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Ein Kinderarzt rät zur Gelassenheit Das Kind hasst Gemüse – ja und?

Kleindkind mag kein Gemüse
© Mcimage / Shutterstock
Viele Eltern fürchten, wenn das Kind kein Gemüse isst, könnte sich eine Essstörung anbahnen. Dr. Herbert Renz-Polster rat zur Gelassenheit und schreibt über heikle Esser, giftige Lebensmittel und gute Stimmung am Mittagstisch.

Hier gleich die Zusammenfassung: Essstörungen im Kleinkindalter sind nicht nur häufig. Sie sind die Regel. Denn schauen wir unseren Kleinen doch einfach zu. Kaum sind sie dem Babyalter entwachsen, bleibt das gesunde Gemüse, das sie bisher klaglos geschluckt haben, am Tellerrand liegen. Und die Spaghetti gelten als kontaminiert, bloß weil ein bisschen Soße drangekommen ist. Und das geht so durch die ganze Kindergartenzeit, mindestens. Wie die Diagnose heißt? Wählerisches Essen, ­Picky-Eater-Syndrom, sensorische Nahrungsverweigerung. Oder, einfacher: Gemüseanorexie. Das eine Kind ist stärker betroffen, für andere ist es nur eine kurze „Phase“. Immerhin isst jedes vierte vierjährige Kindgar kein Gemüse. 

Handelt es sich dabei um eine Krankheit? Nein, dieses Verhalten gehört zum Großwerden dazu. Es ist eine Beigabe der Evolution. Anders als die anderen Tierarten wächst Homo sapiens nämlich nicht in einem festgelegten Habitat auf, sondern irgendwo zwischen Arktis, Urwald oder Wolkenkratzern. 

Überall gibt es ein anderes Nahrungsangebot. Hätte Mutter Natur also dem Kind eine genaue Liste schreiben können, was es bitte schön in seinen Schnabel schieben soll? Nein. Menschenkinder müssen das lernen– spätestens ab dann, wenn sie auf eigenen Beinen die Welt erkunden. Schließlich wachsen dort draußen nahrhafte und giftige Dinge eng beieinander. Da tut ein Schutzprogramm Not. Teil 1: Unbekanntes sollst du meiden, keine Experimente! Teil 2: Mach einen weiten Bogen um alles Bittere. Denn Bitterstoffe stehen in der Natur für Giftiges – ein No-go für Kinder, deren Organe noch reifen müssen. Kein Wunder, dass die Geschmacksknospen auf der Zunge ab dem zweiten Lebensjahr auf Bitteres empfindlicher reagieren.

Das Gute an der Gemüseanorexie: Sie vergeht. Und zwar nicht durch Druck, Training oder Umerziehung des Kindes – sondern durch ein geniales Lernprogramm: Kinder beobachten, was die vertrauten Menschen essen. Sie schauen dabei aber vor allem, wie es denen dabei geht: Sind sie entspannt? Ist die Stimmung beim Essen gut? Denn wenn die Erwachsenen Stress machen, wenn es um Brokkoli geht, dann kann das ja nichts Gutes für ein Kind sein, oder? 

Tatsächlich zeigt die Wissenschaft dies: Beobachten Kinder etwa acht- bis 15-mal, wie ihre Vorbilder entspannt und gut gestimmt eine bestimmte Nahrung essen, dann greifen sie selber zu. Auf ihre Art und in ihrem Tempo. Dass Sorgen fehl am Platz sind, zeigt die Wissenschaft ebenfalls: Die Gemüseverächter unter den Kleinen sind genauso gesund wie die anderen.

Heißt das, es gibt gar keine echten Ess- oder Fütterstörungen? Doch, die gibt es, sogar schon im Säuglingsalter. Und die allermeisten von ihnen haben einen gemeinsamen Nenner: Es läuft etwas Tiefgreifendes schief, und zwar in den Beziehungen rund um das Essen. Bringt das Essen statt Entspannung und Freude hartnäckig Stress, Druck und schlechte Stimmung mit sich, dann flüchtet das Kind in die Verweigerung. Auf diese Art kann sogar die natürliche Gemüseabneigung zu einer Krankheit werden – wenn Eltern meinen, sie müssten mit ihrem Kind nun einen Kampf beginnen. Aber leider können wir Entwicklung nicht erkämpfen – das Schlafen lässt grüßen, das Pullern lässt grüßen, und das Essen setzt noch einen drauf: Entwicklung muss sich ergeben. Durch ein vertrautes, verständiges Miteinander.

ELTERN

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