Eltern: Frau Scholz, warum sind Schreikinder ein Fall für die Ergotherapie?
Silke Scholz: Wenn Kinder exzessiv schreien, stecken meist Reizregulationsprobleme dahinter, und die gehen sehr oft auf Wahrnehmungsstörungen zurück. Ist der Gleichgewichtssinn betroffen, dann reagiert das Kind überempfindlich auf Bewegung, ist es der taktile Sinn, dann ist es überempfindlich bei Berührung. Schon ein kleiner Reiz reicht aus, um so ein Kind aufzuregen. Wir können da gut helfen, oft schneller bei älteren Kindern.
Wie denn?
Je jünger das Kind ist, desto stärker liegt der Fokus darauf, die Eltern anzuleiten. Gibt es Probleme, kommen ja mehrere Faktoren zusammen: das Kind, das eventuell Wahrnehmungsstörungen hat, die Eltern, die diese nicht einordnen können und oft erschöpft sind, und die sich daraus entwickelnde dysfunktionale Interaktion zwischen beiden. Die Eltern lernen zu verstehen, was mit ihrem Kind los ist, wissen, was es braucht, damit es bestimmte Situationen besser bewältigen kann und wie sie es wirksam beruhigen. Das üben wir praktisch in einigen Sitzungen an einem Beispiel ein.
Können Sie so ein Beispiel beschreiben?
Ja. Ein acht Monate altes Kind sträubt sich gegen das Wickeln. Dann zeige ich den Eltern, wie sich das Ausziehen gut für das Kind anfühlt. Bei einem Kind mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung kommt es darauf an, sehr langsam mit ihm umzugehen, viele Pausen zu machen, damit ein Reiz nach dem anderen kommt. Wenn es doch anfängt, überzureagieren: Wie sie ihm die Hand auf die Brust legen, einen leichten Druckreiz erzeugen, der beruhigend auf das Nervensystem wirkt. Nicht hektisch streicheln, eine eher kräftige Berührung. Es geht auch darum, dass sie mit der Aufmerksamkeit beim Kind sind, gerade solange es gut mitmacht, nicht erst, wenn es anfängt, Theater zu machen. Wenn es doch schreit, macht man mit Stimme und Haltung klar: Stopp. Jetzt liegen bleiben. Dann reagiert das Kind mit einem kurzen Innehalten. Wenn Eltern einmal verstanden haben, worauf es ankommt, dann sind sie schnell in der Lage, das Grundprinzip auf andere Situationen zu übertragen: vom Wickeln aufs Essen oder Zähneputzen.
Wenn sich ein Kita-Kind auffällig verhält, hören Eltern öfter: Das braucht vielleicht Ergotherapie. Zu Recht?
Nach meiner Erfahrung sind es eher die Eltern selbst, denen klar wird, dass da ein Problem ist. Diese Kinder haben Wutanfälle, beißen, hauen, wollen abends nicht ins Bett. Häufig stecken dahinter ebenfalls Regulationsprobleme, die aber nicht behandelt wurden. Diese Kleinkinder fördern wir sensorisch und motorisch und zeigen den Eltern, wie sie Alltagssituationen zu einer Förderung machen können: etwa das Eincremen am Abend, immer auf eine bestimmte Weise, die dem Kind guttut. Oder: Ihm beim Abendbrot ein Messer in die Hand zu geben, damit es sich das Brot mit Butter bestreicht. Und wir besprechen eine Strategie für "Ich will aber nicht". Denn diese Kinder haben oft gelernt: Ich kann mich meinen Eltern gegenüber durchsetzen, und dann müssen sie sich eben anstrengen, nicht ich. Und diese Eltern sind extrem angestrengt.
Etwas Familientherapie machen Sie also auch?
Das nicht. Aber ich beobachte, dass sich viele junge Eltern zu wenig Klarheit zutrauen. Es gibt da eine Diskrepanz bei den Erwartungen an die Kinder: Die kriegen in der Kita musikalische Früherziehung und sollen eine zweite Sprache lernen, aber die Eltern trauen ihm nicht zu, allein zu schlafen. Sie wollen ihnen nichts zumuten. Aber wenn man das vermeidet, lernt das Kind nicht, mit Frust umzugehen, und dann kommt es zu Wut. Dahinter steht eine gesellschaftliche Entwicklung, die die gesundheitsfördernden Kompetenzen der Eltern beeinflusst und die zu mehr Therapiebedarf führt. Das ist kein Luxusproblem, die Unterstützung ist ja notwendig.
Silke Scholz behandelt in ihrer Berliner Ergotherapie-Praxis vor allem Kinder. Sie ist unter anderem zertifizierte Säuglingstherapeutin: ergotherapie-scholz.de