Zeitgleich mit meiner Tochter wurden zwei Zwillingsjungs eingeschult. Einer davon (Justin) in der Klasse meiner Tochter, der andere (Kevin) in einer Parallelklasse.
Dunkelhäutig, die Mutter spricht kaum Deutsch, schon am ersten Schultag (also am Tag nach der Einschulung), brachte sie die Kinder zu spät zur Schule (sie sind mir zufällig begegnet, daher weiß ich das). Am ersten Elternabend (zu dem sie 40 Minuten zu spät kam) hat die Lehrerin sie vor versammelter Elternschaft in sehr barschem Ton darauf aufmerksam gemacht dass die Kinder regelmäßig nicht die Schul- und Sportsachen dabei haben die sie brauchen. Dazu muss ich sagen dass in Elternabenden sonst nie über individuelle Kinder oder Individualfragen gesprochen wird.
Dann hatte ich letztes Jahr zufälligerweise in einer meiner Seminargruppen zwei Lehrerinnen dieser Schule (die nicht wussten dass meine Tochter auch auf diese Schule geht - es ist eine sehr große Grundschule, auf mehrere Standorte verteilt). Sie berichteten vom Problemkind Justin der sich einfach überhaupt gar nicht benehmen kann und überhaupt immer ganz unmöglich ist. Sie hatten ihn zur Schulleitung geschickt damit er sich dort eine Standpauke abholen kann, das hat er verweigert, daraufhin haben sie das Problem Justin gelöst, indem sie ihn aus dem Religionsunterricht und aus der Fahrt ins Schullandheim ausgeschlossen haben. Erstklässler wohlgemerkt. Ich habe davon erfahren weil es darum ging, mir eine gelungene Konfliktlösung zu berichten.
Wenig später wurde mir im Rahmen einer Schulexkursion die ich als Elternteil begleitet habe, Justin in die Gruppe zugeteilt, für die ich zuständig war. Er benötigte durchaus meine Aufmerksamkeit und auch sehr straffe Zügel und war dann in diesem Rahmen für mich völlig problemlos im Umgang. Mir ist völlig bewusst, dass ein einzelner Tag in einer Ausnahmesituation mit einer fremden Betreuungsperson nicht den Alltag abbildet. Trotzdem hatte ich großes Mitgefühl mit Justin, vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass meine Tochter noch heute, ein Schuljahr später, begeistert vom Schullandheim erzählt und er solche Erfahrungen nicht machen durfte und nie eine Chance dazu hatte.
Justin ist auch in diesem Jahr noch Erstklässler (noch immer in der selben Klasse, da dort alle 4 Klassenstufen gemeinsam unterrichtet werden).
Heute habe ich in der Schule die Aufsicht in einem Projektzimmer gemacht. Es kamen 15 Kinder aus verschiedenen Klassenstufen und arbeiteten an Aufgaben, die sie sich im Projektzimmer ausgesucht haben. Unter den Kindern war auch Kevin. Er war zu mir und zu allen anderen Anwesenden stets höflich und musste von mir kein einziges Mal ermahnt werden (andere Kinder habe ich im 3-Minuten-Takt ermahnt). Ich habe ihm (und natürlich auch anderen) ein bisschen Hilfestellung gegeben, das konnte er sofort umsetzen und hat es dankbar angenommen und sich sogar dafür bedankt. Andere haben dann versucht sich über seine Arbeiten lustig zu machen, das habe ich direkt im Keim erstickt. Es wurde teilweise auch versucht ihm Materialien vor der Nase wegzuschnappen.
Dann kam ein Junge auf mich zu und flüsterte mir mit Blick auf Kevin ins Ohr ("der da ist ganz schlimm und unerzogen"). Ich sagte zu ihm dass mir bislang nichts dergleichen aufgefallen ist und er sich darauf verlassen kann, dass ich alles prima unter Kontrolle habe.
Kevin war gerade mit einer Aufgabe befasst, da trat ein anderer Junge an ihn heran, zeigte auf das Arbeitsmaterial und sagte "das gehört mir, das hat mein Vater hergestellt". Kevin hat darauf nicht reagiert und arbeitete weiter. Da trat der Junge noch näher an ihn heran, nahm den Gegenstand in die Hand und sagte sehr provokant "der gehört aber mir".
Ich bin dann hin und habe ihm gesagt er soll es hinlegen und sich um seine eigene Aufgabe kümmern. Alle im Raum befindlichen Materialien sind allen Schülern überlassen um am Projekt zu arbeiten.
Am Ende der Projektzeit kam die Klassenlehrerin meiner Tochter und schaute nach dem Rechten und fragte mich wie es verlaufen ist. Ich sagte dass viele Kinder in Sachen Disziplin meine Unterstützung gebraucht haben. Sie schaute auf Kevin und sagte "ah ja, ich seh gleich was sie meinen".
Und ja, mir ist auch hier bewusst, dass die heutige Situation kein Alltag ist.
Ich habe der Lehrerin gesagt "Kevin hat sich mustergültig verhalten, selbst als er von anderen provoziert wurde". Und jetzt fühle ich mich hilflos und ohnmächtig und voller Mitgefühl für diese Buben, die von Anfang an keine Chance haben.