Die ersten indiskreten Nachfragen kamen, da war unser erstes Kind noch kein Jahr alt: "Na, jetzt gibt’s hoffentlich bald ein Geschwisterchen? So ein Einzelkind ist doch nicht schön." Ich weiß noch, wie mich das gestresst hat, obwohl wir tatsächlich gerne noch ein zweites Kind wollten. Aber erstens hatte ich das Gefühl, mein Baby doch grade erst geboren zu haben. Und zweitens stresste mich der Gedanke ungemein, das Leben meines Kindes sei quasi per Definition unvollständig und traurig, weil es eben ein Einzelkind war.
Vorurteile wie diese kennt meine Freundin Anna zur Genüge. Sie und ihr Mann haben nämlich einen wunderbaren Sohn. Und nach dessen Geburt mit dem Kinderkriegen aufgehört. Einfach, weil sie spürten: Wir sind komplett. Unsere Glückszahl ist die Eins. Mehr Kinder wollen wir nicht.
Eine völlig normale, unspektakuläre Entscheidung, könnte man meinen. Manche kriegen eben mehrere Kinder und andere nur eins. Doch das ist nicht, was Einzelkind-Eltern gespiegelt wird. Stattdessen ist unsere Gesellschaft so besessen von der Idee, ein Kind müsse unbedingt Geschwister haben, dass mit der Entscheidung für ein Einzelkind oft ein Erklärungs- und Rechtfertigungsmarathon beginnt, der seinesgleichen sucht. Ob in der Kinderarztpraxis oder in der Spielgruppe, überall fallen Eltern aus dem Rahmen, wo zwei bis drei Jahre nach dem ersten nicht das zweite Kind kommt. Was ist da los? Trennen die sich etwa?
Was steht dahinter?
"Als ich in einer Musikgruppe für Kleinkinder in der Vorstellungsrunde ganz fröhlich sagte, dass Marta Einzelkind ist und dass da auch kein Kind mehr kommen wird, blickte ich in lauter betretene Gesichter“, erzählte mir einmal eine junge Mutter, die ich bei einem Vortrag traf. "Man merkte richtig, wie die Leute überlegten, was für ein schweres Schicksal da wohl dahinterstünde: War meine Geburt so schlimm gewesen? War mein Mann schwer krank? Niemand schien sich vorstellen zu können, dass wir einfach gerne nur ein Kind haben."
Dass Einzelkinder und ihre Eltern bis heute so kritisch beäugt werden, erstaunt umso mehr angesichts ihrer schieren Anzahl: Mehr als drei Millionen Einzelkinder leben derzeit in Deutschland, was bedeutet, dass jedes vierte Kind ohne Geschwister aufwächst. Und es gibt keinen Hinweis darauf, dass das in irgendeiner Hinsicht problematisch wäre. Wissenschaftlich ist längst klar belegt: Geschwister zu haben, ist für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern weder notwendig noch unbedingt hilfreich. Einzelkinder sind weder egoistischer noch weniger sozialkompetent als Geschwisterkinder und auch nicht unselbstständiger oder schlechter in der Lage zu teilen.
Trotzdem hält sich hartnäckig das Klischee des so verwöhnten wie traurigen Einzelkindes, dem eine der wichtigsten Kindheitserfahrungen vorenthalten wird. So las ich etwa während meiner zweiten Schwangerschaft in einem Schweizer Mamablog, mindestens zwei Kinder zu bekommen sei schon deswegen wichtig, weil ein Einzelkind oft wie ein besonders exotisches und pflegebedürftiges Haustier (!) wirke – eine Aussage, die ich so unsäglich finde, dass ich mich über zehn Jahre später immer noch darüber aufrege. Als Mutter von vier Kindern wohlgemerkt.
Der gesellschaftliche Druck
Denn ja: Auch ich habe pünktlich zweieinhalb Jahre nach der Geburt meines ersten Babys mein zweites Kind bekommen. Und bin sehr glücklich darüber. Worüber ich allerdings nicht glücklich bin, ist der gesellschaftliche Druck, der dazu beitrug, dass ich als junge Mutter das Gefühl hatte, bloß nicht den richtigen Zeitpunkt fürs zweite Kind verpassen zu dürfen.
Ich weiß noch, wie ich damals sogar ein Fachbuch zum Thema las. Darin stand, ich sollte möglichst vor dem zweiten Geburtstag meines ersten Kindes wieder schwanger sein, und auf keinen Fall erst nach sechs Jahren. Dann wüchsen meine Kinder nämlich wie zwei Einzelkinder auf, und das könne ja keiner wollen.
Da ist es wieder: das Vorurteil des armen Einzelkindes. Was hat mich das unter Druck gesetzt! Und was stresst dieser Unsinn immer noch Eltern, die sich gerade daran gewöhnen, ein Kind zu haben – und dann direkt Auskunft geben sollen, wann das nächste kommt. Als ob das immer so planbar wäre, so möglich und einfach machbar. Und: als ob das immer so sinnvoll wäre. Denn ganz ehrlich: Für viele Familien wird mit dem zweiten Kind erst mal alles schwerer. Und klar, der Lohn dafür kann am Ende eine große Geschwisterliebe sein. Muss aber nicht.
Für mich gibt es deshalb nur einen einzigen wirklich guten Grund, noch ein Kind zu bekommen. Nicht, weil es die Gesellschaft erwartet. Nicht, weil man das eigene Kind nicht ohne Spielkameraden aufwachsen lassen will. Und erst recht nicht aus der Angst heraus, das eigene Kind könnte irgendwie unterentwickelt bleiben, weil es ein Einzelkind ist. Nein: Der einzig gute Grund, ein Kind zu bekommen, ist, weil man es sich von Herzen wünscht. Das gilt beim zweiten Kind genauso wie beim ersten. Und bei allen anderen Kindern auch.
Nora Imlau schreibt als freie Autorin für ELTERN, sie hat einen erfolgreichen Blog (nora-imlau.de) und viel Erfolg mit Bestsellern wie "So viel Freude, so viel Wut", Kösel, 20 Euro, oder "Mein Familienkompass", Ullstein, 22,99 Euro.