Religionsunterricht überholt?
Der Religionsunterricht in deutschen Schulen steht auf dem Prüfstand. Und das ist kein Wunder. Die großen Amtskirchen leiden an Mitgliederschwund und immer weniger Eltern lassen ihre Kinder taufen (>>>Kirche in Zahlen). In Ostdeutschland und Berlin sind Christen inzwischen zu einer Minderheit geworden und fast die Hälfte aller Deutschen, nämlich 48 Prozent, hätte kein Problem damit, den Religionsunterricht zu Gunsten der Fächer Deutsch und Mathematik zu streichen.
Dazu kommt, dass immer mehr Schüler in einem anderen Glauben erzogen werden, als dem katholischen oder evangelischen. An vorderster Stelle stehen zahlenmäßig (>>> Kirche in Zahlen) muslimische Kinder, gefolgt von jüdischen und buddhistischen Jungen und Mädchen.
Ist der herkömmliche Religionsunterricht der beiden Amtskirchen überholt?
Religion und Identität
Warum feiern wir Weihnachten? Und Ostern? Diese Fragen werden früher oder später alle Kinder ihren Eltern stellen. Denn auch nicht religiöse Familien leben mit zahlreichen christlichen Bräuchen.
"Das Christentum hat unsere Kultur stark geprägt, auch in der Kunst z.B., die man oft ohne Wissen um unsere Religion gar nicht verstehen kann", erklärt Bärbel Rados, katholische Religionslehrerin an einer Münchner Grundschule.
Religion als Bewahrer von Kultur und Tradition. Und das nicht nur im Christentum. Muslimische Glaubensbrüder und -schwestern fühlen sich durch ihre religiösen Traditionen verbunden, genau wie die jüdischen Gemeinden.
"Wir legen großen Wert darauf, dass Tradition, Sitten, Gebräuche und die Kenntnisse der eigenen Religion nicht nur vermittelt sondern vor allem gelebt und erlebt werden", erklärt Antonia Ungar, Direktorin und Lehrerin einer jüdischen Grundschule in München. "Das Erlernen von Fakten, Daten, Ereignissen, zusammen mit dem Erleben von Traditionen, hilft dem Kind bei der Findung der eigenen Identität. Nur die Kenntnis der eigenen Identität macht das Kind zufriedener mit sich selbst und mit seiner Persönlichkeit."
Die Frage "Woher komme ich und wer bin ich?" ist sicher für jüdische Kinder, deren Familien aus aller Herren Länder stammen und einem Volk angehören, das immer wieder vertrieben wurde, relevanter als etwa für katholische Buben und Mädchen mit familiären Wurzeln in z.B. Oberbayern.
Trotzdem ist die Suche nach der eigenen Identität und einem Platz in dieser Welt für alle Kinder von Bedeutung, ganz egal welcher Glaubensrichtung sie angehören. Traditionen und Kultur spielen dabei eine wesentliche Rolle. Und damit auch die Religion, ob man nun an Gott glaubt oder nicht.
Auch im Ethikunterricht werden nach Auffassung der Münchner Ethiklehrerin Elisabeth Fränkl Tradition und religiöse Kultur vermittelt, nur umfassender.
In ihrem Projekt Religionen begegnen stellt Elisabeth Fränkl in jeder Jahrgangsstufe eine andere Religion vor: "Es werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede besprochen. Und Kinder, die in einem anderen als dem christliche Glauben erzogen werden, blühen förmlich auf, wenn Sie von ihrer Religion erzählen dürfen und sich toleriert fühlen."
Rituale strukturieren
Jeden Sonntag zum Gottesdienst gehen, vor dem Schlafen noch ein Gebet sprechen, Fisch essen am Freitag... "Rituale sind für Menschen wichtig, denn sie geben dem Alltag Struktur", so Bärbel Rados. Gerade für Kinder sind erkennbare Muster unverzichtbar für die Orientierung in einer immer komplexer werdenden Welt.
Jede Religion lebt nicht zuletzt durch Rituale. Auch Kommunion, Firmung und Trauung gehören dazu, im jüdischen Glauben z.B. Bar Mizwa, Shabbat oder Channuka - wichtige Ereignisse in der religiösen Entwicklung, die gleichzeitig Ziel und Orientierung bieten.
Aber, merkt Elisabeth Fränkl an, diese im Unterricht und in der Kirche gepflegten Rituale müssen auch im Elternhaus weitergeführt werden, um Bestand zu haben. Leider passiere das aber nach ihrer Erfahrung immer seltener.
Nicht zu vergessen - und zu unterschätzen - sind natürlich familiäre Gewohnheiten wie Gute-Nacht-Geschichten, gemeinsames Abendessen oder der wöchentliche Ausflug zu den Großeltern. Auch das sind Rituale, die Kindern Halt geben - ganz ohne religiösen Hintergrund.
Werte auch ohne Religion
"Unsere Kultur ist so von christlichen Werten durchdrungen, dass man es ja gar nicht mehr bewusst merkt. Aber die christlichen Werte sind durchaus auch in ungetauften Familien grundlegend", betont Bärbel Rados. Deshalb können natürlich Werte wie Nächstenliebe, Ehrlichkeit, Bescheidenheit etc. auch von nicht religiösen Eltern vermittelt und vorgelebt werden.
Auch Ethikunterricht lehrt - neben den Grundzügen anderer Religionen - christliche Werte. Umgekehrt lernen die Kinder im Religionsunterricht, was das Judentum ist, der Islam oder was der Begriff Ethik bedeutet.
Der Unterschied liegt darin, dass im Religionsunterricht die Themen "immer im Hinblick auf Gott" betrachtet werden. In unserer Gesellschaft "wird kaum mehr über Gott gesprochen. Das empfinde ich als Verarmung", sagt Bärbel Rados. Mit "sprechen" meint sie durchaus auch kritisches Hinterfragen, was sich Kinder in ihrer Ehrlichkeit und Neugier ohnehin nicht nehmen lassen.
Und Ines Simon, ebenfalls katholische Religionslehrerin, betont, dass "Religionsunterricht eben nicht nur die Vermittlung von Werten ist - das könnten Eltern evt. auch - sondern die Hinführung zum Glauben."
Wertevermittlung im Ethikunterricht konzentriert sich hingegen mehr auf die soziale Komponente des miteinander Umgehens, z.B. "Wie lösen wir Probleme?", erklärt Elisabeth Fränkl. Dabei wird die Existenz eines Gottes nicht unbedingt in Frage gestellt, sie wird nur toleranter behandelt.
Der Glaube
"Glaube bereichert das Leben. Das möchte ich den Kindern anbieten. Ob sie das annehmen, zeigt sich erst viel später", so Bärbel Rados.
Ines Simon erklärt: "Ich möchte in meinem Religionsunterricht nicht nur Wissen vermitteln. Vielmehr versuche ich, den Kindern Glauben erfahrbar zu machen. So hören, spielen und malen wir z.B. biblische Erzählungen und überlegen, was diese uns in der heutigen Zeit sagen können. Wir lernen unterschiedliche Gebete und Gebetsformen kenne, erleben die Schöpfung oder probieren auch mal im Klassenzimmer aus, wie Weihrauch riecht. Manchmal gehen wir auch in die Kirche und machen ein Probe-Knien auf den Bänken oder betrachten den Kreuzweg."
Bei den Kindern stößt das auf großes Interesse, vor allem bei denjenigen, "die von zuhause nichts mitkriegen. Für die ist das was Neues."
In der jüdischen Schule wird Glaube u.a. durch das tägliche Gebet, Synagogenbesuche und gemeinsame Festivitäten gelebt. Wie im katholischen Religionsunterricht entwickeln besonders Kinder aus nicht religiösen Familien geradezu missionarischen Eifer.
Ines Simon betont: "Mir ist es wichtig, dass Kinder spüren, dass Gott niemand ist, den man nur mal schnell am Sonntag, zum Religionsunterricht oder in schlechten Zeiten hervorholt. Der Religionsunterricht ist meiner Meinung nach eine Chance, mit allen Sinnen zu erfahren, dass Gott auch in meinem alltäglichen Leben immer präsent und für mich da ist."
Die schulischen Bemühungen, Kindern den Glauben näher zu bringen, bedeutet nicht, sie zu bekehren. Bärbel Rados betrachtet "Religionsunterricht einfach als Bereicherung. Denn der Mensch besteht nicht nur aus Mathe und Deutsch, sondern auch aus Kunst und Philosophie und Musik.“
Und auch im Ethikunterricht gibt es einen Gott, aber, so Elisabeth Fränkl, "der wird eben in unterschiedlichen Religionen unterschiedlich genannt. Für manche ist es auch nur eine höhere Macht und für andere gibt es ihn gar nicht. Das ist jedem frei gestellt."
Entscheidung der Eltern
Natürlich ist es zunächst die Entscheidung der Eltern, ob und welchen Religionsunterricht die Kinder besuchen. "Väter und Mütter sollten auf jeden Fall die Wahlmöglichkeiten haben", betont Elisabeth Fränkl. Oft sind es auch die Kinder, die von sich aus Interesse anmelden, weil z.B. die beste Freundin in Religion geht.
"In diesen Situationen kann Religionsunterricht manchmal eine Anbahnung sein", erklärt Ines Simon. "Damit diese aber nicht ins Leere verpufft, benötigen die Kinder früher oder später die Unterstützung von Eltern Familien und Gemeinden. Auf jeden Fall ist es für die Kinder von Vorteil, wenn ihre Eltern dem Glauben aufgeschlossen gegenüber stehen. Sonst tun sich die Jungs und Mädchen oft schwer damit."
"Wie viel dann jeder in seiner Religion auslebt", weiß Antonia Ungar aus Erfahrung, "das ist ganz verschieden. Es gibt religiöse Kinder aus ganz liberalen Familien und umgekehrt."
Lesen Sie nächste Woche im dritten Teil unserer Religion-Serie: Wie Kinder im Christentum, Judentum und Islam ihren Glauben kennen lernen.