Die Expertin: Dr. Gundi Mindermann ist Bundesvorsitzende des Berufsverbandes der Deutschen Kieferorthopäden und Expertin für "Parafunktionen" (belastende Mundbewegungen und -beanspruchungen).
Immer wieder hört man, Knirschen bei Kindern sei normal. Sie müssten verarbeiten, was an Neuem auf sie einströmt. Was sagen Sie dazu?
Es ist normal, dass man bei größerer Belastung mit den Zähnen knirscht oder sie zusammenpresst oder auf etwas herumkaut. Der Mund gehört zu den Körperbereichen, an denen man seinen Stress bzw. den Druck, unter dem man steht, abreagiert. Überdruck auf der Seele oder den Nerven will und muss ja irgendwie raus aus dem Körper. Allerdings nimmt die Gesundheit nachhaltig Schaden, wenn der Mund zu oft oder zu lang als Stress-Ventil missbraucht wird. Wenn also der Stress zu stark ist und/oder geeignete Entspannungsfertigkeiten fehlen.
Kann man erkennen, wann ein Kind seinen Mund zu oft als Stress-Ventil benutzt?
Wir können nur dazu anregen, den Kieferorthopäden einmal darauf anzusprechen. Ob ein Kind knirscht, sehen wir beispielsweise daran, dass die Ecken der Eckzähne flach abgerieben sind. Presst ein Kind seine Zähne unbewusst aufeinander, sind oft die Wangenmuskeln verhärtet vom "Dauer-Training", und die Zähne können ebenfalls beschädigt sein; hier leiden dann auch besonders die Backenzähne, sie werden in der Regel flach abgearbeitet.
Kinder, die "pressen", leiden oft auch unter Kopfschmerzen, denn das Pressen selbst ist eine körperliche Anspannung, die zu Verkrampfungen führen kann. Die Kaumuskeln sind nicht auf Dauergebrauch ausgerichtet, sie sollen in der Regel nur beim Kauen, Sprechen und Lachen aktiv werden. Stehen die Zähne im Oberkiefer vor, liegt das meist daran, dass zu oft ein "Ding" Platz zwischen den Zähnen findet - also der Daumen, ein Stift oder Ähnliches. Jedenfalls etwas, was nicht in den Mund gehört.
Welche Folgen hat es für die Gesundheit, wenn der Stress solche Spuren hinterlässt?
Oft versuchen die Kiefer, Fehlpositionen auszugleichen, in dem sie sich anpassen und dabei verschieben. Eine solche unnatürliche Verschiebung hat natürlich Auswirkungen auf das ganze Mund- und Kopfsystem - und nicht selten weit darüber hinaus: Fehlstehende Kiefer führen zu einer Verschiebung der beweglichen Bereiche im Kiefergelenk, das fehlfunktionierende Kiefergelenk gibt die Störung an die Wirbelsäule weiter, die an sich ausgleichend wirken soll.
Letztlich kann jemand tatsächlich eine schiefe Körperhaltung mit allen Folgen wie Gelenkschäden und Schmerzen bekommen, nur weil in der Kindheit eine Zahnfehlstellung erworben, aber nicht frühzeitig und erfolgreich behandelt worden ist. Das mag weit hergeholt klingen - aber wir erleben heute in vielen Studien und auch in praktischen Kursen, dass schon ein kleiner Ausgleich der Kieferfehlstellung, z. B. mit einem perfekt platzierten Watteröllchen bei zuvor völlig entspannten Muskeln zu einer wieder aufrechten und geraden Haltung des gesamten Körpers führt.
Stressbewältigungsversuche mit dem Mund - das soll bei immer mehr Kindern vorkommen. Ist das auch Ihre Beobachtung?
Wir stellen durchaus fest, dass die Anzahl der Kinder mit psychischen Belastungen einen wachsenden Anteil in unseren Praxen ausmacht. Dabei unterscheiden wir sehr wohl zwischen "Wildheit" oder "Ungezogenheit" und den Anzeichen, die auf Überlastung hindeuten. Auch eine bestimmte Form von Aggressivität ist oft ein Ventil für inneren Stress. Der zeigt sich an den Zähnen, an den Mundbewegungen, an der Kaumuskulatur. Wir müssen vielen Eltern klar machen, dass bestimmte Verhaltensweisen ihrer Kinder nicht "normal" sind, sondern eine Störung, die auch aus gesundheitlicher Sicht frühzeitig behoben werden sollte.
Wir sollten es ebenso nicht als "normal" bezeichnen, wenn Kinder derart unter Stress bzw. einer emotionalen Bedrohung stehen, dass sie Knirschen, Pressen oder Herumkauen dauerhaft als Ventil benötigen. Es geht hier nicht um "viele neue Eindrücke", denen Kinder ausgesetzt sind. Die mögen anstrengend sein, aber sie erfordern nicht diese Kraft, die der Körper einsetzt, um innere Spannungen loszuwerden. Wir verdrängen leicht, dass Kinder heute unter ebenso viel Stress stehen können wie die Erwachsenen. Alle Maßnahmen wie beispielsweise kindgerechte Stress-Abbau-Mechanismen brauchen in der Regel Zeit - eine Zahnschutz-Schiene hilft zumindest den Zähnen sofort. Erst wenn die Stress-Ursachen verstanden und abgebaut worden sind, können mit einem Fachzahnarzt für Kieferorthopädie weitere Strategien entwickelt werden, die Zähne des Kindes vor Zerstörung oder Verlagerung zu schützen.