Hallo miteinander,
vor einigen Tagen gab es ja in einem anderen Thread ein paar Beiträge zum Thema der medizinischen Indikation. Um dieses im Kontext der Pränataldiagnostik offensichtlich sehr wichtige Thema einmal unabhängig von diesem Thread näher zu erörtern und gerne auch zu diskutieren, eröffne ich hier einen neuen Thread dazu. (Dass ich erst jetzt etwas dazu schreibe, liegt übrigens daran, dass ich zuvor einiges recherchiert und gelesen habe.) Ich hoffe, Ihr nehmt es mir nicht übel, dass mein Beitrag doch recht lang geworden ist und vielleicht etwas "unimäßig" daherkommt.
Tibby, Du hattest dort geschrieben:
Das kann ich wirklich nachvollziehen und möchte Dich dafür auch überhaupt nicht kritisieren, wohl aber darauf hinweisen, dass es nicht ganz der derzeitigen Rechtslage in Deutschland entspricht.Was man aus dem verlinkten Thread lernen kann, und das hast du ja auch schon erwähnt, ist absolute Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Nur so kann man einen Weg finden, mit der Entscheidung, egal, wie sie ausfällt, weiterzuleben. Denn es geht tatsächlich nur um dich, jenseits der Frist, in der der eine Abtreibung straffrei bleibt, muss ein Notlage der Mutter (physisch oder psychisch) vorliegen. D.h. es geht wirklich nur darum, dass du (und du im Kontext deiner Familie) sich das Leben mit dem Kind nicht zutraut. Und das ist auch ein zulässiger Gedanke. Nur du kennst dein Leben und deine Situation. Und dafür musst du dich auch nicht verstecken. Denn du würdest Verantwortung für ein Kind für einen längeren Zeitraum übernehmen, als das sonst üblich ist. Gleichzeitig haben auch Kinder, die mit T21 geboren werden, ein Lebensrecht und auch eine Lebensqualität, über die sie letztendlich nur selbst befinden können. Ich kann gut verstehen, dass Menschen mit T21 die Pränataldiagnostik speziell auf T21 ablehnen. weil sie ihnen in häufiger Konsequenz das Lebensrecht abspricht. Das ist der Widerspruch, den man ganz individuell für sich lösen und aushalten muss.
Maßgeblich für diese ist nämlich § 218a Abs. 2 StGB:
Bemerkenswert ist daran, dass der Schwangerschaftsabbruch "nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt" sein muss, d.h. die diesbezügliche eigene Einschätzung der Schwangeren gerade nicht als maßgeblich angesehen wird.Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.
Hält also eine Schwangere den Abbruch für aus den genannten Gründen "angezeigt" (und sieht auch keine zumutbare Alternative), ein damit befasster Arzt jedoch nicht, darf der Arzt keine diesbezügliche Bescheinigung ausstellen (anderenfalls machte er sich nach § 218b Abs. 1 StGB strafbar) und der Abbruch bleibt nach dem Willen des Gesetzgebers rechtswidrig und grundsätzlich strafbar (letzteres nicht bei Erfüllung der Voraussetzungen des Absatzes 1, also der sog. Fristen- oder Beratungsregelung innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen). Umgekehrt bleibt der Abbruch natürlich rechtswidrig und strafbar, wenn ein Arzt ihn für "angezeigt" (und alternativlos) hält, die Schwangere aber nicht einwilligt.
Für diese Regelung gibt das Bundesverfassungsgericht in seinem sog. zweiten Abtreibungsurteil [1] einen verfassungsrechtlichen Grund an, indem es die Wertung als "nicht rechtswidrig" nur bei einer Feststellung des Vorliegens besonderer Voraussetzungen, "sei es durch die Gerichte, sei es durch Dritte, denen der Staat kraft ihrer besonderen Pflichtenstellung vertrauen darf und deren Entscheidung nicht jeder staatlichen Überprüfung entzogen ist", als zulässig erachtet (Rn. 207), nicht aber bei einer "'Selbstindikation' der Frau" (Rn. 209).
"Nicht rechtswidrig" bedeutet dabei, dass der der Tat nach Wertung der Rechtsordnung grundsätzlich innewohnende Unrechtsgehalt durch die besonderen Umstände von deren Begehung aufgehoben ist, wie dies etwa auch bei der Notwehr (§ 32 StGB) der Fall ist. (Aus diesem Grund hat es auch die Wertung der Abbrüche nach der Fristen- oder Beratungsregelung als "nicht rechtswidrig" abgelehnt, weshalb diese jetzt nicht mehr so bezeichnet werden, wohl aber straflos bleiben. Und wegen dieser unterschiedlichen rechtlichen Wertung werden Abbrüche wegen medizinischer Indikation von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt, solche nach Fristen- oder Beratungsregelung dagegen nicht (§ 24b SGB V).)
Eine wichtige Frage, die sich natürlich stellt, ist, was genau unter den im Gesetzestext vorkommenden sog. unbestimmten Rechtsbegriffen (etwa "Gefahr", "schwerwiegend" oder "zumutbar", die dort ja nicht näher erläutert oder gar definiert werden) zu verstehen ist. Dazu möchte ich auf die m.E. sehr lesenswerte Dissertation von Jana Rohloff-Brockmann [2] verweisen, die sehr ausführlich darauf eingeht (S. 69-103 [auf den Seiten, nicht darüber im PDF-Reader] mit umfangreichen Nachweisen, hier relevant insbes. S. 77-79).
Zur Frage nach dem möglichen Vorliegen einer Gesundheitsgefahr i.S.v. § 218a Abs. 2 StGB aufgrund einer pränatal diagnostizierten kindlichen Behinderung führt sie darin aus:
Auch die Medizinethikerin und ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Christiane Woopen stellt in einem Artikel [3] hohe Anforderungen an die eine medizinische Indikation begründenden Umstände:Aus der Notwendigkeit des Abstellens auf die individuellen Gegebenheiten der Frau, auch ihre gesundheitliche Prädisposition, ergibt sich schon, dass jedenfalls grundsätzlich Art und Schwere der kindlichen Schädigung nicht abstrakt oder generell festgelegt werden können, sondern immer im Zusammenhang und in Relation zu den damit verbundene Belastungen für die Schwangere und ihrer individuellen Konstitution gesehen werden müssen. Liegen jedoch keine Vorerkrankungen der Schwangeren vor, wird eine gesundheitsgefährdende Belastung in der Regel nur bei extrem schwerwiegenden und nicht therapierbaren Schädigungen eines erwarteten Kindes denkbar sein. Dies folgt aus der lebensschutzverstärkenden Ausstrahlungswirkung des verfassungsrechtlich normierten Diskriminierungsverbots zugunsten Behinderter, die nur eine eingeschränkte Gewichtung embryopathischer Parameter erlaubt und zu einer stärkeren Betonung des geforderten Schweregrades der mütterlichen Gesundheitsbeeinträchtigung führt. Eine solche hat sich aufgrund der äußeren Umstände als besonders greifbar darzustellen, nur entfernte Wahrscheinlichkeiten reichen nicht aus. (S. 78 f., dort mit Fußnoten)
Abschließend möchte ich nur noch auf einen m.E. bedenkenswerten Leserbrief [4] eines Gynäkologen im Ärzteblatt zu diesem Thema hinweisen.Für eine pränatal-diagnostisch festgestellte Entwicklungsstörung oder Erkrankung des Ungeborenen bedeutet dies, daß sie sehr schwer sein muß und nicht behandelbar sein darf, da leichte oder mittelschwere Erkrankungen oder Behinderungen in aller Regel keine schwerwiegende Gesundheitsgefährdung der Schwangeren verursachen können und eine Therapierbarkeit diese Gefährdung auch ohne Schwangerschaftsabbruch abzuwenden vermag. (S. 976)
Viele Grüße und besten Dank an alle, die sich die Zeit genommen haben, alles zu lesen,
Tabea
[1] BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Mai 1993, Az. 2 BvF 2/90 und 4, 5/92, BVerfGE 88, S. 203 ff.
[2] Jana Rohloff-Brockmann, Spätabtreibung: Rechtslage und Konflikte, Dissertation, Universität Rostock 2008.
[3] Christiane Woopen, Zum Anspruch der medizinisch-sozialen Indikation zum Schwangerschaftsabbruch, Der Gynäkologe 32 (1999), S. 974-977.
[4] Oliver Oettel, Pränataltest: Unverständlicher Automatismus, Dtsch Arztebl 2012; 109(24): A-1242 / B-1067 / C-1058.