In jeder Schulklasse, in jeder Kita-Gruppe gibt es sie: fünf bis sechs Kinder mit einer Diagnose. AD(H)S, Lernstörungen, Depressionen, Ängste, Zwänge und Tics sind, so scheint es, inzwischen ähnlich verbreitet wie vorstehende Zähne oder Sommersprossen. Ein Befund, der zwei Seiten hat: Einerseits kann es das Leben der Betroffenen erleichtern, wenn ein Problem endlich einen Namen hat – zum Beispiel, wenn das Kind durch die Diagnose einen Nachteilsausgleich in der Schule bekommt. Andererseits macht sie – vor allem den Eltern – auch Angst: Wird mein Kind es jetzt für immer schwerer haben? Gefühlt betrifft das Problem immer mehr Familien. Das war doch nicht immer so, oder?
War es tatsächlich nicht. Während 2003 laut einer Studie des Robert Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) jedes fünfte Kind von null bis 17 Jahren psychisch auffällig war oder Lernstörungen hatte, litt laut Kinder- und Jugendreport der Krankenkasse DAK im Jahr 2019 – und damit noch vor Corona – schon jedes vierte Schulkind darunter. "Besonders Depressionen, Angst- und Konzentrationsstörungen nehmen seit einigen Jahren zu", so der Berliner Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Elpers.
Aber woran liegt das?
Ein wichtiger Grund: Wir schauen genauer hin. Kinder kommen im jüngeren Alter in die Betreuung, werden dort mehr verglichen und ihre Fortschritte in Lern- und Entwicklungsgesprächen erfasst. Auch die Schwelle, das Kind bei Auffälligkeiten von Fachleuten anschauen zu lassen, ist gesunken.
Krank macht aber auch unsere Wettbewerbsgesellschaft.
"Eltern, die ihrem Kind viel Zeit widmen und deshalb weniger arbeiten, werden im Beruf meist abgestraft. Reiben sie sich dagegen im Job auf, fehlt oft die Zeit fürs Kind. Vor allem in der Kleinkindzeit kann es dann schwieriger werden, eine sichere emotionale Bindung aufzubauen – was später mitunter zu psychischen Probleme führt. Unsere Gesellschaft stellt Eltern damit vor ein riesengroßes Dilemma“, kritisiert Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Helmut Bonney, der in Heidelberg und der Schweiz praktiziert. Selbst bei den Kleinsten zähle heute nur noch Leistung. Viel entscheidender sei jedoch, dass Kinder etwas allein schaffen. Ohne dass sie ständig gemessen oder bewertet würden: "Das passiert in der Schule heute nur noch im Sport-, Kunst- oder Musikunterricht. Genau die Fächer, bei denen die Stunden reduziert werden." Seinem Berufskollegen Dr. Michael Elpers fällt auch auf, dass Lehrer immer mehr Pädagogisches in die Medizin verlagern. Denn ohne ärztliche Diagnose gibt es keine Förderung. Oft seien Eltern fast enttäuscht, wenn er ihnen sagen müsse: Ihr Kind hat gar keine Störung. Es ist ganz normal.
Doch was heißt das eigentlich: normal?
Seit den Siebzigerjahren veränderte sich die Temperamentsforschung, die Toleranzschwelle für Normabweichungen und Andersartigkeit sank: Ein Michel von Lönneberga, eine Pippi Langstrumpf wären heute eher Fälle für die Psychiatrie als fröhliche Role Models. Helmut Bonney plädiert dafür, Kinder typgerecht zu erziehen: "Es bringt nichts, ein Kind mit hohem Energieeinsatz zu einem ruhigen Vertreter ummodeln zu wollen – oder andersrum. In unserem Förderwahn glauben wir, wir könnten diese Unterschiede ausgleichen. Wir brauchen aber alle Menschentypen." Auch Michael Elpers beobachtet eine gestiegene Unsicherheit bei Eltern: "Immer mehr haben kein Vertrauen in sich und ihre Erziehungskompetenz. Sie wollen alles richtig machen und schießen dabei mitunter übers Ziel hinaus."
Und auch die digitalen Medien tragen eine Mitschuld:
"Unsere Konzentration nimmt durch den ständigen Gebrauch von Smartphone und Co deutlich ab", sagt Elpers. Die mittlere Nutzungsdauer bei Jugendlichen beträgt heutetäglich bis zu acht Stunden – inklusive schulischer Aufgaben. Zwei, drei Stunden maximal wären empfehlenswert." Geht es dem Kind nicht gut, hat es Probleme in der Schule oder mit anderen Kindern, stellt sich für viele Eltern irgendwann die Frage:
Sollen wir was unternehmen – außer trösten, aufmuntern, da sein?
Sind das schon Depressionen, oder ist das noch Corona-Blues? Die Grenzen zwischen Gesundheit und einer behandlungsbedürftigen Störung sind auf jeden Fall fließend. Und Therapie kann auch schaden, wenn ein Kind den Eindruck bekommt: So, wie ich bin, bin ich verkehrt. Ganz unrecht hat Oma also nicht, wenn sie sagt: Das wächst sich aus. Tatsächlich hat beispielsweise ein Teil der AD(H)S-Kinder mit Beginn der Pubertät keine Schwierigkeiten mehr, auch wenn die Gründe dafür noch nicht ganz erforscht sind.
Auf der anderen Seite kann zu langes Abwarten natürlich auch schaden. Michael Elpers gibt deshalb einen simplen Rat: "Sobald ein Kind leidet, sollten Eltern mal einen Experten fragen." Und über Hilfsmöglichkeiten nachdenken. "Es beruhigt Eltern und Kind oft, wenn ich ihnen neue Wege durch die Krise aufzeigen kann. Und Kinder sind widerstandsfähig. Sie finden ihre Art, mit Problemen umzugehen, wenn man ihnen das auch zutraut", sagt Elpers. Was Eltern immer tun können: Zuversicht und Sicherheit vermitteln. Zusammen kriegen wir das hin: Diese Botschaft hilft bei jeder Krise – ganz unabhängig davon, ob ein Profi mit ins Boot geholt wird oder nicht.
Dr. Michael Elpers
Rund 4000 Familien jährlich besuchen die Praxis des Berliner Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. Michael Elpers. Seine Erfahrungen aus mehr als 25 Jahren – unter anderem an der Berliner Charité – flossen in sein Buch "Wenn die Kinderseele streikt" (Beltz, 20 Euro) ein, das im September erschienen ist. Der Untertitel "Warum immer mehr Kinder psychisch erkranken und wie wir sie schützen können" ist Programm.
Dr. Helmut Bonney
Der Arzt für Kinderheilkunde, für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychotherapeutische Medizin sowie Psychosomatik praktiziert in Heidelberg und in der Schweiz. Er blickt auf rund 40 Jahre Erfahrung zurück, auch im Weiterbildungsbereich. Sein neues Buch "Rohstoff Kind" (Carl-Auer, 19,95 Euro) skizziert anhand vieler Praxisbeispiele die Situation der Jüngsten in unserer Gesellschaft zwischen Freiheit und (zu viel) Kontrolle.
Zwei Kinder, zwei Mutmachgeschichten
Diagnose – und jetzt? Mütter erzählen, wie es mit Tochter und Sohn weiterging
Die Geschichte von Alma*, 11 Jahre
"Ihre erste Diagnose bekam Alma mit drei – die Kinderärztin stellte eine Sprachenentwicklungsstörung fest. Alma ging zur Logopädin und parallel zur Ergotherapeutin. Ansonsten verbuchten wir das Problem unter 'Wird schon werden'. Doch der Tiefpunkt kam erst noch: Eine neue Vorschul-Erzieherin wollte sie direkt in eine spezielle Sprachförder-Grundschule abschieben. Anstatt sich auf den ersten Schultag zu freuen, begann für Alma ein Diagnose-Marathon. Und weil findet, wer suchet, kam nun auch noch eine auditive Wahrnehmungsstörung, Legasthenie und ADS dazu. Ansonsten sei Alma aber vor allem ein sozial begabtes, fröhliches und kreatives Mädchen, sagte man uns. Na, danke schön.
Weil Alma im IQ-Test gut abschnitt, riet uns die Schulpsychologin dann aber doch zu einer "normalen" Grundschule. Von nun an quälten sich Alma und mein Mann, der meist mit ihr lernte, durchs erste Jahr. Doch Anfang der zweiten Klasse eröffnete uns die Lehrerin, dass es bloß noch eine Schulbegleiterin richten könne. Ich fand das übertrieben, fühlte mich persönlich gekränkt: "Warum ausgerechnet mein schlaues Mädchen?" Dann wurde ich traurig: "Würden die anderen Kinder sie auslachen?" Doch meine Mutter nordete mich ein: "Sei froh, dass sie diese Unterstützung kriegt. Was Besseres kann euch nicht passieren!" Es gelang mir, meinen Blickwinkel zu ändern, und was soll ich sagen: Almas Schulbegleiterin wurde zu ihrem größten Glück. Dank ihr schaffte sie es aufs Gymnasium. Aber vor allem gab sie Alma auch das Gefühl, ein toller Mensch zu sein, der Probleme überwinden kann. Und das wirkt bis heute nach."
Anna, 44, lebt in München und hat zwei Töchter
Die Geschichte von Jürgen, 10 Jahre
"Gleich zu Beginn der ersten Klasse beschwerte sich die Lehrerin, mein Sohn sei unkonzentriert und lerne nicht richtig schreiben und lesen. Sie setzte ihn allein an einen Tisch an der Wand – isoliert von allen anderen Kindern. Wenn er laut vorlas, korrigierte sie ihn unfreundlich. Ein Junge bemerkte die ungute Dynamik und begann, Jürgen zu mobben: 'Du bist dumm!' Mitläufer schlossen sich an. Ein Kinderpsychiater stellte Legasthenie fest, doch die neue Lehrerin in der dritten Klasse zweifelte die Diagnose an. Unterstützung also wieder Fehlanzeige. Jürgen blieb Außenseiter, seine Noten waren schlecht, er bekam Panik vor der Schule. Als Mutter zerreißt es dich, wenn dein Kind leidet und du nichts tun kannst. Wenn nicht mal die Lehrerin dir Rückendeckung gibt. Und mich hat es oft an meine Grenzen gebracht, ihn beim Lernen zu unterstützen. Doch dann, mit einem neuen Klassenlehrer in der Fünften, wurde alles anders, und die Unbeschwertheit unseres Sohnes kehrte zurück. Der Lehrer, ein junger Pädagoge, konzentriert sich auf Jürgens Stärken, lobt ihn für seine Sportlichkeit und auch fürs Lesen. Das Klima unter den Jungs, die Noten und Jürgens Stimmung verbessern sich gerade sehr. Ja, so kann das sein, wenn Eltern und Lehrer an einem Strang ziehen und nicht gegeneinander arbeiten."
Roswitha, 40, lebt in Berlin und hat zwei Söhne