Mittelohrentzündung – klar, Antibiotikum. Eine Bindehautentzündung – schnell antibiotische Augentropfen, Thema durch. So wurde jahrelang praktiziert. Und tatsächlich: Antibiotika sind ein Segen. Viele, früher oft tödliche Krankheiten wie eine Lungenentzündung lassen sich damit heilen. Aber weil die Medikamente so erfolgreich sind, wurden sie in der Vergangenheit viel zu oft und oft falsch angewendet – auch bei Kindern. Folge: Die Bakterien wurden resistent gegen die Wirkstoffe, und Kinder litten unnötig unter Nebenwirkungen.
Inzwischen weiß man, dass viele typische Kinderleiden auch ohne Antibiotika ausheilen. Trotzdem bekommen Kinder im Alter zwischen zwei und fünf Jahren unter allen Bevölkerungsgruppen mit Abstand die meisten systemischen Antibiotika – das sind die, die eingenommen werden – verschrieben.
Doch es gibt auch gute Nachrichten, nachdem engagierte Ärzte seit Jahren für einen sorgsamen Einsatz dieser Medikamente werben. Die Zahl der Verordnungen geht zurück: Zwischen 2010 und 2018 ist die Rate um 44 Prozent gefallen und sinkt seitdem kontinuierlich weiter. Vor allem Kinder- und Jugendärzte sind mittlerweile bei der Verschreibung zurückhaltend. Dennoch nehmen Kinder noch immer unnötig Antibiotika ein – was unter anderem daran liegt, wie Ärzte Krankheiten bewerten und Eltern nach diesen Medikamenten fragen. Anders ist kaum zu erklären, dass Kinder im Saarland 1,8-mal so häufig Antibiotika verordnet bekommen wie Gleichaltrige in Brandenburg.
Wann muss eine Erkrankung antibiotisch behandelt werden, und wann kann man erst mal abwarten? Was ist von einem Arzt zu halten, der heute vom Antibiotikum abrät und morgen doch eins verschreibt? Und gilt eigentlich noch die Regel: Jede Packung muss bis zum Ende eingenommen werden? Wir haben uns einige wichtige Fragen genauer angesehen.
Wie wirken Antibiotika eigentlich?
Sie bekämpfen krank machende, aber auch gesundheitsfördernde Bakterien, gegen Viren sind sie grundsätzlich machtlos. Manche Antibiotika töten Bakterien ab, andere hemmen ihre Vermehrung. Ziel ist, möglichst nur bestimmte, „böse“ Bakterien zu treffen. Doch in aller Regel erwischt es auch „gute“ Bakterien, die der Körper braucht.
Jeder Mensch trägt seinen individuellen Zoo an Mikroorganismen in sich. Dieses sogenannte Mikrobiom ist hochkomplex und seit einigen Jahren Gegenstand intensiver Forschung. Man weiß inzwischen, dass es eine Art Gleichgewicht im Körper gibt – die Keime halten sich gegenseitig in Schach. Kommt es durch die Einnahme eines Antibiotikums zu einer Störung dieses Gleichgewichts, können bislang harmlose Keime plötzlich Ärger machen und andere krank machende Bakterien überhandnehmen.
Typische Nebenwirkungen von Antibiotika sind Durchfall, Übelkeit und Hautausschläge. Wissenschaftler gehen davon aus, dass häufiger Antibiotikaeinsatz auch langfristig schadet. „Es gibt zum Beispiel Hinweise darauf, dass sich Antibiotika negativ auf die Gewichtsentwicklung auswirken“, sagt Roland Tillmann, Kinderarzt in Bielefeld und Mitglied in der Antibiotic-Stewardship-Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (siehe Kasten auf der linken Seite). Auch bestimmte chronische Erkrankungen werden mit häufigem Antibiotikaeinsatz in Verbindung gebracht.
Warum verschreiben Ärzte Antibiotika nicht nur dann, wenn sie wirklich nötig sind?
Weil sich das oft nicht genau vorhersagen lässt. Bei manchen Erkrankungen ist die Behandlung einfach: Eine normale Erkältung wird durch Viren ausgelöst, ein Antibiotikum bringt hier rein gar nichts. Bei vielen anderen typischen Kinderleiden können Viren oder Bakterien im Spiel sein. Eine Mandelentzündung ist meistens viral bedingt, selten aber auch bakteriell. Mittelohrentzündungen beginnen häufig als Virusinfekt, es können sich aber im Verlauf Bakterien festsetzen. Das macht die Behandlung schwieriger. „Wir haben leider häufig nicht die Möglichkeit, den Erreger zu bestimmen“, sagt Tillmann.
Kinderärzte orientieren sich deshalb an Erfahrungswerten. Die Empfehlung bei einer Mittelohrentzündung lautet: Kinder unter sechs Monaten bekommen im Regelfall ein Antibiotikum verschrieben, alle anderen Kinder nur bei einem schweren Krankheitsverlauf oder vorliegenden Grunderkrankungen.
Viele Studien zeigten, dass Antibiotika die Genesung häufig nicht entscheidend beschleunigen konnten. Ohne Antibiotika hatten nach zwei bis drei Tagen noch etwa 22 von 100 Kindern Schmerzen, mit Antibiotika etwa 15 von 100 Kindern. Sieben Kinder profitierten also von der Antibiotikagabe, allerdings mussten dafür 100 Kinder behandelt werden, die möglicherweise auch unter Nebenwirkungen litten. Leider lässt sich nicht vorhersagen, wann eine Schmerztherapie ausreicht und wann ein Antibiotikum notwendig ist. Viele Ärzte raten deshalb, erst einmal nur die Schmerzen zu lindern, abzuwarten, das Kind zu beobachten und nach 48 Stunden zu entscheiden, ob wirklich antibiotisch behandelt werden muss.
Was heißt beobachten? Woran erkenne ich, dass es meinem Kind schlechter geht?
„Wenn eine Mutter sagt: ‚Das Kind ist in seinem Verhalten auffällig und stark beeinträchtigt oder teilnahmslos‘, sollte sie immer zum Arzt gehen“, rät Prof. Johannes Liese, Leiter des Bereichs Kinderinfektiologie an der Universitätskinderklinik Würzburg und ebenfalls Mitglied in der Antibiotic-Stewardship-Arbeitsgruppe. Gleiches gilt, wenn das Fieber anhaltend hoch bleibt – das heißt über 39,5 Grad Celsius – oder Schmerzmittel nicht anschlagen. Muss sich das Kind wiederholt übergeben oder trinkt es nicht mehr, sind das klare Warnzeichen. Ab zum Arzt! (Siehe auch Kasten auf dieser Seite.)
Dann sitze ich vielleicht nachts ewig in der Notaufnahme. Ist es nicht besser, gleich ordentlich zu behandeln?
Nein, denn bei einem Virusinfekt hat das Kind von einem Antibiotikum nur eins: unerwünschte Nebenwirkungen. Von einer „ordentlichen“ Behandlung kann also keine Rede sein. Abwarten ist in solchen Fällen deutlich besser. Aber Eltern müssen wissen, an wen sie sich wenden können, wenn es ihrem Kind schlechter geht. In einer guten Praxis bekommen sie dafür Notfallnummern ausgehändigt.
Es ist übrigens kein Zeichen für eine Fehldiagnose, wenn ein Arzt erst vom Antibiotikum abrät und es dann doch verschreibt, sondern spricht für sein besonnenes Vorgehen. „Es gehört Vertrauen dazu: Eltern müssen der Einschätzung des Arztes vertrauen und der Arzt darauf, dass ihm das Kind wieder vorgestellt wird, falls es ihm schlechter geht“, sagt Tillmann.
Mein Kind ist noch klein. Wie schaffe ich es, dass es die Medizin schluckt?
Kleineren Kindern werden in der Regel Säfte verschrieben. Dann wird das Medikament über den beigelegten Löffel oder Becher dosiert und dem Kind direkt zum Trinken geben. Die Medizin unter das Essen zu mischen ist dagegen keine gute Idee. „Die Kinder merken das in aller Regel und lehnen dann häufig auch das Essen ab“, so Liese.
Klappt es nicht, und das Kind spuckt einen Teil der Medizin wieder aus, rät Prof. Liese, zu einem neuen Versuch: „Geben Sie die gleiche Menge noch einmal. Wenn das nur ein- oder zweimal passiert, kommt es nicht zu einer Überdosierung.“ Behält das Kind den Saft aber grundsätzlich nicht bei sich, sollte der Arzt ein anderes Präparat verschreiben – auch bei Antibiotika gibt es große geschmackliche Unterschiede.
Manche Antibiotika vertragen sich nicht mit Milch. Die bei Kindern häufig verschriebenen Penicilline werden hingegen kaum durch Milchprodukte beeinflusst. Der Joghurt davor oder danach ist also in aller Regel kein Problem.
Meinem Kind geht es schon viel besser. Muss es das Antibiotikum trotzdem weiternehmen?
Ja, wenn der Arzt es so verschrieben hat. Doch während früher galt, dass immer die ganze Packung genommen werden muss, „versucht man heute, so kurz wie möglich mit einem Antibiotikum zu behandeln“, sagt Liese. Bei einer schweren Mandelentzündung werde nicht mehr zehn, sondern nur noch sieben Tage lang Antibiotika gegeben. Bei einer Mittelohrentzündung reichen fünf bis sieben Tage aus, je nach Alter des Patienten. Das abzuschätzen ist Aufgabe des Arztes.
Was kann ich tun, damit mein Kind nicht unnötig Antibiotika bekommt?
Reden, nachfragen und überlegen, wer ein krankes Kind zu Hause betreuen kann. Dass vorschnell Antibiotika verordnet werden, liegt auch daran, dass berufstätige Eltern zunehmend unter Druck stehen, ihr Kind wieder schnell in die Kita oder Schule zu geben. Beispiel Bindehautentzündung: Sie heilt in vielen Fällen von allein ab, mit antibiotischen Augentropfen kann es schneller gehen, wenn Bakterien die Auslöser waren. „Die Augen sehen früher wieder besser aus“, sagt Tillmann. Wer darauf verzichtet und ein, zwei Tage länger warten kann, sollte einfach sagen: „Wenn möglich, möchten wir kein Antibiotikum geben.“
Warum sind Resistenzen ein so großes Problem?
Durch einen zu häufigen Einsatz können Bakterien unempfindlich gegen Antibiotika werden. Sie entwickeln dann neue Eigenschaften, die sie vor einem bestimmten Antibiotikum oder sogar mehreren Wirkstoffen schützen. Ist Letzteres der Fall, spricht man von multiresistenten Erregern. Diese Bakterien können sich besonders gut vermehren, da ihre Antibiotika-empfindlichen Kollegen gehemmt werden. Infiziert sich ein Mensch mit einem solchen Erreger, helfen Standard-Antibiotika nicht mehr weiter. Deshalb gibt es sogenannte Reserveantibiotika. Sie sollen nur bei Infektionen mit Bakterien eingesetzt werden, die gegen gängige Antibiotika resistent sind, oder bei sehr schweren Infektionen. Die Realität sieht anders aus: Im Jahr 2019 gehörten 53 Prozent der verordneten Antibiotika zur Gruppe der Reservemedikamente. Der Anteil ist zwar seit 2012 gesunken, aber immer noch zu hoch.
Was hat Bio-Fleisch mit Antibiotika zu tun?
Nach wie vor werden in der konventionellen Nutztierhaltung große Mengen Antibiotika eingesetzt. 73 Prozent aller weltweit verkauften Antibiotika landen bei Tieren – nicht bei Menschen. Darunter sind auch die besonders wichtigen Reserveantibiotika. Diese Praxis begünstige die Resistenzentwicklung und Ausbreitung von resistenten Bakterien, warnt das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) und mahnt, den Einsatz auf das unbedingt notwendige therapeutische Maß zu begrenzen. Bisher verhallen diese Warnungen. Der Antibiotikaverbrauch für ein Kilogramm Fleisch liegt hierzulande mehr als doppelt so hoch wie in Dänemark und fast dreimal so hoch wie in Großbritannien. Die Umweltorganisation Germanwatch ließ im vergangenen Jahr 165 Hähnchenfleischproben der drei größten EU-Geflügelkonzerne untersuchen: 51 Prozent waren mit antibiotikaresistenten Krankheitserregern belastet. Das BfR rät Verbrauchern nicht ohne Grund, Bretter und Messer, die mit Fleisch in Berührung kamen, nach dem Gebrauch sofort gründlich zu waschen und Fleisch ausreichend lange zu Erhitzen, um die Erreger abzutöten.
Dass es auch anders geht, zeigen die EU-Vorschriften zum ökologischen Landbau. Sie begrenzen den Antibiotikaeinsatz stark. Bioanbauverbände wie Naturland sind sogar noch strenger. Werden Tiere öfter als erlaubt mit Antibiotika behandelt, darf ihr Fleisch nicht mehr als Bio verkauft werden. Wer Biofleisch, -milch, -eier und Co. kauft, tut also einiges dafür, um den Antibiotika-Wahnsinn zu stoppen.
Die Antibiotic-Stewardship-Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie setzt sich für einen verantwortungsvollen Einsatz von Antibiotika ein. Bundesweit werden Fortbildungen für Ärzte in Praxen und Krankenhäusern angeboten, Experten tauschen sich in Netzwerken aus. Auf regionaler Ebene wird versucht, einheitliche Standards für Antibiotika-Verschreibungen zu entwickeln: www.antibiotic-stewardship.de.
In der Broschüre „Wann muss ich mir Sorgen machen?“ beschreiben Ärzte, woran Eltern verschiedene Atemwegsinfekte bei Kleinkindern erkennen und wie die übliche Behandlung aussieht. Besonders hilfreich: Am Ende der Kapitel steht eine Checkbox, die anhand der Farben Grün, Gelb, Rot erklärt, bei welchen Anzeichen das Kind zum Arzt muss und wann abgewartet werden kann. MHP-Verlag, 3 Euro.
Gesundheit
Achtung Trockensäfte: Bei der Zubereitung die Flasche erst mal nur bis zur angegebenen Höhe mit Wasser füllen und dann kräftig schütteln, damit sich wirklich das gesamte Pulver auflöst. Warten, bis sich der Schaum zurückgebildet hat, dann den Rest Wasser einfüllen. Trockensäfte müssen vor jeder Anwendung kräftig durchgeschüttelt werden.