"Ich habe Migräne". Ein Satz, dem früher das Image einer lahmen Ausrede nachhing, ein Vergleich, über den Betroffene nur müde lächeln können. Wer an Migräne leidet, kann während einer Attacke tatsächlich vieles nicht: nicht arbeiten. Nicht auf den Geburtstag. Und schon gar nicht auf das laute Konzert. All diese Dinge lassen sich glücklicherweise meist absagen. Was sich nicht mal eben verschieben lässt: eine Geburt. Ein hungriges Baby. Ein schreiendes Kind. Ein Leben mit Migräne ist eine Sache, geht es um die Familienplanung stellt sich für viele Betroffene jedoch eine neue Frage: wie lässt sich ein Leben mit Migräne und Baby vereinbaren?
Die kurze, aufmunternde Antwort zu Beginn: es geht. Trotzdem werden durch die Geburt eines neuen Familienmitglieds – und schon durch die Schwangerschaft davor – der Alltag und nebenbei der Hormonhaushalt einmal gut durchgeschüttelt. Bis heute weiß man nicht alles über Migräne, was man jedoch weiß: plötzliche Veränderungen, Schlafmangel und Stress gefallen ihr nicht, stehen als Mutter aber auf der Tagesordnung. Wir haben mit Neurologin und Kopfschmerzexpertin Prof. Holle-Lee über die Fragen gesprochen, die sich viele werdende Mütter mit Migräne stellen: Wie schaffe ich das? Und was kann mir helfen, den Alltag als Mutter und Migränikerin zu erleichtern?
Experteninterview: Wie lässt sich Migräne mit dem Mutterdasein vereinbaren?
ELTERN: Sie sind Kopfschmerzexpertin und Betroffene – wie sind Ihre Erfahrungen mit Kopfschmerz und Migräne?
Prof. Holle-Lee: Als Fachärztin für Neurologie mit dem Schwerpunkt Kopfschmerz und Schwindel habe ich viel Erfahrung auf dem Gebiet und habe unzählige Patienten mit Beschwerden aus diesem Bereich kennengelernt und behandelt. Dabei hilft es tatsächlich, wenn man weiß, wie sich eine Migräne anfühlen kann. Man erhält so einen schnelleren, oftmals auch besseren Zugang zu den Betroffenen. Meine erste Erfahrung mit Migräne machte ich mit Anfang 20 im Medizinstudium. Glücklicherweise wurde sie nie chronisch – es gab Phasen mit mehr und solche mit weniger Attacken.
Was hat sich in den letzten Jahren an Behandlungsmöglichkeiten getan, was viele langjährige Betroffene vielleicht noch gar nicht wissen?
Es hat sich ganz viel getan im Bereich der Migränetherapie – sowohl für die Akutbehandlung als auch bei den prophylaktischen, also vorbeugenden, Medikamenten. Da sind vor allem die CGRP-Antikörper zu nennen, die erste spezifisch für Migräne entwickelte Antikörpertherapie. Seit kurzem ist der Zugang zumindest zu einem dieser Antikörper erleichtert, so dass nicht mehr so viele Vortherapien durchlaufen werden müssen, bevor er eingesetzt werden kann und auch von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt wird.
Seit März dieses Jahres kann akut auch mit einem Ditan behandelt werden – das wirkt ähnlich wie die spezifischen Schmerzmittel Triptane, allerdings nicht gefäßverengend. Es ist also auch für Patienten geeignet, die aufgrund von Vorerkrankungen oder Unverträglichkeiten bislang keine Triptane einsetzen konnten oder bei denen die Triptane nicht gewirkt haben. Auch auf dem Gebiet der Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGas) hat sich viel verändert – am besten, Sie fragen Ihren Arzt oder Ihre Ärztin, was für Sie besonders geeignet sein kann.
Was kann aus Ihrer persönlichen und professionellen Erfahrung jede Frau selbst tun, um die Migräne zu lindern und mit ihr zu leben, statt sie zu bekämpfen?
Werden Sie zur Expertin Ihrer eigenen Erkrankung! Beobachten Sie sich und Ihren Körper. Lernen Sie auslösende bzw. lindernde Mechanismen kennen! Sie werden am besten feststellen können, was Ihnen hilft und was nicht. Testen Sie gemeinsam mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin, welche Medikamente Sie wann am besten nehmen und was nicht-medikamentös bei Ihnen wirkt. Wichtig ist, sich nicht als Opfer der Migräne zu sehen und sich der Erkrankung einfach zu ergeben.
Frauen leiden besonders häufig an Migräne, sehen Sie eine hormonelle Verbindung?
Ja, das ist auch umfangreich wissenschaftlich dokumentiert. Bis zur Pubertät ist die Geschlechterverteilung bei der Migräne 50:50 zwischen Jungs und Mädchen, danach sind Frauen viel häufiger betroffen als Männer. Viele Patientinnen berichten, dass sich die Migräne beim Eisprung oder während der Periode einstellt und/oder verschlimmert. Vielfach wurde berichtet, dass sie während Schwangerschaften und nach der Menopause deutlich seltener und weniger schmerzhaft wird.
Sie sind selbst Mutter: Wie schafft man es, die Schwangerschaft ohne Medikamenteneinnahme als Migränikerin zu überstehen?
Viele Migränikerinnen haben in der Schwangerschaft weniger mit der Erkrankung zu kämpfen, oftmals sind sie vollkommen beschwerdefrei. Kommt es aber doch zu Attacken, dann können sie auch in dieser besonderen Zeit gut medikamentös behandelt werden: Sowohl Triptane als auch Paracetamol sind nach Absprache mit dem Arzt bzw. der Ärztin erlaubt und hilfreich.
Zu den Tipps bei Migräne gehören routinierte Schlaf- und Essgewohnheiten. Als Mutter klingen diese Empfehlungen oftmals wie ein Witz: Wie bekommt man das Mutterdasein mit der Migräne unter einen Hut?
Routine – zumindest versuchte – tut sowohl der Mutter als auch dem Kind gut. Nach der Geburt in der Stillzeit hat man oft weniger mit der Migräne zu kämpfen – Stillen wirkt schützend. Auch hier ist es wichtig, die eigene Migräne gut zu kennen, dann kann man gegebenenfalls auch frühzeitig einer Attacke gegensteuern. Mit Medikamenten oder eben auch mit Auszeiten. Teilen Sie die Verantwortung als Mama mit dem Partner, Freunden, Familie. Lassen Sie sich bei Entspannungszeiten unterstützen und schaffen Erholungsphasen. Später ist es dann wichtig, dem Kind die Erkrankung zu erklären und ihm die Angst davor zu nehmen, dass es Mama von Zeit zu Zeit nicht gut geht und sie dann etwas Ruhe braucht.
Haben Sie einen aufmunternden Rat für Schwangere, die Angst haben, dem Druck als Mutter mit Migräne nicht standhalten zu können?
Erfahrungsgemäß machen sich Migränikerinnen vor und in der Schwangerschaft eher zu viele als zu wenige Gedanken darum, wie sie ihr Leben dann organisieren und strukturieren werden. Machen Sie sich keinen Druck, entspannen Sie sich und FREUEN Sie sich auf Ihr Baby! Oftmals entwickelt sich die Erkrankung nach einer Schwangerschaft ja auch positiv. Bauen Sie ein kleines Sportprogramm und auch Entspannungsübungen in Ihr gemeinsames Leben ein, das geht besser als Sie jetzt vielleicht glauben. Falls das nicht ausreicht: Lassen Sie sich frühzeitig beraten, was es für Behandlungsoptionen gibt. Die Migräne ist fast immer exzellent zu therapieren.