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Meine liebe Tochter,
natürlich habe ich geahnt, dass der Tag irgendwann kommen wird. Vorbereitet war ich trotzdem nicht. Vielleicht, weil er so verdammt früh kam. Viel zu früh – du bist doch gerade erst zur Vorschule gekommen.
Ich sehe dich jetzt noch vor dem Spiegel stehen, mit deinen sechs Jahren, 121 cm groß und 24 Kilo leicht. So schlank, so zart stehst du da und blickst dich selbst mit kritisch gerunzelten Augenbrauen an. Und dann sagst du zum ersten Mal diese Worte: "Mama, in dem Pullover sehe ich so dick aus."
Und ich? Stehe sprachlos daneben. Habe keinen Plan, hatte noch nicht die Gelegenheit, mir eine Reaktion für diesen Moment zurechtzulegen. Mir wird heiß, meine Gedanken überschlagen sich: Jetzt bloß nichts falsch machen. Genau die Worte bedenken, die gleich meinen Mund verlassen. Vielleicht sind sie wichtig, bleiben für immer, vielleicht brennen sie sich ein in dieses noch so unbedarfte kleine Hirn. Ich zucke mit den Schultern und tue so, als wäre nichts passiert: "Ist dick sein denn nicht so gut?", frage ich beiläufig. Aber du antwortest nicht, bist mit deinem Spiegelbild beschäftigt, zerrst den Pullover über den Kopf und tauchst ab im Kleiderschrank, auf der Suche nach etwas anderem, etwas das ... dich weniger dick aussehen lässt?
Wie beurteilen wir Körper?
Jesper Juul hat mal gesagt, Erziehung sei mit zwölf Jahren vorbei. Danach ernten wir, was wir in den Jahren zuvor gesät haben. Heißt das nicht, dass ich möglichst früh, genau genommen jetzt vorarbeiten muss? Wirst du ansonsten bald anfangen, jeden Morgen vor dem Spiegel zu stehen und dich nicht gut genug zu finden? Wirst du bestimmte Sachen nicht mehr essen, weil du Angst hast, dick zu werden? Wirst du nach Hause kommen und mich anlügen und sagen, du hättest schon bei einer Freundin gegessen? Oder das Essen ganz verweigern? Und dann heimlich vor besagtem Spiegel deinen flachen Bauch betrachten – und ihn zu fett finden?
Es gibt dieses Sprichwort über Wasser: Wasser findet seinen Weg. Egal, wie viel man abklebt oder abdichtet oder versucht, es zu stoppen: Irgendwann sickert es durch. Genauso kommt es mir manchmal vor mit der Beurteilung von Körpern. Ich tue alles, damit du nicht übernimmst, wie die Gesellschaft heimlich noch immer über alles Andersartige denkt. Niemals würde ich mich in deiner Anwesenheit vor unseren Spiegel stellen und meine Hüften kritisieren. Niemals würde ich mich selbst als dick bezeichnen. Ich bin auf der Hut. Aber du gehst aufmerksam durch diese Welt. Und deine Welt, das bin schon lange nicht mehr nur ich. Gerade lesen wir ein Buch von einer Mädchenbande. Ich fragte dich, wer von den Mädchen dein Lieblingscharakter ist. Du zeigtest auf eine der Illustrationen. "Die." Und ein bisschen verschüchtert fügtest du hinzu: "Obwohl sie eigentlich zu dick ist." Auf die Frage, warum das schlimm sein sollte, zucktest du mit den Schultern. Du weißt selbst nicht, wie dieser Gedanke, diese Art, Menschen zu beurteilen, in dich hineingesickert ist. Aber diese Gedanken sind da. Und ich kann dich nicht davor beschützen.
Werbung im Wandel
Einen Lichtblick gibt es: In den letzten Jahren haben sich die Werbebotschaften verändert. Die Frauen auf den Plakaten sind nicht mehr alle durchweg schlank und stramm und jung und weiß. Wenn ich kein Kind hätte, würde ich das wohl als eine von vielen Werbemaschen abtun. Aber durch dich hat mein Blick sich geändert. Ich bin dankbar für jedes Model mit Speckröllchen und Cellulite, das uns von den Plakaten entgegenlächelt, wenn ich dich zur Vorschule bringe. Sie alle werden sich in dein Köpfchen einbrennen und deinen Blick auf Körper bestimmen. Das ist gut.
Als ich selbst ein junges Mädchen war, schaute mir oft die superdünne Kate Moss entgegen, in den Zeitschriften, im Fernsehen und auf Werbeplakaten. Alle wollten sein wie sie. Lässig mit offener Hose über mageren Hüftknochen und Zigarette zwischen den Lippen. Heroin Chic nannte man das damals – und Kate Moss war wirklich das genaue Gegenteil von mir. Ich war immer schon kurvig. Nicht dick, aber auch auf keinen Fall dünn. Und obwohl ich mir manchmal Sprüche habe anhören müssen über meine Hüften, meinen Hintern – wirklich unglücklich war ich nie mit meinem Körper. Ich war keines dieser Mädchen, die sich mit Diäten gequält haben. Ich habe weder gehungert noch gekotzt. Irgendwas hat mich vor einer Essstörung bewahrt. Was für ein Glück.
Im Einklang mit seinem Körper zu sein, sich mit Selbstbewusstsein durch diese Welt zu bewegen, ist so ein großes Geschenk. Und das würde ich gern von Herzen an dich weitergeben.
Interview: Der Körper ist ein Wunderwerk
Melodie Michelberger ist PR-Expertin, Autorin und Aktivistin aus Hamburg und hat letztes Jahr das Buch "Body Politics" geschrieben.
Eltern Family: Frau Michelberger, was würden Sie einem sechsjährigen Mädchen antworten, das vor dem Spiegel steht und sich zu dick findet?
Melodie Michelberger: Ich hätte in dem Moment vermutlich versucht, den Fokus weg vom Aussehen zu nehmen. Und die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie toll ihr Körper ist, weil er so viele Sachen kann. Das funktioniert mit Kindern oft sehr gut, wenn man das ein bisschen spielerisch macht. Zum Beispiel könnte man gemeinsam aufzählen, was sie mit ihrem Körper für tolle Dinge machen kann: tanzen, hüpfen, eislaufen. Dann bekommt die Situation ganz schnell etwas Positives, Leichteres.
Was können Eltern Ihrer Meinung nach noch tun, um Kinder und ihr Körpergefühl möglichst früh positiv zu beeinflussen?
Kinder kriegen mit, wenn sich Eltern oder generell Erwachsene über Dicke oder das Dicksein unterhalten – und wie sie das tun. In meiner Kindheit etwa wurde über das Aussehen von anderen Menschen immer sehr abwertend gesprochen. Auch mit dem eigenen Körper war niemand zufrieden. Es ging viel darum, wer schon wieder zugenommen hatte und wie schlimm das aussah. Mir wurde gesagt: "Iss nicht so viel, streck den Bauch nicht raus." Das würde man heute nicht mehr so sagen, aber Kinder bekommen immer noch mit, dass die Mutter beim Abendessen sagt: "Ich ess das heute nicht, ich bin so dick geworden."
Deswegen halte ich es für eine sehr gute Idee, sich öfter mal in Gegenwart des Kindes vor den Spiegel zu stellen und zu sagen: "Ich finde, ich sehe heute echt gut aus." Auf diese Art kann man ein positives Vorbild werden.
Auch in der Werbung gibt es mittlerweile diversere Vorbilder, oder?
Bei einzelnen Marken, ja. Dove zum Beispiel ist sehr engagiert und zeigte letztens eine dickere Frau mit dunkler Hautfarbe. Auch Zalando hatte eine sehr diverse Kampagne. Und Adidas hat die Kollektion erweitert bis hin zu Größe 56, was sie auch in der Werbung zeigen. Als ich das zum ersten Mal gesehen habe, eine dicke Frau im Sport-BH, mit echten Speckringen am Rücken – da habe ich geweint. Im Großen und Ganzen aber hat sich noch viel zu wenig geändert. Die meisten erfolgreichen Influencerinnen in Deutschland sind zum Beispiel blond, dünn, hellhäutig. Und mit ihnen arbeiten die großen Marken am liebsten zusammen. Es fehlt immer noch an Alternativen und Vorbildern.
Diversität für Erwachsene:
Melodie Michelbergers Buch "Body Politics" (Rowohlt Polaris Verlag, 18 Euro) hinterfragt die Schönheitsideale, die uns alle seit unserer Kindheit prägen. Sie fängt bei sich selbst an, lässt aber auch andere dicke Frauen darüber sprechen, wie es ist, in unserer Welt nicht dem Ideal zu entsprechen. Dass diesem Ideal eigentlich keiner entsprechen kann und sich endlich etwas verändern muss, davon handelt dieses wunderbar ehrliche Buch.
Interview: Schlanksein ist keine Leistung
Dr. Antonie Post ist Ernährungswissenschaftlerin, Therapeutin und Autorin*. Außerdem hat sie einen eigenen Podcast: "Iss doch, was du willst"
Eltern Family: Frau Dr. Post, was meinen Sie, ist die oben genannte Aussage einer Sechsjährigen vor dem Spiegel ein Alarmsignal?
Dr. Antonie Post: Ich finde schon, dass das ein Alarmsignal ist. Gleichzeitig ist es leider nichts Ungewöhnliches. Ich formuliere es gern so: Im Alter von fünf bis acht Jahren verstehen Mädchen, dass sie dünn sein wollen müssen. Das Kind hat offensichtlich schon verinnerlicht, dass Dicksein in unserer Gesellschaft etwas "Schlechtes" ist. Weil Kinder in dem Alter oft sehr schwarz-weiß denken, bedeutet das umgekehrt: Es ist gut, wenn ich schlank bin, denn dann bin ich "gut".
Das klingt schrecklich. Was hätte man in dieser Situation sagen können?
Auf jeden Fall nicht sofort abstreiten und sagen: "Du bist doch nicht dick." Das würde implizieren, wie schlimm es wäre, wenn es denn so wäre, was es nicht ist. Und dass es überhaupt wichtig ist, wie sie aussieht. Ich würde eher neutral nachfragen: "Beschäftigt dich das? Wo kommt dieser Gedanke her?" Eine Sechsjährige begegnet der Botschaft, dass Dicksein etwas Schlechtes ist, leider überall. In Kinderbüchern, in der Werbung und auch zu Hause: Schlanksein wird bei uns als "Leistung" angesehen, danach bauen Kinder dann ihre Glaubenssätze auf. Diese Botschaften erreichen unsere Kinder jeden Tag; wir können sie davor nicht schützen – aber wir können mit ihnen darüber reden.
Was kann ich sonst noch tun?
Kinder machen nicht das, was wir sagen, sondern das, was wir tun. Wir sollten uns selbst also nicht mit Essen belohnen oder bestrafen, Lebensmittel nicht in "gut" und "schlecht" einteilen. Denn Beschämung führt zu Selbsthass. Körperakzeptanz hingegen führt zur Selbstfürsorge. Studien haben gezeigt, dass entspannte gemeinsame Mahlzeiten das Körperbild von Kindern positiv beeinflussen. Nährstoffe sind dabei zwar wichtig; es ist aber auch wichtig, genießen zu lernen. Grundsätzlich sollte man außerdem versuchen, die Verknüpfung von Gewicht und Gesundheit voneinander zu lösen. Ein schlanker Körper ist nicht automatisch gesund – und ein dicker nicht automatisch krank.*
Diversität für Kinder:
Was sind eigentlich Komplimente, und warum fühlt es sich so gut an, damit überschüttet zu werden? Wie sieht eine Frau aus, wenn sie älter wird – und wie ein Mann? Was ist Transgender, was ist die Pubertät? Was ist hässlich, was schön? Und was ein Schönheitsideal? Das Buch "Anybody" von Katharina von der Gathen und Anke Kuhl beschäftigt sich mit unseren Körpern. Ganz nebenbei sieht man hier, wie unterschiedlich wir alle sind – und sein dürfen. Für Kinder ab 8 Jahren. Klett Kinderbuch, 92 Seiten, 16 Euro.
* "Gesundheit kenn kein Gewicht", Petra Schleifer, Antonie Post, südwest, 18 Euro