Vor Kurzem bin ich Tante geworden. Das neue Baby in der Familie ist winzig klein und zuckersüß, und seine Eltern haben natürlich tausend Fragen. Vorzugsweise an mich, die erfahrene Vierfach-Mutter. Schließlich müsste ich sie doch kennen: die ganze, ungeschminkte Wahrheit übers Elternsein. Oder? Den Wunsch, sich vorzubereiten und genau Bescheid wissen zu wollen, kann ich sehr gut nachvollziehen. Den hatte ich beim ersten Kind nämlich auch.
Die Wahrheit übers Elternsein?
Damals durchforstete ich mit meinem Kugelbauch nächtelang das Internet auf der Suche nach der wahrhaftigsten Wahrheit. Was ich dabei fand, erschreckte mich. Denn wenn Eltern davon sprechen, jetzt aber wirklich mal die ungeschönte Wahrheit auszupacken, wird es meist ziemlich dramatisch. Die Wehen: ein einziger Horror. Das Stillen: schrecklich. Schlaf: quasi nicht mehr vorhanden. Die Beziehung kaputt, der alte Job weg, die Altersvorsorge im Eimer – all das sollte also die heimliche Wahrheit übers Elternsein sein. Puh!
Als meine Tochter dann da war, war natürlich nicht alles rosarot. Aber trotzdem sehr vieles ziemlich toll. Zu dieser Zeit besuchte ich eine Krabbelgruppe, die immer mit einer kurzen Runde begann, in der wir Mütter erzählen sollten, wie es uns gerade ging. Es war ein schöner, sicherer Raum, um Erfahrungen auszutauschen – vor allem die schwierigen und schmerzlichen.
"Ich habe immer noch an meinem Kaiserschnitt zu knabbern." – "Ich bin so müde." – "Mein Baby weint so viel." Auch ich habe in diesem Kreis manchen Frustmoment geteilt. Doch an einem Morgen war ich einfach richtig happy: Meine Stillprobleme hatte ich endlich in den Griff bekommen, mein Baby hatte die ganze Nacht durchgeschlafen, und ich fühlte mich ausgeruht und froh. Und genau das sagte ich auch.
"Wie sollen sich denn die anderen fühlen?"
Erschrocken legte die Gruppenleiterin ihren Zeigefinger auf die Lippen: "Pssst!", wisperte sie mahnend. "Wie sollen sich denn die anderen fühlen? Geschichten von durchschlafenden Babys wollen wir hier nicht hören. Die genießt man still!" Ich schwieg betreten. Offensichtlich hatte in einen Krabbelgruppen-Kodex verletzt, der mir bislang unbekannt gewesen war: Erzähle nie davon, was bei dir gut läuft. Es könnte andere ja traurig machen. Oje.
Tatsächlich hat beim Sprechen über Elternschaft in den vergangenen Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Wir können heute viel offener und ehrlicher auch über die schwierigen und schmerzlichen Aspekte des Familienlebens sprechen als unsere eigenen Eltern früher. Fehlgeburten wurden damals verschämt verschwiegen, schlimme Geburtserfahrungen runtergeschluckt: "Hauptsache, das Kind ist gesund."
Auch über Erziehungsprobleme sprach man entweder gar nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand – wer etwas auf sich hielt, hatte seine Kinder im Griff. Die anderen schämten sich still. Es ist ein riesiger Fortschritt, dass mutige Mütter und Väter in den vergangenen Jahren diese Tabus aufgebrochen haben, indem sie offen und mutig über ihre Erfahrungen gesprochen haben – in einer Art Graswurzelbewegung, die in privaten Elternblogs und in den sozialen Medien ihren Anfang nahm und schließlich ihren Weg bis in die Leitmedien fand.
Das neue Tabu: Mom Shaming
Leider ist im Zuge dieser Entwicklung jedoch ein neues Tabu entstanden: Positive Erzählungen übers Elternsein stehen heute nämlich schnell unter Generalverdacht, "mom shaming" zu betreiben, den stressigen Alltag mit Kindern schönzufärben und andere Familien mit unrealistischen Standards unter Druck zu setzen. Und das ist unglaublich schade. Denn die eigenen Erfahrungen teilen zu können – die schönen genauso wie die schwierigen – ist für alle Menschen wichtig, für junge Eltern jedoch ganz besonders. Denn indem wir unsere eigene Geschichte erzählen, und zwar genau so, wie wir sie erleben, machen wir sie uns zu eigen und stärken uns gegen all die von außen an uns herangetragenen Rollenbilder und Erwartungen, die uns das Leben oft so schwer machen.
Wenn ich nach der ehrlichen, ungeschminkten Wahrheit übers Elternsein gefragt werde, erzähle ich deshalb keine Gruselgeschichten von Schreistunden und Horrornächten. Lieber spreche ich von dem unglaublich dicken Strauß ganz unterschiedlicher Gefühle, die das Kinderkriegen und Kinderhaben bei mir mit sich gebracht hat: vom größten Glück bis zur tiefsten Verzweiflung.
Die konkreten Erfahrungen, die wir als Eltern machen, sind aber so einzigartig wie unsere Kinder selbst: Manche Eltern sind im Babyjahr dauermüde, andere schlafen ziemlich gut. Manche Babys schreien viel, andere fast gar nicht. Manche liegen gern auf der Krabbeldecke, andere sind nur im Tragetuch zufrieden. Für manche ist Stillen das größte Glück, für andere ein einziger Albtraum. Und all diese Erfahrungen sind gleichermaßen normal, echt und wahr. Und verdienen es, erzählt zu werden. Ganz ohne schlechtes Gewissen. Denn wenn es tatsächlich eine wahrhaftige Wahrheit übers Elternsein gibt, dann ist es die: dass jede Familie ihre eigene Wahrheit finden darf.
Nora Imlau schreibt
als freie Autorin für ELTERN, sie hat einen erfolgreichen Blog (nora-imlau.de) und viel Erfolg mit Bestsellern wie "So viel Freude, so viel Wut", Kösel, 20 Euro, oder "Mein Familienkompass", Ullstein, 22,99 Euro.