseren Kindern sprechen?

Hier kommt es natürlich auf das Kindesalter an. Es erweist sich als ratsam, mit Kindern bis zu drei Jahren gar nicht über das Corona-Phänomen zu sprechen, sie sollten am besten gar nichts davon mitbekommen. Bei Kindern bis zu zehn Jahren ist es wichtig, gelassen zu reagieren, da sich die Ruhe der Eltern direkt auf diese Kinder auswirkt. Mit älteren Kindern kann man reden wie mit Erwachsenen.
 
Bedeutsam kann auch die richtige Dosierung an Informationen sein. Oft haben Kinder gar kein Interesse an einem längeren Gespräch, sondern stellen ihre Fragen im Alltag nebenbei. Mein achtjähriger Neffe fragte seine Mutter zum Beispiel: „Was kann mit Opa passieren? Wie wird man krank? Wie wird das Virus übertragen?“ Hier gilt: je direkter die Kommunikation, desto besser.

Sollten Eltern oder Jugendlichen zuhause sprichwörtlich die Decke auf den Kopf fallen, ist es wichtig, frühzeitig Auszeiten zu vereinbaren. Bei angespannten Situationen lieber rechtzeitig ein Stopp-Zeichen setzen, bevor der Konflikt eskaliert und sich nach 30 Minuten wieder treffen und schauen, ob sich der Sturm gelegt hat. Ich höre dieser Tage von Teenagern, denen das Verständnis für die ganzen Maßnahmen fehlt, die rausgehen wollen. Hier hilft aus meiner Sicht wieder nur, sie umfassend zu informieren. Zugleich können Sie Verständnis für die Gefühle der Jugendlichen äußern und sie damit in ihrer Erlebniswelt abholen.

Eine Familie spielt ein Kartenspiel am Esstisch
© filadendron / iStock

Sie können den Bedeutungsrahmen, das sogenannte Framing, des Corona-Phänomens frei wählen. Wenn wir von einer Pandemie sprechen, die unser aller Freiheit einschränkt, hat dies bestimmte Auswirkungen auf unser Empfinden. So fühlen wir uns bei einer solchen Sprechweise wahrscheinlich beengt oder hoffnungslos. Spüren Sie einen Unterschied, wenn Sie stattdessen hervorheben:
 
„Es ist unglaublich, welch eine Kraftanstrengung jeder einzelne derzeit unternimmt. Ich bin beeindruckt von der Einsicht so vieler, von rührenden Geschichten über Menschen, die sich gegenseitig helfen. Sie akzeptieren die Situation so, wie sie ist. Sie finden kreative Lösungen zuhause. Sie können das Ganze mitunter auch mit Humor nehmen. Sie machen das Beste aus der Situation und lassen neue Kreativität entstehen.“
 
Macht dieser Frame für Sie einen Unterschied? Hat sich ein Gefühl von Ruhe eingestellt? Sind innere Bilder entstanden? Die eigene Sprache dieser Tage kann auf vielfältige, kreative Weise genutzt werden. Probieren Sie doch mal unterschiedliche Varianten aus und achten Sie auf die Reaktionen ihrer Kinder oder des Partners.
 
Bei der Kommunikation mit Kindern halte ich gerade in solchen Zeiten das Credo hoch: „Es ist erstaunlich, wie viel Lob ein einzelner Mensch zu ertragen imstande ist.“ Will sagen: Loben Sie Ihre Kinder ruhig ausgiebig dafür, was sie leisten und dass sie in dieser Situation mit zum Gelingen beitragen. Eltern schildern mir immer wieder, dass häufiges und ausführliches Lob von ihren Kindern überhaupt nicht als übertrieben empfunden wurde, sondern dazu geführt hat, dass ihre Kinder noch mehr als zuvor mitgemacht haben.

Gibt es Ihrer Meinung nach auch Chancen für Familien?

Eine Oma freut sich mit ihren Enkeln über Video-Chat zu kommunizieren
© stefanamer / iStock

Das Weltereignis Corona verändert zumindest vorübergehend unser aller Leben. Eine solche Situation kann Chancen für einen neuen gesellschaftlichen und familiären Zusammenhalt eröffnen.
 
Da Freizeitaktivitäten wie im Sport- und Musikverein außerhalb der eigenen vier Wände wegfallen, hat Corona Familien eines beschert: Zeit. Hier entsteht die Chance, die Perspektive zu wechseln. Viele Eltern berichten, sie empfinden es neben den zusätzlichen Herausforderungen manchmal wie ein Geschenk, die eigenen Kinder intensiver begleiten zu können. Sie können für jede Minute, die Sie mit Ihrem Nachwuchs auf kreative Weise verbringen können, dankbar sein. Nun besteht die Chance, herausfordernde Situationen gemeinsam auszuhalten, die sonst die Erzieherinnen und Erzieher täglich meistern. Dadurch rücken Familien wieder näher zusammen.
 
Es ist in diesen Tagen nicht wichtig, perfekt zu sein oder ständig darauf zu achten, dass alles nur wunderbar läuft. Es braucht Zeit, bis sich hilfreiche Strategien herauskristallisieren, Zeit zum Experimentieren, Zeit zum Ausprobieren. Und dann machen Sie mehr von dem, was funktioniert und sich als sinnvoll erweist. Generell kann gelten: Unterstützen Sie Ihre Kinder mit Ihrer Aufmerksamkeit.

Auch die Großeltern können mit einbezogen werden, wenn auch nicht physisch: In der Nachkriegszeit haben die meisten Familien auf beengtem Raum zusammengewohnt und zum Beispiel gemeinsam auf dem Hof oder im Familienbetrieb gearbeitet. Hier kommen die Großeltern mit ihren Erfahrungen ins Spiel: Sie könnten gefragt werden, mit welchen Ritualen sie das Familienleben gestaltet haben und wie sie mit räumlicher Enge umgegangen sind. Ich bin sicher, dass über solche Zugänge Ressourcen in den Familiensystemen sozusagen wiederbelebt und alte Familienschätze über Erinnerungen wieder ausgegraben werden können. Gleichzeitig fühlen sich die Großeltern gefragt, junge Leute erlernen neue Rituale und lassen alte Traditionen wiederaufleben.
 
Allem voran scheint der digitalen Entwicklung ein gehöriger Schub verpasst zu werden: Flexible Arbeitszeiten, Arbeiten im Homeoffice, sogar Home-Schooling über Online-Unterricht – alles scheint plötzlich denkbar und umsetzbar.

Dr. rer.pol. Matthias Finkemeier, geb. 1983, ist Dozent und Systemischer Berater in Heidelberg. Er hat Weiterbildungen in Systemischer Beratung, Systemischer Therapie und Gesprächsführung nach Milton Erickson (DGSF, M.E.G.). Er war tätig als Internatslehrer, Erzieher und in der Jugendhilfe.

Interview vom 20. März 2020

Thumbnail Gemeinsam gegen Corona
Thumbnail Gemeinsam gegen Corona
© Gruner + Jahr

Dieser Beitrag ist Teil der Initiative GEMEINSAM GEGEN CORONA der Bertelsmann Content Alliance, zu der auch der Verlag Gruner + Jahr gehört, in dem ELTERN erscheint. Gemeinsam setzen wir ein Zeichen im Kampf gegen die Ausbreitung des Corona-Virus.

Neu in Familie

VG-Wort Pixel