ELTERN: Epigenetiker behaupten, sogar Gefühle könnten weitervererbt werden. Wie ist das möglich?
Isabelle Mansuy: Laut dem Konzept der Genetik ist jeder Mensch nur das Ergebnis seines unveränderlichen Genmaterials, dessen Information sich von Generation zu Generation vererbt. Doch dank zahlreicher Studien wissen wir inzwischen: Umwelteinflüsse, also die Luft, die wir atmen, unser Essen, unsere Erfahrungen und Gefühle bestimmen stark mit, wer wir sind. Diese nicht genetischen Faktoren haben schon vor der Geburt und dann ein Leben lang großen Einfluss darauf, wie sich unsere Gene ausdrücken, wie wir uns entwickeln und verhalten. Sie wirken sich auf unsere Krankheitsanfälligkeit und Lebensdauer aus. All diese Faktoren sind – im Gegensatz zum Genom – dynamisch.
Die Gene selbst verändern sich also nicht, aber sie können "an- und ausgeschaltet" werden?
Genau das erklärt die Epigenetik. Die griechische Vorsilbe "epi" bedeutet "hinzu" oder "darüber". Die Epigenetik definiert sich also durch das, was über den reinen genetischen Code hinaus auf den Menschen einwirkt. Das heißt dann auch: Wir können unsere Gene durch Lebensweise, Ernährung oder Bewegung steuern und womöglich verbessern.

Erst mal ist das eine hoffnungsvolle Nachricht.
Auf jeden Fall! Dank der Epigenetik werden wir in Zukunft wahrscheinlich Antworten auf Rätsel finden, die die klassische Genetik aus dem Konzept bringen. Zum Beispiel: Warum wird ein eineiiger Zwilling gewalttätig oder bekommt Diabetes, der andere aber nicht? Mittlerweile können wir diese Mechanismen teils schon biochemisch besser verstehen. Aber in Zukunft eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten: etwa bei Eltern bestimmte Risikofaktoren zu ermitteln, auf die hin man ihre Kinder dann untersuchen kann.
Durch Studien an Mäusen konnten Sie zudem belegen, dass Traumata, also seelische Verletzungen, Stoffe im Körper der Tierex verändern und die Aktivität der Gene beeinflussen. Sie vermuten, dass Stress so an nachfolgende Generationen weitergegeben wird
Ja, nach einem Trauma fanden wir im Blut, im Sperma, im Gehirn und in der Leber der Mäuse Veränderungen in der Ribonukleinsäure (RNA, RNA wandelt die genetische Information in der Zelle in Proteine um, die dann im Körper zirkulieren), zum Beispiel Mini-Moleküle. Über Spermazellen etwa können diese molekularen Nachrichten an Kinder und Enkel weitergegeben werden. Sie sind dann ebenfalls diesen traumatischen Folgen ausgesetzt, obwohl sie sie selbst nie erlebt haben. Manche Symptome, wie zum Beispiel Depressionen, konnten wir bei Mäusen bis in die dritte Generation nachweisen. Ein auffälliges Risikoverhalten stellten wir noch in der fünften Generation fest.
Wie sehen solche Traumata aus?
Ich spreche hier etwa von einem schweren Schock, ausgelöst etwa durch extreme Vernachlässigung in der Kindheit, durch den Verlust der Eltern, durch sexuellen Missbrauch, Unfall, Krankheit oder Krieg. Die Folgen, die spätere Generationen zu spüren bekommen, hängen – neben der genetischen Veranlagung und der Heftigkeit des Schocks – besonders von der Anzahl der Traumata unserer Vorfahren ab. Je mehr sie gelitten haben, desto stärkere Auswirkungen hat das möglicherweise auf die Nachkommen.
Kriege, Hunger oder Schicksalsschläge gab es schon immer. Von daher müssten wir eigentlich alle traumatisiert sein.
Klar. So gut wie jeder von uns hat Vorfahren, die Krieg, Seuchen oder Missbrauch durchgemacht haben. Aber, wie gesagt: Unser Körper ist fähig, epigenetische Veränderungen zu korrigieren. Und es gibt viele Menschen, die resilient sind. Das heißt, sie können traumatische Erfahrungen überwinden und leiden nicht darunter. Das hängt vom Lebensstil, von den Umständen, den persönlichen Erfahrungen ab. Was sich genetisch und epigenetisch gesehen positiv oder negativ auswirkt, lässt sich leider nicht pauschal beantworten. Da spielt vieles hinein. Die Mutter gibt zum Beispiel ein sehr gutes Epigenom weiter, weil sie und ihre Vorfahren nie Traumata ausgesetzt waren. Der Vater wiederum aber war es. Da können viele Mischungen zustande kommen.
Können Traumata auch etwas Positives bewirken?
Durchaus. In einer unserer Studien haben wir Mäusekinder einem Trauma ausgesetzt. Konnten sie es gut überwinden, waren sie danach resilienter gegenüber erneutem Stress – und flexibler in ihrem Verhalten. Überraschenderweise fanden wir diese Fähigkeit auch bei den nächsten Mäuse-Generationen, ohne dass die selbst ein Trauma erlitten hätten. Diese Beobachtung ist ermutigend, weil sie zeigt, dass auch Widerstandsfähigkeit und Zähigkeit vererbbar sind. Dazu gibt es Studien beim Menschen. Es hängt aber immer von den Umständen ab. Hat jemand gelernt, bei Gefahr schneller zu reagieren, ist das positiv. Andererseits können Traumatisierte im Alltag aber auch aus dem Nichts depressiv reagieren. Man wird durch ein Trauma durchaus verletzt, bekommt aber eben auch Lösungsansätze an die Hand.
Sie betonen, wie wichtig gute mütterliche Bindung und Fürsorge gerade bei kleinen Kindern sind. Und beziehen sich dabei auf eine Studie des kanadischen Epigenetikers Michael Meaney, der entdeckte: Je fürsorglicher sich eine Mutter um den Nachwuchs kümmerte, desto selbstsicherer und stressresistenter waren ihre Kinder bis ins Erwachsenenalter. Aber kann man Nager überhaupt mit Menschen vergleichen?
Es gibt Ähnlichkeiten. Aber im Großen und Ganzen ist das Aufzuchtverhalten von Nagetieren anders. Der Vater spielt bei Ratten und Mäusen überhaupt keine Rolle. Außerdem kriegen sie bis zu zwölf Babys gleichzeitig. Die Mütter kümmern sich rund um die Uhr allein um ihren Nachwuchs. Menschenkinder dagegen haben Väter, Großeltern, Nannys, Krippen, Kindergärten und Schulen.
Müssen gestresste Mütter, die naturgemäß öfter mal schlecht drauf und erledigt sind, sich jetzt Sorgen machen, dass selbst noch die Enkel unter ihrem Stress leiden?
Nein, denn genau solche Schuldgefühle will ich mit meiner Forschung verhindern. Ich möchte bei Müttern gerade nicht noch mehr Druck aufbauen. Ich finde es sogar entlastend zu wissen, dass das Wohl der Kinder bei Weitem nicht nur in der Verantwortung der Mamas liegt. Stattdessen ist es eine Kombi aus vielen Faktoren, und unsere Arbeit zeigt, dass auch der Vater eine große Rolle spielt. Junge Mütter kümmern sich deshalb am besten natürlich und liebevoll um ihr Kind – ohne sich verrückt zu machen.
Kann man seinem Kind eigentlich auch schon in der Schwangerschaft etwas Gutes tun?
Werdende Mamas sollten unbedingt Folsäure, also Vitamin B9, einnehmen. Sie trägt dazu bei, Gene beim Ungeborenen positiv zu verändern, und ist für die gesunde Entwicklung des Babys bereits ab Beginn der Schwangerschaft wesentlich. Die Folgen eines Folsäuremangels sind im Mäuseversuch sogar noch bei den Nachkommen der Tiere nachweisbar.
Profitieren auch Kinder und Erwachsene mit psychischen Problemen von der Epigenetik?
Auf jeden Fall. Wir wissen heute besser, wie Depressionen entstehen. Und wir wissen, dass sich die Aktivität unserer Gene verändern kann: Wenn Mäuseeltern einem Trauma ausgesetzt waren, kann das bei ihrem Nachwuchs korrigiert werden, indem die Jungtiere in einer besonders anregenden, schönen Umgebung mit Freunden und interessantem Spielzeug spielen dürfen. So kriegen sie ein besseres Erinnerungsvermögen und sind gesünder.
Wie ist es bei uns Menschen?
Psychotherapie hilft unserer Gesundheit, wahrscheinlich über die Epigenetik. Einige Studien haben zudem die Wirksamkeit der Emotional Freedom Techniques (EFT) bestätigt, einer Klopfakupressur-Therapie. Eine Untersuchung bei 764 Teilnehmern eines Programms zur Stressbehandlung nach Kampfeinsätzen in der texanischen Militärbasis Fort Hood ergab, dass EFT die Symptome von posttraumatischen Belastungsstörungen, Angstzuständen und Depressionen bedeutend reduzierte. Nach einer EFT-Behandlung konnte man zudem Veränderungen bei der Regulierung bestimmter Gene messen.
Sie sagen außerdem: "Wir werden durch die Ernährung unserer Eltern und Großeltern programmiert." Wie muss man das verstehen?
Die Art und Weise, wie unsere Vorfahren gegessen haben, hat sicher einen Einfluss auf unsere Gesundheit. Und es ist ja bekannt, dass eine kalorienreduzierte Ernährung für uns besser ist. Genügsamkeit fördert die Langlebigkeit, wahrscheinlich selbst noch bei unseren Enkeln. Besonders die traditionelle Kreta-Diät, die typische Mittelmeerkost, hat einen äußerst positiven Einfluss auf den Körper. Wegen der veränderten Ernährungsweise mit zu vielen industriell verarbeiteten Lebensmitteln lässt sich dieser positive Effekt aber selbst auf Kreta seit etwa 20 Jahren nicht mehr beobachten. Aus meiner Sicht sind deshalb natürliche, möglichst wenig verarbeitete Lebensmittel, am besten bio, das Beste für unsere Gesundheit.
Das ist jetzt nichts wirklich Neues.
Neu ist, dass wir heute wissen, warum gerade Brokkoli oder grüner Tee dem Epigenom helfen können: In Kreuzblütlern wie Brokkoli sind Senföl (Sulforaphan) und das Antioxidans Indol-3-Karbinol enthalten. Diese Nährstoffe können Gene positiv beeinflussen, die bei Brust- und Dickdarmkrebs eine Rolle spielen. Grüner Tee besitzt sehr viel vom Antioxidans Epigallocatechingallat, das die Bildung von krebsunterdrückenden Genen wieder in Gang setzt und antiöstrogen sowie entzündungshemmend wirkt.
Pestiziden und Schadstoffen haben Sie dagegen den Kampf angesagt.
Absolut, weil Umweltschadstoffe zu den wichtigsten Störfaktoren des Epigenoms gehören. Und weil Pestizide unser Hormonsystem und den Stoffwechsel über Generationen hinweg schädigen können – bis hin zur Unfruchtbarkeit bei Männern.
OM!
In einem Versuch baten Biologen aus den USA und Europa 19 geübte Meditierende, sich für acht Stunden am Stück in einen intensiven Zustand der Achtsamkeit zu versetzen. Eine zweite Gruppe sollte sich nur mit ruhigen, nicht-meditativen Tätigkeiten beschäftigen. Bei der Meditationsgruppe zeigten sich danach vor allem Veränderungen bei den Genen, die Entzündungen bekämpften. Auch die körperlichen Abwehrkräfte waren deutlich gestärkt.
Neugierig geworden?

Wer mehr über Epigenetik wissen möchte und sich auch für Biochemie interessiert: Isabelle Mansuys aktuelles Buch lautet "Wir können unsere Gene steuern! Die Chancen der Epigenetik für ein gesundes und glückliches Leben" (Berlin Verlag, 22 Euro).