Artikelinhalt
- Was ist selektiver Mutismus?
- Welche Ursachen hat die selektive Sprachlosigkeit?
- In welchen Situationen tritt selektiver Mutismus auf?
- Wie viele Kinder sind betroffen?
- Welche Symptome sind typisch?
- Die Symptome im Überblick
- Wo gibt es Hilfe?
- Gibt es andere Gründe, warum ein Kind nicht mehr spricht?
- Wie stellt der Arzt seine Diagnose?
- Wie wird selektiver Mutismus behandelt?
- Wie kann selektiver Mutismus geheilt werden?
Was ist selektiver Mutismus?
Unter dem Begriff selektiver Mutismus (lat. mutus = stumm) versteht man eine emotionale Störung, die meist im frühen Kindergartenalter beginnt und durch soziale Ängste hervorgerufen wird. Die betroffenen Kinder sprechen nicht, obwohl sie körperlich dazu in der Lage sind. Bestimmte soziale Situationen, Orte oder Menschen verschlagen ihnen die Sprache. Der Zusatz „selektiv“ (auswählend) deutet darauf hin, dass sie nicht vollständig verstummen, sondern den Ort aussuchen, an dem sie schweigen. Oft reden sie zu Hause mit einem Elternteil oder mit Geschwistern, bleiben aber in der Kita, der Schule oder gegenüber anderen Personen sprachlos.
In der Medizin wird die psychische Erkrankung mittlerweile als Angststörung klassifiziert. Die Begriffe selektiver und elektiver Mutismus werden dabei synonym verwendet. Es gibt allerdings auch Wissenschaftler, die nicht von einem eigenständigen Krankheitsbild ausgehen.
Die Not der Betroffenen wurde lange Zeit verharmlost und als bloße Schüchternheit abgetan. Ihre Stummheit wurde oft als aktive Verweigerung oder gar passive Aggression gewertet und nicht als unfreiwilliges Unvermögen, sich in definierten Situationen verbal zu äußern. Ein Kind mit selektivem Mutismus entscheidet sich nicht aktiv, gegenüber anderen Menschen nichts zu sagen, es kann einfach nicht.
Von totalem Mutismus spricht man, wenn das Kind gar nicht mehr spricht, also weder mit bestimmten Personen in vertrauter Umgebung noch außerhalb. Dieses absolute Verstummen kommt weitaus seltener vor als der selektive Mutismus. Auch bei diesem Krankheitsbild handelt es sich um eine emotionale Störung. Man weiß, dass die Kinder körperlich in der Lage sind zu reden, es aus psychischen Gründen aber nicht mehr können.

Welche Ursachen hat die selektive Sprachlosigkeit?
Über die Ursachen des selektiven Mutismus ist noch wenig bekannt. Neben genetischen Dispositionen spielt offenbar vor allem das Umfeld, in dem die Kinder aufwachsen, eine große Rolle. Die Medizin geht heute davon aus, dass mehrere Faktoren zusammenspielen:
- Charaktereigenschaften: Kinder und Jugendliche mit Mutismus weisen auch schon vor dem Verstummen ganz ähnliche Persönlichkeitsmerkmale auf. Sie sind eher schüchtern, scheu, zurückhaltend und empfindlich. Viele sind auch ängstlich im Umgang mit Fremden oder neuen Situationen. Sie orientieren sich oft stark an einer erwachsenen Bezugsperson und sind häufig sehr behütet aufgewachsen.
- Veranlagung/Prägung: Die Störung kommt deutlich häufiger in Familien vor, in denen ein Elternteil stark introvertiert oder gehemmt ist. Die Kinder erfahren die reduzierte Kommunikation mit der Umwelt als normal. Auch psychiatrische Erkrankungen kommen in den betroffenen Familien gehäuft vor.
- Entwicklungsverzögerungen: Mutistische Kinder bleiben in ihrer Sprachentwicklung häufig hinter Gleichaltrigen zurück. Die Entwicklungsverzögerung beruht dabei aber eher auf mangelndem Training als auf ihrer Intelligenz.
- Fremdsprachigkeit: Kinder mit Migrationshintergrund, die in der neuen Sprache noch nicht sicher sind, verstummen im Vergleich zu Altersgenossen ebenfalls deutlich häufiger. Nach dem psychiatrischen Klassifikationssystem „DSM-V“ gilt Fremdsprachigkeit allerdings nicht als Ursache des selektiven Mutismus. Die Kinder haben wahrscheinlich Angst, Fehler zu machen oder finden es peinlich, dass sie in der Sprache noch nicht sicher sind. In ihrer Muttersprache würde ihr Verhalten aber vermutlich eher unauffällig sein.
In welchen Situationen tritt selektiver Mutismus auf?
Die Ursache alleine führt meist noch nicht zum Auftreten der Störung. Oft muss erst eine für die Kinder als extrem empfundene äußere Belastung hinzukommen. Eine solche seelische Herausforderung ist häufig der Eintritt in den Kindergarten. Nicht mehr zu reden ist ihre Art, sich der sozialen Situation zu entziehen, die sie überfordert.
Nicht jedes Kind, das an seinem ersten Kita- oder Schultag verstummt, leidet unter selektiven Mutismus. Ein gewisses Maß an Schüchternheit und Zurückhaltung ist in solchen neuen Situationen völlig normal und sinnvoll. Schließlich erzählen wir Eltern unseren Kindern regelmäßig, sich vor Fremden in Acht zu nehmen. Tritt das Schweigen nur wenige Wochen nach dem Kita-Start oder ähnlichen Situationen auf, ist es in der Regel ein Ausdruck von Trennungsangst. Dann ist von passagerem oder vorübergehendem Mutismus die Rede.
Spricht euer Kind aber auch nach Wochen oder Monaten noch nicht mit den Erzieherinnen und habt ihr auch sonst das Gefühl, dass es Fremden gegenüber kein Wort mehr sagt, könnte es sich um die selektive Form des Mutismus handeln. Während es zu Hause unbefangen plaudert, zieht es sich in Kita oder Schule in sich zurück und bleibt stumm.
Eine Diagnose wird erst gestellt, wenn ein Kind bereits über einen Monat verstummt ist und andere Gründe für die Sprachlosigkeit ausgeschlossen werden können.
Wie viele Kinder sind betroffen?
Es gibt sehr unterschiedliche Angaben zur Zahl mutistischer Kinder. Einige Quellen gehen von weniger als einem von 1.000 Kindern, andere von bis zu sieben von tausend Kindern aus. Mädchen sind nach neueren Studien eindeutig häufiger betroffen als Jungen. Auch die Frage, ob Fremdsprachigkeit als eine Erklärung für selektiven Mutismus gilt oder nicht, hat natürlich Auswirkungen auf die Zahl der Betroffenen.
Welche Symptome sind typisch?
Viele Wissenschaftler sehen im selektiven Mutismus die Unterform einer Angststörung wie z.B. einer sozialen Phobie. Andere Forscher halten die Symptomatik nicht für ein eigenständiges Krankheitsbild.
Nach dem WHO-Diagnoseklassifikationssystem ICD-10 gilt selektiver Mutismus als Verhaltensstörung und emotionale Störung mit Beginn in der Kindheit und Jugend (Ziffer F 94.0 und DSM-V). Die Selektivität des Sprechens ist nach dieser Klassifikation emotional bedingt.
Kennzeichnend ist, dass das Kind nur unter bestimmten Bedingungen spricht und in anderen schweigt. Dabei handelt es sich immer um dieselben Situationen. Bei einem Kind mit selektivem Mutismus wissen die Eltern also schon im Voraus, dass es in der Kita und beim Bäcker kein Wort sagen wird, zu Hause oder bei der besten Freundin im Kinderzimmer munter vor sich hinplappert.
Wenn es spricht, spricht es weitgehend normal. Die weitere Sprachentwicklung hängt davon ab, wie lange die Störung schon da ist, wie alt das Kind war, als es selektiv die Sprache verweigerte und wie viele Gelegenheiten es in vertrauten Umgebungen zum Sprechen nutzt.
Typisch ist, dass sich die Symptome zum ersten Mal im Kita- und Vorschulalter zeigen. Dass Kinder erst deutlich später verstummen, ist eher selten. Die Störung beginnt oft schleichend. Das zuvor bereits schüchterne, ängstliche oder gehemmte Kind spricht immer seltener und zieht sich weiter zurück. Manchmal wirkt es auch missmutig oder trotzig. Schließlich redet es nur noch mit ausgewählten Personen und in bestimmten Situationen. Häufig ist die Mutter seine Vertrauensperson. Sie wird nach und nach zum Sprachrohr für ihr Kind. Wie ein Dolmetscher bekommt Mama etwas zugeflüstert, was sie dann z.B. an die Erzieherin weitergibt.
Die Eltern erleben das Kind auch in anderer Hinsicht anders als seine Umwelt. Sind sie „draußen“ eher zurückhaltend und meiden den Blickkontakt, können mutistische Kinder zu Hause auch durch aggressives Verhalten auffallen.
Neben der Problematik des Mutismus selbst, zeigen die schweigenden Kinder häufig weitere Auffälligkeiten. Dazu gehören das Bettnässen und Einkoten, Depressionen, Stimmungsschwankungen oder die Angst, alleine zu schlafen.
Die Symptome im Überblick
Das Kind spricht nur in ausgewählten, mit der Zeit vorhersehbaren Situationen und mit bestimmten Menschen (oft zu Hause und mit einem oder beiden Elternteilen)
- In anderen sozialen Kontexten schweigt es trotz vorhandener Sprechfähigkeit.
- Es unterdrückt auch andere Laute (wie husten, lachen oder weinen).
- Es meidet Blickkontakt.
- Es wirkt schüchtern, gehemmt oder ängstlich.
- Seine Sprachentwicklung ist meist altersgerecht oder es gibt nur geringfügige sprachliche Auffälligkeiten.
- Das Verhalten wird länger als einen Monat beobachtet und bleibt nicht auf die Zeit nach dem Kita-Start oder der Einschulung beschränkt.
Wo gibt es Hilfe?
Wenn ihr Anzeichen feststellt, die zu dieser noch relativ unbekannten psychischen Störung passen, könnt ihr euch zunächst an euren Kinderarzt wenden. Falls notwendig, wird er euch an einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie überweisen. Erste Hilfe bieten auch Frühförderstellen oder die Sprachambulanz, die je nach Bundesland dem Gesundheitsamt oder anderen Behörden angegliedert ist.
Gibt es andere Gründe, warum ein Kind nicht mehr spricht?
Um die Diagnose selektiver Mutismus stellen zu können, ist es wichtig, andere Erkrankungen auszuschließen, die sich vielleicht im Alltag ganz ähnlich zeigen. Ein Sprachverlust kann auch die Folge sein von:
- Hirnorganischen Schäden (Tumor, Entzündung)
- Schwerhörigkeit
- Gehörlosigkeit
- Hörstummheit (Audimutitas). Eine Störung der Sprachentwicklung.
- Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wie Autismus.
- Erkrankungen, die zum Sprachverlust führen (Heller-Syndrom, Landau-Kleffner-Syndrom)
- Schizophrenie
Wie stellt der Arzt seine Diagnose?
Der Arzt wird also nicht nur fragen, wie lange das Kind schon nicht mehr spricht, in welchen Situationen es spricht und in welchen anderen Situationen nicht, mit wem es noch redet und ob die Eltern ein bestimmtes Ereignis mit dem Verstummen in Verbindung bringen können. Er wird auch körperliche Tests (z.B. Hörtest) durchführen, um andere Gründe für das Problem auszuschließen.
Wie wird selektiver Mutismus behandelt?
Eine Therapie muss individuell abgestimmt sein. Im Zentrum der Behandlung steht in der Regel eine Verhaltenstherapie (Psychotherapie). Hier lernt das mutistische Kind in einer geschützten Umgebung, Vertrauen zu einer ihm fremden Person (dem Therapeuten) aufzubauen und sich ihm kommunikativ anzunähern. Das kann zunächst spielerisch über den Einsatz von Gestik, Mimik und mit Hilfe von Spielzeug geschehen. Ziel ist es später, dass auch eine verbale Verständigung wieder angstfrei möglich wird.
Auch Kunst-, Musik- oder Bewegungstherapien arbeiten mit der gleichen Zielrichtung.
Ist der Mutimismus in der Kita zuerst aufgetreten, ist es wichtig, die dortigen Bezugspersonen in die Behandlung einzubeziehen.
Neben der Verhaltenstherapie können Eltern und Geschwister in einer Familientherapie oder einem Elterntraining einbezogen werden. Hier können familiäre Ursachen der Störung thematisiert und Hilfen für den Umgang mit dem betroffenen Kind vereinbart werden.
Eine medikamentöse Therapie mit Antidepressiva sollte nur als Ergänzung und nicht als einzige Maßnahmen in Erwägung gezogen werden.
Wie kann selektiver Mutismus geheilt werden?
Der Verlauf kann ganz unterschiedlich sein. Der Mutismus kann nach einigen Monaten wieder verschwinden, aber auch chronisch werden. Es gibt Fälle, in denen die Therapie gut anschlägt, die Kinder sich immer mehr zutrauen und später wieder ein normales Sprachverhalten zeigen. Andere überwinden ihr mutistisches Verhalten, haben aber trotz Behandlung auch im späteren Leben Probleme, mit anderen zu kommunizieren. Sie ziehen sich gerne zurück und haben auch weiterhin Angst vor sozialen Kontakten.
Je früher die Mutismus-Therapie einsetzt, desto besser sind die Heilungschancen.
Literatur:
Bahr, Reiner: Mutismus. Definitionen, neuere Klassifikationsversuche und verbreitete therapeutische Ansätze, in: L.O.G.O.S. interdisziplinär, 4, 1996, S. 4-14.
Subellok, Katja, Anja Starke: Selektiver Mutismus. Ein interdisziplinäres Phänomen, in: Deutsches Ärzteblatt, 10, 2015, 455ff.
Websites:
www.selektiver-mutismus.de
www.mutismus.de/mutismus/leitlinien-fuer-paedagogen