Wann fing das an mit diesem neuen Spiel, das wir auf Reisen mit unseren Kindern spielen? Die Regeln sind ganz einfach, einfacher als "Ich sehe was, was du nicht siehst": Erst bildet die Tochter einen Fragesatz mit "W-LAN" und "Ferienwohnung", dann beschwert sich der Sohn über die schlechte Datenverbindung unterwegs ("Kackmistnetz, übelst lahm!"), als drittes haben wir Eltern unseren Einsatz: "Jetzt leg doch mal das Ding weg!" Einen Vorteil hat das Unterwegssein mit voll vernetzten Halbwüchsigen: Wir müssen nicht mehr acht Stunden lang über Autolautsprecher Käpt’n Sharkys und Lillifees gesammelte Werke hören.
Kommt euch bekannt vor? Vermutlich, weil Zoff ums Zocken, Daddeln und WhatsAppen ein Massenphänomen ist, nicht nur auf Urlaubs-Autofahrten, sondern jeden Tag zu Hause. Die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) ließ 2019 in einer Umfrage ermitteln, dass vier von fünf Familien regelmäßig in Streit geraten, wenn’s darum geht, was Kinder mit digitalen Geräten anstellen. 2020 fragte die KKH noch mal nach, was Eltern dabei Sorgen bereitet. 50 Prozent fürchten, dass Smartphone und Co. ihre Kinder süchtig machen, 44 Prozent, dass ihre Konzentration leidet, 38 Prozent, dass den digitalen Couch Potatoes Bewegung fehlt.
Was ist das: berechtigte Angst oder nur der übliche Alarmismus, wenn eine neue Technik das Leben umkrempelt? Ist es weltfremd, wenn wir Digitalisierung begrüßen, solange sie eine autonom fahrende S-Bahn hervorbringt, aber nicht, wenn sie verändert, wie Elfjährige spielen und in Kontakt bleiben? Gerade in Pandemie-Zeiten, als ihnen kaum etwas anderes übrig blieb? Und kann uns irgendjemand klar sagen, was und wie viel zu viel ist – und in welchem Alter? Wir haben nach Antworten gesucht, bei Neurobiologinnen und Kriminologen, Datensicherheitsexperten und Statistikern. Und bei Müttern und Vätern, die für ihre Familie einen Weg gefunden haben, der sich richtig anfühlt.
1 Mama, alle anderen dürfen … Echt jetzt?
Der Quengel-Satz, mit dem uns schon Siebenjährige mehr Medienzeit oder ein eigenes Smartphone aus den Rippen leiern wollen.
Aber was genau dürfen die anderen wirklich?
Der Medienpädagogische Forschungsverband Südwest hat für die KIM-Studie (Kinder, Internet, Medien) rund 1200 Kinder zwischen 6 und 13 Jahren und ihre Eltern befragt.
Gender Play Gap
Mädchen chatten, Jungs spielen – kein Klischee, das sagt auch die aktuelle KIM-Studie. Etwa ein Drittel der Jungen zwischen sechs und 13 ist täglich mit Gaming beschäftigt, nur 19 Prozent tun es nie – bei den Mädchen ist es umgekehrt (16 Prozent täglich/fast täglich, 32 Prozent nie). Top Drei der Jungs: Fifa, Minecraft, Mario Kart, Mädchen spielen am liebsten Sims, Minecraft und Super Mario.
Jahre | Ich nutze den Computer | Ich bin jeden/fast jeden Tag im Internet | Ich schaue mir lustige Clips auf YouTube an | Ich spiele täglich/fast täglich Spiele auf Smartphone, Konsole, Tablet o. ä. | Gesamte Medienzeit pro Tag (inkl. Internet, TV, Streamng, Radio, Lesen)* |
6–7 | 55 % | 12 % | 43 % | 13 % | 171 Min. |
8–9 | 74 % | 28 % | 67 % | 17 % | 228 Min. |
10–11 | 90 % | 40 % | 66 % | 27 % | 288 Min. |
12–13 | 97 % | 65 % | 71 % | 39 % | 361 Min. |
* Die Befragung fand im Oktober 2020 statt, also in der zweiten Corona-Infektionswelle. Auch das kann die hohen Werte mit erklären.
Von allen 6- bis 13-Jährigen besitzen:
Mobiltelefon | 50 % |
Konsole | 41 % |
CD-Player | 38 % |
Eigenes TV-Gerät | 34 % |
Internet-Zugang im eigenen Zimmer | 22 % |
Eigenen Laptop/Computer | 18 % |
Tablet | 9 % |
Streaming-Zugang im eigenen Zimmer | 7 % |
Im Durchschnitt bekommen Kinder in Deutschland mit neun Jahren ihr erstes Mobiltelefon, wobei der Anteil der Smartphones jährlich steigt.
Aber auch andere digitale und elektronische Geräte spielen eine Rolle im Kinderzimmer.
2 Was macht ihr da die ganze Zeit?
Die Autorin, selbst Mutter zweier Teenager-Kinder, hat mal im Kinderzimmer nachgefragt. Die Antwort: nicht repräsentativ, trotzdem typisch …
Helen, 15: "Hauptsächlich TikTok und Instagram. Mein Hobby ist Cosplay, also Manga- und Anime-Charaktere mit selbst gemachten Kostümen und Make-up nachstellen, davon stelle ich kurze Videos ins Netz. Und ich tausche mich mit Leuten aus, die ähnlich ticken wie ich. Neulich auf einer Reise habe ich zwei Internet-Freunde in echt kennengelernt, eine davon in Prag, einen in Dresden. War super!"
Henri, 13: "Ich mag Adventure-Fantasy-Games, Klassiker wie 'The Legend of Zelda', aber auch neue. Auch wenn du’s nicht glaubst, Mama: Ich spiele selten allein und fast ständig mit den Jungs aus meiner Klasse. Nennt sich Multiplayer."
3 Papa, kann ich mal dein iPad?
Mal schnell das Kind zum Spielen an ein Gerät lassen, das man auch beruflich nutzt? "Besser nicht", sagt David Heimburger, Rechtsanwalt, Datenschutzbeauftragter und Vater von zwei Kindern (9 und 13)
"Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben die rechtliche Pflicht, berufliche Daten vor dem Zugriff weiterer Personen zu schützen – eine Frage der Vertraulichkeit und des Risikos, sich sonst Schadsoftware aufzuspielen. An einem Computer oder Laptop kann man dem Kind ein extra Benutzerkonto erstellen, bei Mobilgeräten geht das nicht so leicht, es sei denn, man ist in einem Unternehmen angestellt, wo die hauseigene IT einen privaten Bereich auf dem Smartphone einrichten kann, z. B. separate Maileingänge. Am besten ist, privat und beruflich genutzte Geräte komplett getrennt zu halten."
4 Machen Smartphones dumm im Kopf?
Die Bremer Neurobiologin, Psychologin und Autorin Nicole Strüber beschäftigt sich mit der kindlichen Hirnentwicklung und ist Mutter von Zwillingssöhnen. Sie sagt:
Der Mensch ist unersetzbar
Menschen sind soziale Wesen, und um Informationen aufzunehmen, zu lernen, geistig zu wachsen, brauchen sie direkten, vertrauensvollen Kontakt. Je jünger ein Kind ist, desto mehr ist es dabei auf Bezugspersonen angewiesen. Nimmt zum Beispiel ein Elternteil oder eine Erzieherin ein Kind auf den Schoß und schaut mit ihm ein Buch an, könnte das über eine Ausschüttung des Bindungshormons Oxytocin die Neuverschaltung von Hirnverbindungen fördern – das Kind fragt nach, der Erwachsene erklärt, erkennt intuitiv, auf was das Kind reagiert. Hört es stattdessen ein digitales Hörbuch oder sieht einen Film auf dem Tablet, und sei er noch so kindgerecht, fehlt dieser Austausch. Ähnliches gilt fürs Spielen: Im Spiel mit anderen Kindern oder den Eltern lernt es, seine Impulse zu kontrollieren ("Ich darf nicht hauen, wenn ich wütend bin"), seine Gefühle zu verstehen und zu benennen, Empathie zu entwickeln, mit anderen zu kooperieren und Kompromisse zu finden. Diese Ebene fällt bei einem Solo-Spiel an der Konsole aus. Doch genau diese Fähigkeiten braucht es im Leben, um gut lernen zu können und mit anderen zu kommunizieren. Das heißt: Digitale Medien sind nicht per se schädlich (von gewalttätigen, nicht kindgerechten Inhalten abgesehen), aber die entscheidenden Impulse kommen im Kontakt mit anderen, echten Menschen.
Das richtige Maß für alle gibt es nicht
Wie viel okay ist und wie viel zu viel, hängt deshalb vom Gesamtpaket ab: Wenn ein Vierjähriges zum Beispiel den Vormittag im Waldkindergarten verbringt, mittags von einem entspannten Elternteil abgeholt wird, der sich Zeit nimmt zum Kuscheln, Vorlesen, Spielen, und später mit dem großen Bruder eine Stunde lang ein digitales Geschicklichkeitsspiel spielt, wird ihm das voraussichtlich nicht schaden. Wenn das Kind aber einen total durchstrukturierten Kita-Alltag bis 16 Uhr hat und zu Hause auf gestresste Eltern trifft, kann schon eine halbe Stunde Daddeln dazu beitragen, dass sein Hirn wichtige Erfahrungen verpasst.
Ob Kinder daddelsüchtig werden, ist vor allem eine Typfrage
Typische Spielsituation für ein Kleinkind am Handy: Jedes Mal, wenn es auf einen Knopf drückt, sagt ein niedliches rosa Häschen, dass es seine Sache gut gemacht hat. Das ist an sich harmlos, doch solche Rückkopplungen aktivieren das Belohnungssystem im Hirn, Dopamin wird ausgeschüttet und motiviert, immer weiter zu spielen, Endorphine sorgen für gute Gefühle. Aber Kinder sind in ihrer genetischen Ausstattung sehr unterschiedlich, auch ihr Dopaminsystem: Manche orientieren sich eher an kurzfristigen Zielen und Belohnungen, anderen gelingt es besser, sich zurückzunehmen, um ein langfristiges Ziel zu erreichen. Zum Beispiel ein Puzzle mit 200 Teilen zu legen. Faustregel für Eltern: Je mehr mein Kind zum Typ "Schnelle Belohnung" gehört, desto mehr im Auge behalten, dass es sich nicht hauptsächlich digital beschäftigt. Und für genügend Alternativen sorgen.
5 Muss das jetzt schon sein?
Dorothea Ringe kauft ihren Kindern, 11, 7 und 5, kein Smartphone vor dem 14. Geburtstag. Arne Ulbricht, Vater von Teenagern (14 und 17) war früher erklärter Smartphone-Gegner, heute nicht mehr. Meinungsbildung, zweimal anders
Sie sagt: "Auf einem Grundschul-Elternabend meines ältesten Sohnes wurde darüber diskutiert, welche Smartphone-Spiele für Neunjährige geeignet sind. Danach habe ich mich mit ein paar Müttern ausgetauscht. Wir alle fanden: Warum brauchen so junge Kinder überhaupt ein Smartphone? Es geht nicht darum, sie grundsätzlich von elektronischen Medien fernzuhalten, ich schaue mir auch mit meinen Kindern YouTube-Clips auf meinem Laptop an. Aber mich hat diese Selbstverständlichkeit gestört, dieses Nichthinterfragte. Es gibt so viel anderes, das darunter leidet – Sportverein, Musik machen, mit Freunden draußen spielen –, und ich wollte, dass meine Kinder länger Kinder sein können. Sie sollen erst ein Smartphone bekommen, wenn ihre Hirnentwicklung so weit ist, dass sie sich selbst besser steuern können und nicht diesem Sog erliegen. Das ist etwa mit 14 der Fall, sagen selbst IT-Milliardäre wie Jeff Bezos und Bill Gates. Und die haben ihren eigenen Kindern vorher auch kein eigenes Gerät gegeben. Ich habe mit anderen Eltern eine Initiative nach US-Vorbild gegründet (smarterstartab14.de), denn wir wollen unsere Kinder ja nicht sozial isolieren, der Gruppendruck ist hoch. Aber wenn sich mehrere zusammentun, macht man die Kinder stark und bringt andere Eltern ins Nachdenken."
Er sagt: "Ich war früher der größte Smartphone-Muffel auf Erden, hatte nur ein olles Tasten-Handy und habe alles andere auch für meine Kinder abgelehnt. Weil ich es für eine Verblödungsmaschine hielt und weil ich die große wirtschaftliche Macht der Tech-Giganten in den USA suspekt finde. Bis ich irgendwann als Schriftsteller und Kleinkünstler gern einen YouTube-Kanal wollte und mir dachte: Das ist Prinzipienreiterei, gehört eh alles zusammen, Google, Facebook, WhatsApp, dann kann ich es mir auch leichter machen. Also konnte ich es auch meinen Kindern nicht verweigern, die damals zehn und zwölf waren. Mittlerweile habe ich meine Meinung geändert: Nein, ein Smartphone ist keine Verblödungsmaschine, und für die Teenager ist das heute normal, die kommunizieren nur anders als wir früher. Inzwischen habe ich noch einen zweiten YouTube-Kanal gemeinsam mit meiner Tochter, über unser Leben in Schweden. Trotzdem finde ich es wichtig, dass Kinder lernen, Probleme auch anders zu lösen als mit einer App. Oder indem sie von überall Mama und Papa anrufen, als wären die ihr Help Desk."
6 Können wir’s nicht halten wie unsere Eltern früher?
Unsere eigene Kindheit kann eine prima Steilvorlage sein. Ob Gutenachtritual oder die Frage, wie viel Süßkram okay ist, es macht das Leben oft leichter, wenn wir übernehmen, was wir selbst als gut und sinnvoll in Erinnerung haben. Beim Thema Medienerziehung wird’s allerdings schwierig. Denn wer heute zwischen 30 und 50 ist, ist noch ohne Rund-um-die-Uhr-Streamingdienst, mobile Daten und Multiplayer-Games aufgewachsen. Da war’s einfacher, Zeit und Zugang zu begrenzen.
Wie eigene Kindheitserfahrungen Medienerziehung prägen, damit hat sich das Münchner JFF-Institut für Medienpädagogik in einer Langzeitstudie beschäftigt und mehrfach Eltern von Kindern bis zu zehn Jahren befragt: Was habt ihr selbst als Kind für Erfahrungen mit TV, Hörspielen, Computer und Co. gemacht, und wie haltet ihr es mit euren Kindern?
Bei den Ergebnissen kann man zwei Gruppen unterscheiden: zum einen Menschen, die sich – so formuliert es das Forschungsteam – an "positive, kreative und genussvolle Erfahrungen" erinnern und an wenig Regeln. Zum anderen jene, die sich an strikte Vorgaben halten mussten und deren Eltern eher eine kritische Einstellung hatten. Eine Haltung, die sich fortsetzt: Während die erstere Gruppe, so die Forscher und Forscherinnen, "den Medienbedürfnissen der Kinder aufgeschlossen gegenübersteht", achtet die zweite Gruppe stärker auf Begrenzung und wählt strenger aus, was ihre Kinder zu sehen bekommen – häufig sind das Formate, die es schon in ihrer eigenen Kindheit gab, von Bibi Blocksberg bis zu den Drei Fragezeichen. Nicht nur aus Nostalgie, auch aus einer gewissen Trägheit: Kenn ich, kann ich am besten beurteilen.
Aber keine der beiden Haltungen ist aus Sicht der Studien-Macher ideal, weder totales Laissez-Faire noch ängstliche Abschottung. Um mit der neuen Medienwelt klarzukommen, empfehlen sie einen Mittelweg und sind damit auf einer Linie mit anderen Experten, etwa dem Psychotherapeuten und Verhaltensbiologen Georg Milzner ("Digitale Hysterie – warum Computer unsere Kinder weder dumm noch krank machen", Beltz, 18,95 Euro). Dieser Weg erfordert allerdings Engagement und Zeit. Und zwar:
• Regeln, die immer wieder neu verhandelt werden und dem Medium entsprechen. Also etwa keine starren Zeitvorgaben, die dazu führen, dass sich das Computerspiel kurz vor Erreichen des nächsten Levels abschaltet.
• Ideen für Alternativen – komm, lass uns was backen, was basteln, Fahrrad fahren!
• Regelmäßige Gespräche mit dem Kind über seine Medienerfahrungen. So verführerisch es ist, das Smartphone als Babysitter einzusetzen: Allein lassen sollten wir unsere Kinder mit ihren Geräten nicht, je jünger sie sind, desto weniger. Auch da sind sich die Fachleute einig.
7 Habt ihr denn auf gar nichts Lust?
Digital gedacht, analog gemacht: Ältere Kinder haben oft keinen Bock mehr auf klassische Brettspiele mit Eltern oder Freunden, sind aber offen für analoge Spielformen mit Gaming-Charakter. Etwa die EXIT-Reihe aus dem Kosmos-Verlag: Hier müssen im Rahmen einer spannenden Story Codes geknackt werden und Rätsel gelöst werden, um aus einem (gedachten) geschlossenen Raum zu entkommen – Einsteiger-Sets ab etwa zehn Euro, geeignet für Kinder ab zehn. Oder analoge Adventure-Spiele im Herr-der-Ringe-Stil: Bei "Dungeons & Dragons" geht’s ums Schätzefinden, Trollebesiegen und Rätsellösen, ganz ohne Bildschirm (Starter-Sets mit Würfeln, Handbuch etc. ab etwa 20 Euro) – super für Menschen ab zwölf Jahren.
8 Braucht jedes Kind andere Regeln?
Ja, sagt Nina Heine, man muss bei jedem anders hinschauen! Sie und ihr Mann haben drei Kinder: Die Tochter ist 14, die Söhne sind 10 und 12.
"So unterschiedlich Kinder sind, so unterschiedlich ist auch ihr Umgang mit digitalen Geräten. Unsere älteste Tochter hat ihr erstes Smartphone zum neunten Geburtstag bekommen, und sie nutzt es sehr verantwortungsvoll, vor allem zur Inspiration und Kommunikation, ohne dass es dafür viele Regeln bräuchte. Wir haben uns immer mit ihr darüber ausgetauscht, was sie da tut, auch mal eingegriffen, wenn es zum Beispiel im Klassenchat Konflikte gab.
Als ihr jüngerer Bruder sich mit neun auch ein Gerät wünschte, konnten wir schlecht Nein sagen – aber bei beiden Jungs wäre ein späterer Einstieg wohl besser gewesen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester nutzen sie es nämlich für Spiele. Wir erlauben ihnen nur bestimmte, aber der Suchtfaktor beim Gaming ist hoch. Manchmal sammeln wir die Handys ein, in die Schule oder auf Klassenreisen kommen sie nicht mit. Wir haben als Familie auch schon medienfreie Tage gemacht – ich muss gestehen, das fällt auch uns Großen nicht leicht."
9 Kann mein Kind sich strafbar machen?
Harmlose Mutprobe auf WhatsApp? Von wegen: Pornografische Nacktfotos von Minderjährigen machen Absender wie Empfänger zu Tätern. Das erklärt Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger, Leiter des Instituts für Cyberkriminologie in Oranienburg
ELTERN family: Sie sind Experte für Internet-Delikte und haben im Blick, wo Kindern Gefahr droht. Was macht Ihnen derzeit am meisten Sorgen?
Thomas-Gabriel Rüdiger: Zweierlei. Zum einen waren Kinder in der Coronazeit noch massiver gefährdet für sexuelle Übergriffe, weil ja buchstäblich alle ständig im Netz und dort sich selbst überlassen waren – die Schulen hatten geschlossen, es gab keine Info- und Präventionsveranstaltungen, keinen täglichen Kontakt mit Lehrpersonen, denen man sein Herz ausschütten kann. Auch keine niedrigschwelligen Möglichkeiten wie eine Online-Polizeiwache, an die sich ein Kind wenden könnte: Da belästigt mich jemand. Hier ist die Politik gefragt, da müssten Kräfte von der Polizei, aus der Pädagogik, aus dem Streetworking im Netz gemeinsame Anlaufstellen bilden.
Und zweitens?
Wir sehen eine massive Zunahme minderjähriger Tatverdächtiger im Bereich kinderpornografischer Inhalte, von 20 Prozent im Jahr 2018 auf 43 Prozent 2020. Wohl auch, weil viele gar nicht wissen: Wenn sie pornografische Nacktfotos per WhatsApp im Klassenchat verschicken, aber auch, wenn sie solche Fotos beim Empfang automatisch downloaden, können sie sich strafbar machen – bei Bildern von unter 14-Jährigen kann das unter "Kinderpornografie", bei Jugendlichen unter 18 unter "Jugendpornografie" fallen.
Das heißt, mein eigenes Kind begeht eine Straftat, wenn es nichtsahnend das Nacktfoto eines anderen Kindes in einer Chatgruppe öffnet?
Es entsteht für die Polizei zumindest ein Anfangsverdacht. Als unter 14-Jähriger ist man zwar nicht strafmündig, aber die Polizei muss in einem solchen Fall immer Ermittlungen einleiten. Es kann sogar zur Hausdurchsuchung oder Beschlagnahmen von Handys bei den Minderjährigen kommen. Seit dem 1. Juli ist das ein Verbrechenstatbestand, das hat die Situation nochmals verschärft.
Und wie kann man sich davor schützen?
Ein großes Risiko sind die großen Gruppenchats, zu denen auch fremde Personen eingeladen werden. Ich würde raten, dass das Kind gar nicht erst an Klassen-, Vereins- oder Schulchats teilnimmt – und, auch wenn das keine Option ist, dann unbedingt die automatische Download-Funktion ausstellen, damit nicht unbeabsichtigt solche Medien heruntergeladen werden. Auf keinen Fall ohne vorherige Rücksprache mit der Polizei Screenshots von etwaigen kinder- oder jugendpornografischen Inhalten anfertigen, sonst läuft man Gefahr, sich strafbar zu machen. Und natürlich: dem eigenen Kind sehr deutlich machen, dass das Verbreiten kein Spaß ist.
Oft sind sich Minderjährige der Konsequenzen gar nicht bewusst – was ist mit Tätern, die gezielt kindliche Opfer ansprechen, um sie on- oder offline zu missbrauchen?
Das sogenannte Cybergrooming ist ein immenses, noch ungelöstes Problem eines globalen digitalen Raumes. Das kann überall dort passieren, wo Kinder auf ältere Jugendliche und Erwachsene treffen und mit diesen online kommunizieren. Etwa auf Social-Media-Plattformen und bei Onlinespielen, wo Sexualtäter und -täterinnen per Chatfunktion Versprechen machen wie: Ich nehme dich in meiner Gruppe auf oder ich gebe dir virtuelle Items, wenn du mir ein Nacktbild sendest. Es ist auch deshalb schwer, dagegen anzugehen, weil einige davon global agieren. Dagegen kommt man schwer mit kriminalpolitischen Maßnahmen an, die auf Deutschland oder ein einzelnes Bundesland beschränkt sind.
Gegen diese miese Masche nützt auch keine Filtersoftware?
Die einzig effektiven Schutzmaßnahmen sind das Wissen der Eltern und die Aufklärung der Kinder. Genau hinschauen, informieren, sich Onlinegames zeigen lassen und selbst spielen, die Medienrealität der Kinder verstehen. Anders als im Straßenverkehr gibt es im Netz keine roten Ampeln, Bürgersteige, Polizeistreifen. Solange der Staat da zu wenig tut, müssen sich die Eltern eben darum bemühen, so gut es geht.
10 Hört das denn nie auf?
Julia Karnick, 51, hat zwei erwachsene Kinder und bloggt unter julia-karnick.de auch über Familienthemen. Dies ist ein Auszug aus einem ihrer Texte:
Als unser Sohn 15 war, habe ich ab und zu davon geträumt, seinen Computer mit einem Vorschlaghammer zu zertrümmern. Er verbrachte damals fast jede freie Minute vor dem Ding. All die theoretisch sinnvoll klingenden medienpädagogischen Tipps – Interesse zeigen, Alternativen anbieten – waren im Familienalltag für die Katz. Nichts funktionierte, also haben wir ständig gemeckert. Manchmal fing ich schon damit an, wenn ich nach Hause kam und wusste: Der daddelt schon wieder seit Schulschluss. Aber kein Kind wird gern ständig angemeckert, schon gar nicht von den Menschen, die dafür da sind, es zu lieben. Also haben mein Mann und ich schließlich resigniert und Witze gemacht: "Ich glaube, er ist in seinem Zimmer und liest Dostojewski." Inzwischen ist unser Sohn erwachsen. Er spielt in seiner Freizeit immer noch gern Computer, aber nur noch, wenn er nichts Besseres zu tun hat – ausgehen, Sport machen, seine Freundin treffen. Ich habe ihn gefragt, ob wir damals etwas anders hätten machen können, er sagte: "Computer spielen bedeutet, in einer anderen Welt zu verschwinden, in der man sein und tun kann, was man will und auf einmal tausend Freunde hat. Das könnt ihr nicht verstehen, weil ihr anders aufgewachsen seid. Was ihr hättet anders machen sollen? Keine Ahnung. Gar nichts."
Mein einziger pädagogischer Tipp zum Thema ist also: Eltern haben nicht alles in der Hand, besonders wenn die Kinder älter werden. Manche Phasen kann man nur möglichst gelassen und liebevoll erdulden und hoffen, dass sie gut ausgehen.
Gefahr im Netz
Die RTL-Doku "Angriff auf unsere Kinder – und was wir dagegen machen können" geht der Frage nach, wie Cybergrooming und sexuelle Belästigung von Kindern im Netz stattfindet, und sucht nach Lösungen. Mit dabei: unser Interviewpartner und Experte Thomas-Gabriel Rüdiger. Erstausstrahlung war im März 21, Streaming z. B. auf TVNow.
Leg doch mal das Ding weg...
...ist auch für uns Erwachsene ein gutes Motto. Aber oft fällt es uns schwer, uns selbst handyfreie Zeiten zu verordnen. Paradox, aber wirksam: Apps, die medienfreie Zeit belohnen, etwa "Off-time" oder "Forest" – diese zeigt einen kleinen Baum, der immer weiter wächst, je länger man offline durchhält.