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Zwangsstörungen Welche Kinder sind gefährdet?

Zwangsstörungen
© AndreyPopov / iStock
Ständiges Händewaschen, die Manie, alle Stifte penibel nebeneinander zu legen - nur ein Tick oder schon eine zwanghafte Handlung? Wie Eltern verhindern können, dass Kinder eine solche Störung entwickeln, erklären zwei Psychologinnen.

Neue Studie geht den Ursachen von Zwangsstörungen auf den Grund

Viele Eltern können nur den Kopf schütteln, wenn sie das chaotische Zimmer ihres Sprösslings betreten. Diese Eltern mag die Tatsache trösten, dass auffallend ordentliche Kinder nicht selten unter einer Zwangsstörung leiden. Derzeit läuft an der Universität München eine Studie mit dem Ziel, die Bedeutung moralischer Erziehung für die Gefühlsentwicklung zu verstehen.

"Da Zwängen eine Kontrollfunktion zukommt, ist es für Diagnostik und psychotherapeutische Behandlung von Relevanz, welche Rolle sie in der Regulation von sogenannten moralischen Gefühlen einnehmen", so heißt es auf der Internet-Seite der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen www.zwaenge.de. ELTERN FAMILY-Autorin Doro Kammerer sprach mit den Leiterinnen dieser Studie, den Diplompsychologinnen Dr. Kristina Hennig-Fast und Petra Michl, über die möglichen Ursachen von Zwangserkrankungen und die Frage, wie Eltern ungünstige Einflüsse vermeiden können.

Was haben Sie bis jetzt in Ihrer Studie herausgefunden?
Bei Patienten mit Zwangsstörungen lassen sich rückblickend in der Kindheit verschiedene Ängste finden, zum Beispiel Angst vor auf sich geladener Schuld, Angst davor, die erwarteten Leistungen nicht zu erbringen - vor allem den Eltern gegenüber - Angst vor nicht tolerierten Impulsen wie zum Beispiel starke Unruhe oder Aggression sowie vor sexuellen Trieben, Angst vor dem Anderssein oder vor Kontrollverlust.

Diese Ängste gehen oftmals mit einem wenig ausgeprägten Erleben der eigenen Wirksamkeit, der so genannten Ich-Stärke einher, also beispielsweise dem Gefühl, bei anderen etwas erreichen oder das Leben selbständig gestalten zu können. Stattdessen finden sich schon früh Erlebnisse von übermäßiger externer Kontrolle durch die Eltern oder aber auch Instanzen wie Gott. In extremen Fällen kann die Abgrenzung der eigenen Person von der Umwelt fehlen, so dass ein Kind zum Beispiel glaubt zu ersticken, wenn ein anderes Kind ein Bonbon verschluckt hat, oder dass es glaubt, Krankheiten zu haben, unter der die Mutter leidet oder von denen es hört.

Auch kommen gehäuft Lernschwierigkeiten vor, die zu einer Versagensangst beim Kind führen können, oder auch erhöhte Impulsivität, also spontane Verhaltensweisen, die störend wirken. Kinder, die durch körperliche Behinderungen oder auch durch harmlosere Besonderheiten wie Segelohren oder Übergewicht von ihrer Altersgruppe abweichen, stellen eine Risikogruppe dar. Sie erleben häufig einen überbehütenden Erziehungsstil und bekommen in vielen Fällen zu wenig Gelegenheit, ihre Selbstbehauptung zu entwickeln.

Deshalb ist es wichtig, jedem Kind die Möglichkeit zu geben, sich möglichst früh in Gruppen integrieren oder auch behaupten zu können. Damit ein Kind Selbstvertrauen gewinnen kann, sollten Eltern es dazu ermutigen, sich auszuprobieren. Sie sollten das Kind an der so genannten langen Leine seine Erfahrungen selbständig machen lassen. Hat das Kind verschiedene erwachsene Bezugspersonen, wird ihm das Lernen an unterschiedlichen Vorbildern oder Modellen ermöglicht. So lernt ein Kind Flexibilität und bekommt mehr Handlungsspielraum.

Gesunde Kontrollmechanismen dienen dem Erkennen und Vermeiden echter Gefahren

Kann man etwas darüber sagen, welche Atmosphäre Kinder besonders gefährdet, Zwänge zu entwickeln?
Besonders gefährdet sind unter anderem Kinder, in deren Ursprungsfamilie eine mangelnde Abgrenzung zwischen Eltern und Kindern besteht. Beispiel: Die Eltern erwarten, dass ihr Kind die eigenen Verhaltensweisen und Werte kritiklos übernimmt. Gefährdet sind auch Kinder, die zu selten Erfahrungen hinsichtlich ihrer eigenen Stärken und Schwächen machen können oder denen kaum Strategien im Umgang mit anderen vermittelt werden. Kinder also, die grundsätzlich zu wenig Kontakt mit anderen Kindern haben beziehungsweise die ihre Kommunikationsfähigkeiten nicht unter einer gewissen Anleitung entwickeln können. Zusätzlich problematisch sind Elternhäuser, in denen bei Schwierigkeiten vor allem mit Ängstlichkeit reagiert wird. Diese Eltern leben eine Fokussierung auf die Angst vor, und können ihre Kinder nicht sehr ermutigen, etwas im Leben auszuprobieren.

Generell lässt sich sagen: Die Vermittlung hoher moralischer Normen und Leistungsstandards und rigider Verhaltensregeln sowie übertriebene Einschränkungen in der selbstständigen Erforschung der Umgebung sowie in der selbstständigen Entwicklung von Gefühlen und Bedürfnissen stellen Risikofaktoren dafür dar, dass Zwänge als Kontrollmechanismen entstehen. Sowohl ein sehr strenger, autoritärer und mit Bestrafungen arbeitender Erziehungsstil als auch eine überbehütender, liebevoller, jedoch überkontrollierender Stil können somit die Entwicklung einer Zwangssymptomatik fördern.

Wenn Zwänge krankhafte Kontrollmechanismen sind, was versteht man dann unter gesunden Kontrollmechanismen?
Gesunde Kontrollmechanismen dienen dem Erkennen und Vermeiden echter Gefahren. So hat zum Beispiel das Gefühl Angst einen hohen existentiellen Wert und seine Berechtigung, weil sie uns möglicherweise bedrohliche Situationen wahrnehmen lässt. Tritt nun Angst immer wieder in harmlosen Situationen auf oder gibt es eine Grundangst vor fast allem, dann wirkt dies eher behindernd. Beispiel: Angst vor einem Gewitter zu haben, hat seine Berechtigung. Wenn sich aber ein Kind später gar nicht mehr allein aus dem Haus traut - ganz unabhängig vom Wetter - dann behindert diese Angst. Anderes Beispiel: Ein Kind, das gelernt hat, im Straßenverkehr achtsam zu sein und sich kontrolliert zu verhalten, tut das für seine eigene Sicherheit. Wenn ein Kind jedoch nur die Straße überqueren kann, falls bestimmte Kriterien erfüllt sind, wie zum Beispiel zehn rote Autos vorbeigefahren sind und drei Erwachsene mit ihm die Straße überqueren, wirkt sich dieses Ritual behindernd aus.

Der Übergang von gesunden und auch zunächst spielerischen Kontrollmechanismen hin zu zwanghaften und hinderlichen Kontrollmechanismen ist fließend. Wir alle wissen zum Beispiel, dass Türklinken von vielen Menschen angefasst werden und somit voller Keime sind. Dennoch drücken die meisten von uns diese Klinken mit bloßen Händen herunter und denken selten darüber nach. Menschen mit Sauberkeitszwängen hingegen vermeiden diese Berührung, weil sie eine große Gefahr empfinden, sich durch diesen "Schmutz" zu infizieren.

An der Entsstehung einer Zwangsstörung sind mehrere Faktoren beteiligt

Wie kommt ein Kind dazu, sich krankhafte Kontrollmechanismen anzueignen?
Für die Entstehung einer Zwangsstörung sind wahrscheinlich immer mehrere Faktoren verantwortlich. Wir unterscheiden Vorbedingungen (biologisch, kognitiv und umweltbedingt) und biografische Auslösebedingungen, also prägende Lebensereignisse und -umstände, die zusammentreffen müssen, um eine Störung zu verursachen. Die meisten Theorien gehen davon aus, dass Erfahrungen und Lernen wesentlich für die Entstehung von Zwangsstörungen sind. Dabei ist vielleicht weniger von schlechten Erfahrungen zu sprechen, sondern vielmehr von fehlenden Erfahrungen. So sind es die fehlenden Erfahrungen von Autonomie, von flexiblen Reaktionen der Umwelt auf eine Palette eigener Verhaltensmöglichkeiten sowie die fehlende Entwicklung eigener Ressourcen und Strategien für die Bewältigung neuer und schwieriger Lebenssituation, die zu einem Mangel an Selbstbehauptung führen.

Dieser Mangel an Erfahrungen und der Mangel an geeigneten Lernmodellen trifft wahrscheinlich bei bestimmten Kindern auf angeborene biologische Merkmale, die eine Entwicklung der Zwänge begünstigen. Das können unter anderem Schilddrüsenfehlfunktionen beziehungsweise eine hohe Ansprechbarkeit bestimmter neurobiologischer Schaltkreise sein. Einer dieser Schaltkreise spielt eine wesentliche Rolle in der Angstentstehung. Ein Ungleichgewicht in den Funktionen eines anderen Schaltkreises scheint einen entscheidenden Beitrag beim sogenannten impliziten Lernen zu leisten.

Was versteht man darunter?
Unter implizitem Lernen versteht man unbewusste Lernvorgänge, während das explizite Lernen den bewussten Wissens- und Fertigkeitserwerb, beispielsweise im Schulunterricht, ermöglicht. Wir gehen davon aus, dass das implizite Lernen und die Unterdrückung bestimmter Gedanken und Handlungen bei der Zwangserkrankung gestört sind.

Inwiefern die neurobiologischen Veränderungen vor der Erkrankung schon vorliegen oder erst im Rahmen der Erkrankung selbst entstehen, ist bislang nicht geklärt. Gerade deshalb ist es jedoch wichtig, dass Eltern durch ihre Erziehung auf diese biologischen Prozesse Einfluss nehmen. Erfahrungen aus therapeutischen Forschungsstudien und aus Einzeltherapien zeigen, dass psychotherapeutische Maßnahmen eine grundsätzliche Rückbildung der Zwänge ermöglichen. Diese psychotherapeutischen Erfolge weisen darauf hin, dass erzieherisch leitende Maßnahmen, die dem Kind helfen, mit seinen "schwierigen" Gefühlen umzugehen und sie nicht zu unterdrücken, vor der Entwicklung von Zwängen schützen können.

Heute sind Eltern bestrebt, ihren Kindern wieder Werte wie Rücksicht, Höflichkeit und Disziplin auf den Weg zu geben. Kann man da auch übertreiben?
Grundsätzlich sind Rücksicht, Höflichkeit und Disziplin sicherlich Werte, die wesentlich sind, um Aggression und Kriminalität unter Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken. Dennoch stellen ein übermäßiges Zurücknehmen der eigenen Person, ein zu rigides Regelsystem als Grundlage der Entwicklung von Disziplin und hohe moralische Standards Risikofaktoren für die Entwicklung von Zwängen dar. Andere Werte wie Eigenständigkeit, Verantwortung für sich und andere Personen, Selbstbehauptung, aber auch Abgrenzung von den Wünschen anderer und Achtsamkeit auf eigene Bedürfnisse sind wesentlich, um Kinder zu Agierenden in unserer Gesellschaft werden zu lassen. Vor allem auch weniger leistungs- und normorientierte Qualitäten wie kreatives Denken, Erleben und Ausdrücken von Gefühlen sowie die Entwicklung von Mitgefühl stellen wesentliche Dimensionen in der Entstehung eines gesunden Selbstwertes dar.

Eltern, die sich vor allem an erst genannten Werten orientieren und nicht als Modelle in den anderen Bereichen fungieren, sind vor allem gefährdet, in ihrer Erziehung Kinder nicht mit dem nötigen Selbstwert, ausreichender Selbstabgrenzung- und -wirksamkeit auszustatten und eine Zwangsentwicklung zu fördern.

Stimmt es, dass Eltern oft sehr spät bemerken, dass ihr Kind unter einer Zwangsstörung leidet?
Bei fast allen Patienten stößt der Kinder- und Jugendpsychiater auf auffallend frühe erste Zwangssymptome, die jedoch niemandem aufgefallen waren. Erwachsene Patienten berichten ebenfalls von Symptomen, die in der Regel schon in der Kindheit und/oder im Jugendalter aufgetreten sind. Zum Beispiel beschreibt in dem Buch "Der Weg aus der Zwangserkrankung" herausgegeben von Crombach und Reinecker, erschienen im Vanderhoeck & Ruprecht-Verlag, eine erwachsene Patientin eindrucksvoll von Kontrollzwängen in der Kindheit und frühen Jugend.

Allerdings muss man wissen, dass es um das Einschulungsalter herum bei vielen Kindern so genannte physiologische Zwänge gibt. Man spricht auch von alterstypischen Sicherungsphänomenen. Zwänge dienen ja dazu, Angst zu binden. Da zählen manche ABC-Schützen Gartenzaun-Latten oder sie achten darauf, nicht auf die Fugen zu treten. Das sind meist vorübergehende Erscheinungen. Wenn sich diese aber nicht nach drei bis vier Monaten verlieren, sollte man fachlichen Rat suchen. Eine frühe Behandlung von Zwangsstörungen ist wichtig, um zu verhindern, dass die Krankheit chronisch wird. Die Kombination aus Verhaltenstherapie und der Einnahme bestimmter Antidepressiva ist heute die anerkannte Therapiestrategie. Die Symptome bekommen die Patienten gut in den Griff, eine vollständige Heilung ist aber leider oft nicht möglich.

Bei welchen Verhaltensweisen eines Kindes würden Sie hellhörig werden? Grundsätzlich gilt: Wenn ein Kind seine Grenzen nicht austestet, wenn es ein sogenanntes Vorzeigekind ohne Aggression und Impulsivität ist, und wenn es keine von der Umwelt oftmals als negativ wahrgenommenen Verhaltensweisen zeigt wie Angst, Wut oder Traurigkeit, dann ist das beunruhigend. Es können Hinweise sein, dass das Kind in der Entwicklung seiner gesunden Selbstbehauptung eingeschränkt ist. Auch eine extreme Leistungsorientierung, zum Beispiel in Schule oder Sport, oder auffallende religiöse Verhaltensweisen wie rituelles Beten, können Signale für eine zwanghafte Entwicklung sein. Auch ein Kind, das nicht in einem bestimmten Maße eine Loslösung von den unmittelbaren Bezugspersonen zeigt - es mag beispielsweise nicht alleine spielen - weist ein Signalverhalten auf.

Tauschen Sie sich mit anderen Eltern aus!

Beobachten Sie bei Ihrem Kind auch bestimmte, immer wiederkehrende Handlungen, von denen Sie befürchten, sie könnten zwanghaft werden? Würden Sie sich gerne über Ihre Sorgen und Probleme mit anderen Eltern austauschen, die ähnliche Erfahrungen gesammelt haben? Eine gute Gelegenheit dazu bietet unser "Wenn die Kinder größer werden-Forum".

Wenn sie lieber in einem kleineren Kreis diskutieren möchten, können Sie auch einfach eine Gruppe im Eltern.de Familiennetz gründen. Sie alleine entscheiden dann, ob diese Gruppe für alle zugänglich ist oder ob man erst nach einer Bewerbung im Gruppen-Forum mitreden und Fotos in den Gruppen-Blog einstellen darf.

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