"Mami!" - die achtjährige Amelie stürzt schluchzend zu ihrer Mutter. "Paul hat mich wieder so geärgert, da bin ich gestolpert und hingefallen! Jungs sind so doof! Nie wieder spiel ich mit Jungs!" Susanne Kerner nimmt ihre Tochter in den Arm. Sie tröstet und versucht herauszubekommen, was passiert ist. Das mit den doofen Jungen ignoriert sie. Klar sind nicht alle doof, nur weil einer mal ein Bein stellt. Das wird Amelie schon noch merken. Bloß nicht so viel Wind um Kleinigkeiten!
Aber sind es wirklich Kleinigkeiten? Vorurteile umgeben uns, wo wir gehen und stehen: Mädchen sind zickig, Jungs sind ruppig, Dicke haben keine Selbstdisziplin, Sozialhilfeempfänger sind faul.
Schon Kinder und Jugendliche nehmen kein Blatt vor den Mund, untereinander nicht und nicht zu Hause. Und auch die Oma hält sich beim Sonntagsbesuch nicht mit ihrer Meinung zurück, wenn es um "die" Ausländer geht oder um bestimmte Benimmregeln.
Alles ganz normal? Oder bedenklich, weil es mit Graffiti endet, in denen "Ausländer raus" steht - oder in Gewalt in der Schule, Prügeleien zwischen Rechtsradikalen und Autonomen, Anschlägen auf Asylbewerberheime?
Der richtige Umgang mit Vorurteilen ist für Eltern eine große Herausforderung - denn wer möchte seine Kinder nicht zu Toleranz erziehen? Die Erkenntnisse aus der Konfliktforschung wirken deshalb sehr entlastend. "Vorurteile lassen sich nicht vermeiden", sagt etwa die Berliner Konfliktexpertin Petra Haumersen. "Wichtig ist, zu akzeptieren, dass wir alle welche haben. Nur wo Konflikte und Vorurteile da sein dürfen, können wir auch Unterschiedlichkeiten wahrnehmen. Zwischen uns und denen, die anders sind als wir!"
Vorurteile helfen Kindern herauszufinden, wo sie hingehören: zu welcher Clique, zu welcher sozialen Gruppe, zu den Klassenlieblingen oder den Einzelgängern.
Wir alle teilen die Welt ein, in gut und böse, richtig und falsch, in das, was wir mögen und was nicht. Wir verallgemeinern und klassifizieren, und nehmen dabei unsere eigenen Maßstäbe oder die von wichtigen Menschen als Richtschnur für unser Denken und Handeln.
"Wir können nicht aufwachsen, ohne unsere Welt einzuteilen und zu verallgemeinern", betont auch Susanne Ulrich vom Münchner Centrum für Angewandte Politikforschung (CAP), die verschiedene Programme zur Toleranzerziehung entworfen hat. "Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten eine Welt ohne Vorurteile schaffen, wenn wir Kindern mit erhobenem Zeigefinger beibringen, tolerant zu sein." Petra Haumersen bestätigt das: "Verbote nützen nichts. Sie verbannen Vorurteile nur ins Unterbewusste. Und da sind sie manchmal gefährlicher!"
Mehr noch: Wer glaubt, er habe selbst keine Vorurteile, unterliegt einem großen Irrtum. "Menschen ohne Vorurteile gibt es nicht", sagt Susanne Ulrich. "Kindern das beizubringen, ist der Anfang wirklicher Toleranzerziehung."
In den USA, wo seit Jahrzehnten Menschen verschiedenster Herkunft und Hautfarbe zusammenleben, können dies Interessierte auf recht drastische Weise erfahren. Im Museum für Toleranz in Los Angeles gibt es zwei Eingangstüren: "Für Menschen mit Vorurteilen" steht über der einen, "Für Menschen ohne Vorurteile" über der anderen. Wirklich hinein kommt nur, wer die "Vorurteilstür" wählt. Öffnet man die andere, steht man vor einer Wand.
Also doch stillhalten, wenn Kinder abwertend über die neuen Nachbarn reden? Kein Wort verlieren, wenn der Junior am Frühstückstisch radikale Parolen von sich gibt? Ganz und gar nicht, meinen die Experten. Haumersen: "Wenn wir versuchen, über Vorurteile hinwegzusehen oder nur Gemeinsames zu betonen, vermeiden wir Konflikte und damit die Chancen zu ihrer Bewältigung. Wir leben nicht in einer heilen Welt, sondern in einer voller unterschiedlicher Menschen mit unterschiedlichen Interessen."
Allerdings ist Empörung nicht der richtige Weg. Eltern sollten Kindern stattdessen einen neuen Umgang mit ihren Einstellungen ermöglichen. Wie das geht? Am besten durch Begegnungen mit demjenigen, dem die Vorurteile gelten: Wenn Konfirmanden eine Moschee besuchen, Hauptschüler ins Gymnasium gehen, Gesunde und Schwerbehinderte zusammen lernen - dann werden Möglichkeiten geschaffen, an denen sich Konflikte entzünden, aber auch bewältigen lassen.
Das kann zweierlei bringen: Man bemerkt, dass nicht "alle" so sind, wie es das Vorurteil glauben macht, und dass Vorurteile einen Menschen auf die Eigenschaften reduzieren, die uns an ihm missfallen. Positive Seiten werden übersehen.
Neben solchen wichtigen Begegnungsmöglichkeiten spielt das Elternhaus und sein Umgang mit Voruteilen eine sehr wichtige Rolle: Was Eltern vorleben, wie sie selbst mit anderen Meinungen und Konflikten umgehen, prägt Kinder fürs Leben. Susanne Kerner hat deshalb doch Pauls Eltern angerufen und den Jungen eingeladen. Dabei hat Amelie gemerkt, dass sie gut mit ihm spielen kann - und dass er Ideen hat, die ihr allein nie gekommen wären. Von wegen - alle Jungs sind doof!
Warum wir Vorurteile haben
- Vorurteile helfen, die Welt in Kategorien zu ordnen, mit denen wir leichter umgehen können. Das passiert schon in frühester Kindheit, weil wir die Wertsysteme der Familie meist ungefragt übernehmen.
- Kinder, die stark kontrolliert oder überbehütet aufwachsen, können weniger gut eigene Problemlösungsstrategien entwickeln. Sie übernehmen leichter Vorurteile von anderen.
- In der Pubertät und auch später bilden sich Cliquen, über Outfit, Sport, Freizeit. Gruppenmitglieder teilen die Welt in "wir" und "die anderen" – wobei letztere meist schlechter wegkommen.
- Wer Macht hat, tendiert zu Vorurteilen gegenüber jenen, die seine Macht gefährden könnten, sagen Sozialpsychologen. Deutsche gegenüber Einwanderern, Männer gegenüber Frauen, Erwachsene gegenüber Kindern.
Interview: Reden macht tolerant
Die amerikanische Vorurteilsforscherin Rebecca Bigler von der Uni Texas in Austin im Gespräch mit den Ef-Autorinnen:
Im Kampf gegen Vorurteile waren die bisherigen Unterrichtsmodelle in den Schulen relativ wirkungslos. Weshalb?
Wir sind lange von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Wir haben angenommen, dass man Kindern nur neue Rollenmodelle - weibliche Feuerwehrleute oder männliche Krankenpfleger - zeigen muss, und schon verschwinden die Vorurteile. Wie meine Untersuchungen zeigen, funktioniert das aber nicht.
Haben Sie ein Beispiel?
Wir haben Schulkindern eine Geschichte erzählt, in der eine Feuerwehrfrau als Retterin agiert. Unmittelbar danach haben wir sie gebeten, die Geschichte nachzuerzählen. 60 Prozent der Kinder sagten, ein Mann habe das Feuer gelöscht. Wenn sich bestimmte Einstellungen festgesetzt haben, ist es offenbar schwer, sie zu ändern.
Lässt sich das nicht vermeiden?
Wahrscheinlich nicht. Es gibt in jeder Gesellschaft Bewertungen von anderen Menschen. Allerdings muss man darüber mit den Kindern sprechen, es thematisieren. Kinder spüren Vorurteile sowieso und erkennen, dass wir nicht alle gleich behandelt werden und behandeln.
Was können Eltern konkret tun?
Klar ansprechen, was sie selbst bemerken und was ihrer Meinung nach Kinder über den Umgang mit anderen lernen sollten. Nach unseren Untersuchungen übernehmen Kinder eher die Haltung ihrer Eltern und Lehrer als Eindrücke und Erlebnisse in der Umgebung. Deshalb ist das persönliche Gespräch so wichtig. Eltern können damit nicht früh genug anfangen.
Spiele und Ideen zum Abbau von Vorurteilen
5 bis 9 Jahre:
Spielen Sie mit Ihren Kindern "Umzug in eine andere Stadt". Stellen Sie sich vor, Sie kommen mit Sack und Pack in der Fremde an. Spielen Sie selbst eine misstrauische Nachbarin oder ein skeptisches Kind. Wie können Ihre Kinder Freunde gewinnen? Was brauchen Fremde, wenn sie an einem neuen Ort ankommen?
9 bis 12 Jahre:
Sammeln Sie aus Zeitschriften Fotos von vorurteilsbeladenen Situationen, auf denen Kinder zu sehen sind (Schwarze/Weiße, Arme/Reiche, Rechtsradikale, Muslime). Schneiden Sie auch Wörter oder ganze Sätze aus, und machen Sie gemeinsam eine Collage zum Thema.
12 bis 15 Jahre:
Schicken Sie Ihre Kinder mit einem Kassettenrecorder los, um Menschen auf der Straße zu befragen: "Was gibt es für Vorurteile?", und als zweite Frage: "Haben Sie Vorurteile?" Hören Sie sich die Kassette gemeinsam an.
15 bis 18 Jahre:
Sehen Sie sich gemeinsam den Kinofilm "Das Experiment" von Oliver Hirschbiegel an, in dem dramatisch gezeigt wird, wie Vorurteile und Gewalt entstehen. Oder gehen sie einmal alle zu einem Freitagsgebet in eine Moschee.
Wichtig bei allen Vorschlägen: Sprechen Sie mit Ihrem Kind anschließend über seinen Empfindungen und Erlebnisse.
Die Toleranzampel
Mit dem Rollenspiel Toleranzampel können Sie Ihren Kindern gut veranschaulichen , was Toleranz, Scheintoleranz und Intoleranz bedeuten und wie sie wirken. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten konzentriert und jemand betritt ohne anzuklopfen Ihr Zimmer. Je nach Reaktion steht die Ampel auf Rot, Gelb oder Grün.
Rot = Intoleranz
Sie fragen nicht, sondern brüllen: "Raus!" oder: "Verdammt nochmal, können Sie nicht anklopfen!" Intoleranz fördert Gewalt.
Gelb = Scheintoleranz
Sie dulden die Störung, weil der andere z.B. Ihr Chef ist oder weil Sie Ärger vermeiden wollen. Scheintoleranz macht auf Dauer gleichgültig - oder aggressiv.
Grün = Toleranz
Sie sprechen die Störung freundlich, aber bestimmt an. Oder Sie lassen den Störenfried gewähren – weil Sie wissen, dass er es nicht böse gemeint hat. Toleranz gewährt beiden das Recht auf freie Entfaltung.
Quelle: Centrum für Angewandte Politikforschung (CAP), München
Projekte gegen Rassismus
Etwa 100 Realschulen und Gymnasien in Deutschland dürfen sich nach aufwendigen Projekten zur Integration von Minderheiten nun "Schulen gegen Rassismus" nennen, 125 weitere tragen den Titel "UNESCO-Projekt-Schulen" zur Förderung von Toleranz und Mitmenschlichkeit.
Außerdem lassen sich immer mehr Schüler zu "Konfliktlotsen" ausbilden, die in Schulpausen friedlich Auseinandersetzungen zwischen Gleichaltrigen zu regeln versuchen.
Auch das Internet spiegelt das gewachsene Bewußtsein: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene melden sich dort zu Wort, decken Vorurteile auf, wünschen sich Veränderung: "Ich weiß, dass es dieses Problem in jedem Land gibt", schreibt Inka in einer Geschichte über Ausländerhass.
"Überall gibt es Menschen, die ihr Stückchen Erde nicht mit anderen teilen wollen. Die sich stolz patriotisch nennen. Ich bin nicht patriotisch, ich fühle mich als Mensch, nicht als Deutsche".
Und die zwölfjährige Elisa ruft empört zu einer Aktion auf: "Meine beste Freundin, die Inderin ist, wurde in der U-Bahn schon viermal zusammengeschlagen. Ich möchte dazu einen Song produzieren, gemeinsam mit anderen. Wer macht mit?"
All diese unterschiedlichen Initiativen findet Konfliktexpertin Haumersen gleichermaßen wichtig: "Denn um einmal entstandene Vorurteile zu bekämpfen, ist es nicht mit einer Reaktion getan. Das ist ein langer Lernprozess".
Zum Weiterlesen
- Alida Gundlach, "Pfeif der Angst ein Liedchen", Edition Riesenrad, Hamburg, 2001, 14,90 Euro – Bilder- und Geschichtenbuch ab 5 Jahre
- Susanne Ulrich u.a., "Achtung (+) Toleranz", Bertelsmann Stiftung, 2001, 25 Euro – Handbuch eines Projekts des Münchner Centrums für Angewandte Politikforschung (CAP)
- Bundeszentrale für Politische Bildung: "Argumente gegen den Hass, Arbeitshilfen für die politische Bildung", Bestellnr. 2.404, Band I: Bausteine für Lehrende, Band II: Textsammlung als "Lesebuch" (beide kostenlos erhältlich zzgl. Versandkostenanteil)
- Petra Haumersen/Frank Liebe, "Multikulti: Konflikte konstruktiv", Verlag an der Ruhr, 1999, 14,75 Euro;
- "Das sind wir", Lesebuch, Handbuch und Video zum Thema kulturelle Vielfalt, Toleranz und Identität. Für Schulprojekte für Kinder von 9 bis 12, 85 Euro, über Anne-Frank-Stiftung (www.annefrank.de)
Toleranzerziehung im Internet
- www.schule-fuer-toleranz.de – Programme, Bücher und Projekte
- www.friedenspaedagogik.de – Weiterclicken auf Themen, dann auf Stereotypen, Vorurteile, Feinbilder: Wissenschaftliche Hintergrundinfos
- www.step21.de – Jugendpage mit Anregungen, Aktionen und Projektpaket zum Bestellen
- www-gesicht-zeigen.de – Initiative unter Schirmherrschaft des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau gegen Vorurteile und rechte Gewalt mit Tipps, Terminen und Infos