Interview mit Prof. Dr. Hubertus von Voß
Professor Dr. Hubertus von Voß ist seit 1990 ärztlicher Direktor des Kinderzentrums in München. Das Kinderzentrum ist eine Fachklinik für Sozialpädiatrie. Vom Säugling bis zum jungen Erwachsenen: die Patienten kommen aus ganz Deutschland, teilweise sogar aus dem Ausland. Prof. von Voß ist gleichzeitig Inhaber des Lehrstuhls für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin an der Ludwig-Maximilian-Universität München.
Was ist das besondere am Kinderzentrum?
Wir im Kinderzentrum wollen die betroffenen Familien möglichst lange begleiten, um die Entwicklung der Kinder und der Familien zu beobachten. Die Eltern sollen ihre Kinder so annehmen können, wie sie sind. Wir haben Zeit für sie und hören ihnen zu. Um gewisse Probleme anzusprechen braucht es Vertrauen, und das muss erst hergestellt werden. Es macht keinen Sinn, die Kinder von Hinz zu Kunz zu schicken. Dadurch entsteht nur ein unübersichtliches Durcheinander von Befunden. Keiner erklärt den Eltern mehr, was eigentlich mit ihrem Kind los ist. Und das ist unsere Aufgabe: Den Eltern klar zu machen, was ihr Kind hat und wie sie ihm am besten helfen können. Deshalb werden die Eltern und ihr Kind von einem Arzt und einem Psychologen betreut.
Was verstehen Sie unter Behinderung?
Eine Behinderung kommt hauptsächlich durch die Reaktionen der Umwelt zustande, die die Eltern und das Kind spüren lassen, dass es behindert ist. Und natürlich ist es das in einem gewissen Sinn auch: Wenn das Kind eine spastische Lähmung hat, kann es nicht wie andere Kinder auf einen Baum klettern. Es ist behindert, etwas zu tun, ein Ziel zu erreichen, und so muss man es den Eltern auch vermitteln. Mir kommt es darauf an, den Eltern zu zeigen, wo die Kinder Entwicklungschancen haben und nicht, was sie alles nicht können.
Wie reagieren die Eltern, wenn sie erfahren, dass ihr Kind behindert ist?
Für die Eltern ist das zunächst ein großer Schock. Sie haben sich ein gesundes Kind gewünscht und nun erfahren sie, dass ihr Kind nicht so ist wie andere Kinder. Die Familie, in der ein behindertes Kind lebt, muss ihre Lebensentwürfe komplett umstellen. Das ist eine große Belastung für sie. Man kann vielleicht sogar sagen, dass ein behindertes Kind die gesamte Familie zu einer behinderten Familie macht. Eltern stellen sich sehr schnell Zukunftsfragen: "Was wird aus meinem Kind?", "Kann mein Kind in eine Schule gehen?". Und in manchen Fällen müssen wir den Eltern sagen, dass das wohl nicht möglich sein wird. Die größte Angst der Eltern ist: "Was wird aus unserem Kind, wenn wir mal nicht mehr leben? Wer kümmert sich um unser Kind und wer hat es dann noch lieb?"
Haben Sie es erlebt, dass Eltern Schwierigkeiten hatten, ihr Kind anzunehmen?
Ja. Die allerwenigsten Eltern wenden sich von ihrem Kind ab, aber die gibt es. Ich denke, alle Eltern haben auch ein Recht auf Nicht-Akzeptanz. Dann gibt es Gründe, warum es nicht geht, und dann ist es auch besser, wenn andere sich um dieses Kind kümmern.
Wie helfen Sie den Eltern, einen Weg zu ihrem Kind zu finden?
Wenn man sein Kind in geistigem und seelischem Sinn verloren hat, ist es ein langer Prozess, um es wieder zu finden. Da darf man die Eltern nicht drängen, sondern muss ihnen Zeit geben. Aber das Ziel ist natürlich, das Kind wieder zum Kind der Eltern zu machen und umgekehrt. Manchmal reicht es den Eltern zu sagen, dass sie die Sache mit ihrem Kind gut machen.
Oft leidet die Partnerschaft unter dieser Belastung. Können Sie helfen?
Ja. Solange die Eltern mit ihrem Kind bei uns sind, können wir ihnen bei der akuten Krisenbewältigung Hilfe anbieten. Und wenn wir nicht helfen können, dann wissen wir, wo wir die Experten finden, die uns dabei helfen: Familientherapeuten, Eheberatungsstellen.
Welche Hilfe geben sie den Eltern für den Alltag?
Zuhause herrscht ja eine ganz andere Situation als bei uns im Kinderzentrum. Deshalb schauen wir uns erst einmal an, wie der Tagesablauf in der Familie aussieht: Wann steht das Kind auf? Was geschieht bei den Mahlzeiten? Was tut das Kind in seiner Freizeit? Wie beschäftigen sich die Eltern mit ihrem Kind? Daran sehen wir, wie Eltern mit ihrem Kind zurechtkommen, ob sie es möglicherweise über- oder unterfordern. Und dann besprechen wir den Tagesablauf und können dabei sehr konkrete Hilfen geben.
Wie sieht eine Therapie aus?
In einer Therapie setzten wir uns erste Ziele: Kann ein Kind nicht laufen, sehen wir erst mal, ob es überhaupt sitzen kann. Wenn es nicht sitzen kann, ist das erste Ziel, es zum Sitzen zu bringen, denn alles baut aufeinander auf; ein Meilenstein kommt nach dem anderen. Wenn wir die gesetzten Ziele nicht erreichen, werden die Therapiekonzepte überprüft und verändert. Entwicklung ist schließlich ein dynamischer Prozess, dem man sich immer wieder anpassen muss. Ganz wichtig: Die Eltern sind Partner in der Therapie und spielen eine entscheidende Rolle.
Was ist das Ziel Ihrer Arbeit?
Wir sind keine Heiler. Aber wir können lindern. Wir können zwar die Gesellschaft nicht ändern, aber wir können versuchen, die Akzeptanz für das behinderte Kind in der Familie und in der Gesellschaft zu erhöhen. Das Problem ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Erfolg eine große Rolle spielt. Behinderte Menschen können dem oft nicht gerecht werden. Ich halte dagegen, dass gerade diese Menschen oft sehr erfolgreich sind in dem, was sie sich vorgenommen haben. Und das müssen wir unterstützen. Und: Jedes Kind mit einer Behinderung ist ein Teil der Schöpfung. Und deswegen kann man es lieb haben.
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