Frau Böttcher, was versteht man unter Hochsensibilität?
Hochsensible Menschen sind einer größeren Flut an Informationen und Sinnesreizen ausgesetzt als normalsensible Menschen, weil ihr Gehirn eingehende Sinneswahrnehmungen weniger stark filtert. So kommt es zu einer "übersteigerten" Wahrnehmung. Hochsensible brauchen deshalb mehr Zeit und Ruhe, um diese Flut an Eindrücken zu verarbeiten, und Rückzugsmöglichkeiten, um sich den Sinnesreizen auch mal entziehen können.
Ist eine solch intensive Wahrnehmungsfähigkeit nicht auch sehr positiv?
Ganz klar. Hochsensibilität ist keine Störung, sondern eine bestimmte Art die Welt wahrzunehmen, die sich schon bei Babys und Kleinkindern herauskristallisiert. Hochsensiblen Kindern kann man absolut nichts vormachen: Ihre Wahrnehmung ist auf den Punkt genau, sie verstehen Situationen und Befindlichkeiten ohne große Worte. Hochsensible entwickeln früh ein ausgeprägtes Wertesystem, an dem sie sich und ihre Mitmenschen perfektionistisch messen. Selbst die Sinnfrage beschäftigt hochsensible Kinder oft über die Maßen.
Ein solch ausgeprägtes Einfühlungsvermögen klingt nach einer Gabe.
Kann aber auch zu Irritationen führen! Sehen Sie, hochsensiblen Kindern kann man nichts vorgaukeln. Wenn es beispielsweise Probleme zwischen den Eltern gibt, dann spürt das Kind diese Uneinigkeit intuitiv, oft sogar mit körperlichen Symptomen. Wenn die Eltern diesen Konflikt abstreiten, wird das Kind in seiner Wahrnehmung nicht ernst genommen. Es bekommt den Eindruck "falsch" zu empfinden, leidet unter einem Gefühl der Hilflosigkeit. Ich habe schon Kinder erlebt, die dadurch eine frühe Identitätskrise erlitten. Eltern sollten die Wahrnehmung ihres Kindes deshalb immer respektieren.
Finden hochsensible Kinder in unserer Gesellschaft eine Umgebung vor, in der sie sich wohlfühlen können?
Leider nein, denn unsere Welt ist sehr nach Außen orientiert, während hochsensible Kinder oft Halt im Inneren suchen. Wird ihnen der Freiraum des Alleinseins nicht gewährt, leiden sie schnell darunter. Das gängige Kinderbetreuungskonzept läuft Hochsensiblen oft zuwider, denn dort herrscht der Druck des Miteinander - Rückzug ausgeschlossen! Vom Essen übers Zähneputzen bis zum Mittagsschlaf machen die Kinder alles gemeinsam, was für Hochsensible schrecklich sein kann. Oft liefert auch die Gestaltung der Innenräume mit Fensterbildern, Spielecken, bunten Möbeln und Wühlkisten ein Zuviel an Sinnesreizen für Hochsensible.
Haben hochsensible Kinder Schwierigkeiten in der Schule?
Das kann, muss aber nicht sein! Die Sprachentwicklung und das Erfassen komplexer Zusammenhänge sind bei hochsensiblen Kindern sogar überdurchschnittlich früh ausgeprägt. Doch unser Schulsystem bekommt ihnen nicht gut, da es überwiegend "linkshirnig" ausgerichtet ist, also logisches Denken und Faktenwissen fördert. Hochsensible scheinen eher "rechtshirnig" veranlagt zu sein. Sie denken in Bildern, haben eine ausgeprägte Phantasie und Kreativität. Ihre Art Lehrstoffe zu erfassen, ist daher eine ganz andere, woraus Schulprobleme resultieren können. Häufiger sind jedoch soziale Probleme: Hochsensible Kinder passen sich aufgrund ihres inneren Wertesystems nur selten dem Mainstream des Miteinanders in der Klasse an.
Gibt es Krankheiten oder psychische Störungen, die mit einer Hochsensibilität verwechselt werden könnten?
Symptome, die durch eine Reizüberflutung bei hochsensiblen Kindern ausgelöst werden, können zu einer Überschneidung im Erscheinungsbild von AD(H)S führen. Im Gegensatz zu dieser "Störung", gehen sie aber durch eine Reduktion der Reize wieder zurück. Da es zu den Charakteristika von hochsensiblen Menschen gehört, auf Medikamente stärker zu reagieren als weniger Sensible, könnte eine mögliche medikamentöse Behandlung zu weiteren überschießenden Reaktionen führen.
Wie reagieren Eltern darauf, wenn sie herausfinden, dass ihr Kind hochsensibel ist?
Meistens ist die Erleichterung groß, weil die Eltern endlich besser verstehen, was im Inneren ihrer Kindern vorgeht. Sie haben nicht mehr das Gefühl gegen ihr "Anderssein" arbeiten zu müssen, sondern begreifen, dass sie im Gegenteil die Besonderheiten ihrer Kinder zulassen sollten. Nicht nur um Probleme zu vermeiden, sondern auch um der Gabe der Hochsensibilität Raum zur Entfaltung zuzugestehen. Und dabei können Eltern sich Hilfe suchen, zum Beispiel bei "Aurum Cordis", Zentrum für Hochsensible.
Wie gestaltet sich für Gewöhnlich der erste Kontakt mit "Aurum Cordis"?
Eltern können zuerst einen Selbsttest machen, um einen groben Anhaltspunkt zu bekommen, ob ihr Kind hochsensibel ist. Bei "Aurum Cordis" beginnen wir immer mit einem Gespräch, das die Situation des Kindes und der Familie beleuchtet und eine erste Annäherung an das Thema Hochsensibilität wagt. Oft sind schon einfache Alltagsstrategien ausreichend, um das hochsensible Kind aufzufangen: geregelte Tagesabläufe, Rückzugsmöglichkeiten, übersichtliche Wohnräume, viel Kontakt mit der Natur und genug Zeit für Phantasie.
Wie kann "Aurum Cordis" darüber hinaus Hochsensible unterstützen?
"Aurum Cordis" arbeitet mit einem Netzwerk erfahrener Ärzte, Therapeuten und Coaches, die Hochsensible ganz nach den individuellen Bedürfnissen betreuen. Für manche mag eine Klang-, Magnetfeldtherapie oder Osteopathie der richtige Ansatz sein, andere wiederum wünschen eine schulmedizinische oder psychotherapeutische Beratung. Ich möchte allerdings betonen, dass es sich keinesfalls um eine Therapie im gängigen Wortsinn handelt, denn es geht nicht um Krankheit oder Heilung. Wir bieten lediglich eine Begleitung an, den richtigen Weg im Umgang mit der Hochsensibilität zu finden.
Können Familien mit hochsensiblen Kindern auch von "Aurum Cordis" betreut werden, wenn sie nicht in Hamburg und Umgebung wohnen?
Selbstverständlich bieten wir auch eine Betreuung aus der Distanz an: per Telefon, durch Blockseminare und Wochenendtermine. Langfristig planen wir weitere Zentren in Deutschland zu eröffnen.
Fühlen sich Ihre Kinder auch manchmal "anders" als die Anderen? Jutta Böttcher empfiehlt einige ermutigende Bilderbücher über das Thema "Anderssein", die helfen können, das Selbstbewusstsein Ihrer Kleinen zu stärken: