Hormongesteuert? Das lasse ich mir grad noch gefallen. Aber anerzogen? Dieses große Gefühl soll nichts weiter sein als das Ergebnis unserer Sozialisation? Mutterliebe ist doch vor allem: der absolute Wahnsinn. Ein Gefühl, das uns überrumpelt und verändert. Das uns warm durchflutet. Stark macht. Das uns vollkommen erfüllt.
Aber, so ehrlich müssen wir wohl sein: Mutterliebe kann auch eisig unser Herz umschließen. Sie macht uns verletzlich wie nie, denn sie bringt eine bisher nicht gekannte Verlustangst mit sich. Und Mutterliebe laugt aus. Sie verlangt immer noch mehr von uns. Mehr Selbstaufgabe, mehr Perfektion. Mutterliebe ist ein prima Nährboden für Selbstzweifel. Sie ist ein so schönes und zugleich so dominantes Gefühl, dass wir uns verlieren können in dieser rosaroten Gefühlswolke.
Wir lieben unsere Kinder. Mit Haut – und diesem ganz besonderen Duft in den Haaren. Mit zuckersüßem Lächeln, vor allem diesem unbewussten in den ersten Lebenstagen, aber auch mit Stinkewindel und Wutanfall und piksigen Fußnägeln, die sich nachts ins Mama-Fleisch bohren. Sie rauben uns den Schlaf und auch noch das letzte Körnchen Kraft. Doch dann reichen ein schelmischer Blick, ein unverhofftes "Danke, Mama!" oder ein warmer Körper, der sich schlafend an uns schmiegt – und schon ist da wieder dieses große Gefühl, das wir Mutterliebe nennen.
Woher kommt Mutterliebe?
Tatsächlich ist Mutterliebe wohl beides. Ein Trick der Natur, angeschaltet vom sogenannten Liebeshormon Oxytocin, das uns bei der Geburt und beim Stillen überflutet. Aber eben auch Spiegel der Werte jener Gesellschaft, in der Mutter und Kind leben.
Dass unsere hilflosen Babys auch nach den Strapazen einer Geburt gut von ihren Müttern versorgt werden, war und ist von elementarer Bedeutung für die Entwicklung und den Fortbestand der Menschheit. Klar, heute könnten das auch die Väter übernehmen, sie müssen schließlich nicht mehr tagelang auf Büffeljagd gehen, um die Familie durchzubringen. Aber was Hormone und Urinstinkte angeht, sind wir eben in der Steinzeit stecken geblieben.
Wirklich? Oder wird uns Müttern nur beigebracht, dass es so ist? Damit alle Welt von der Schwiegermutter bis zum Grundschullehrer erwarten kann, dass die Liebe zum Kind nicht nur unsere Herzen weitet, sondern auch Kräfte freisetzt, mit deren Hilfe sich all die in uns gesetzten Erwartungen aushalten und erfüllen lassen. Eigene Hobbys werden genauso auf Pause gestellt wie alte Freundschaften oder das Vorankommen im Job. Was gibt es Schöneres, als sich aufzuopfern für diese wunderbaren, heiß geliebten Wesen? Gibt es etwas Wichtigeres, als das heranwachsende Kind nach Kräften zu fördern und zu fordern? Und können das wirklich nur wir Mütter?
Mutterliebe, eine chemische Wunderreaktion im Mamakörper?
Freundinnen rufen nicht mehr an, weil sie ohnehin immer abgewürgt werden. Der Arbeitgeber ist beleidigt ob der Masse an Kinderkrankheiten, von denen er nicht wusste, dass es sie gibt (womit es ihm nicht anders geht als uns selbst). Sport ist aus dem Wochenplan gestrichen, genauso wie Kino, Restaurantbesuche, Freunde treffen. Kein Platz im Alltag mit Kindern. Zumindest nicht, wenn wir ihn im Namen der Mutterliebe perfekt meistern wollen.
Mutterliebe, eine chemische Wunderreaktion im Mamakörper, die uns ungeahnte Kräfte verleiht und unser Fürsorge-Gen aktiviert? Oder Mutterliebe, nichts als ein Gerücht, eine gesellschaftlich geförderte, vielleicht sogar gewollte Selbstaufgabe, damit Mütter leisten, was eigentlich nicht leistbar ist? Wissenschaftler und Feministinnen, Frauen und Männer, Mütter und Väter streiten darüber.
Der österreichische Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat über die Mutterliebe mal gesagt, sie sei "eine Schlüsselerfindung der Natur, aus der sich alle anderen Formen der Bindung zwischen Menschen entwickelt haben". Sie sei der Ursprung von Mitempfinden, Mitleid, romantischer Liebe zwischen Erwachsenen und auch aller höheren Formen von Geselligkeit. Ein Indiz: Das Verhaltensrepertoire turtelnder Erwachsener stamme oft aus dem Mutter-Kind-Bereich.
Wie sah Mutterliebe im 17. Jahrhundert aus?
Die französische Philosophin Elisabeth Badinter schrieb 1980 ihr erstes Buch über die Mutterliebe und argumentierte anhand der Geschichte dieses großen Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute, dass es kein unabänderlicher Bestandteil der weiblichen Natur sei. Schließlich gebe es in unterschiedlichen Epochen und Gesellschaften auch ganz unterschiedliche Standards für den Umgang mit Kindern. In einem Interview sagte sie mal: "Ich glaube, eine gute Mutter ist eine, die es schafft, eine gewisse Distanz zu ihrem Kind zu halten, nicht zu nah, nicht zu weit weg zu sein, ihm zu geben, was es braucht, es nicht zu unterdrücken, nicht zu abwesend und nicht ständig anwesend zu sein. Irgendetwas genau dazwischen." Klingt gut. Und unendlich schwierig.
Für Margrit Stamm, emeritierte Professorin für pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften, steht fest: "Es gibt keine angeborene Mutterliebe. Sie ist anerzogen oder kulturell vermittelt." Die Forschung habe widerlegt, dass dieses so mächtige Gefühl Kindern gegenüber auf Mütter beschränkt ist. Väter könnten das genauso. Ihre Beziehung zum Kind sei dabei oft weniger emotional innig, dafür aber spielerischer, robuster, körperbetonter. "Das ist eine andere intensive Beziehung. Dabei unterscheidet sich die Verbindung zum Kind aber nicht so deutlich, wie das immer dargestellt wird", sagt Stamm.
Das heute bei uns vorherrschende Verständnis von Mutterliebe erzeuge ein Mutterbild, dem keine Frau genügen könne, auch als Vollzeit-Mama nicht, sagt Stamm: "Ich bin schockiert, dass junge Frauen politisch, gesellschaftlich und familiär gleichberechtigt sind – aber nur, bis sie Mutter werden. Dann sind sie mit einem Mutterbild konfrontiert, das sie zurück in die 1960- und 1970er-Jahre katapultiert und von ihnen ein Maß an Selbstlosigkeit erwartet, das kaum oder nur mit Stress und Verzicht geleistet werden kann."
Und nun? Weniger lieben? Geht nicht! Aber den Papa auch mal Babyhaare riechen lassen, das geht. Und Mutterliebe nicht mit Selbstaufgabe verwechseln, das geht auch. Vielleicht. Mit ein bisschen Übung.
Mutterliebe ja, Überforderung nein
Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm aus der Schweiz wehrt sich in ihrem Buch gegen überzogene Ansprüche an die Mutter von heute: "Du musst nicht perfekt sein, Mama!", Piper, 18 Euro