Für viele ist es kaum vorstellbar, blind mit Kind zu sein. Verständlich, blinde Elternschaft ist den meisten fremd. Doch wie heißt es so schön: "Man wächst an den Herausforderungen!", genau das ist die Lebenseinstellung der 39-jährigen Hannah Reuter. Mit ihrem blinden Mann, ihrer siebenjährigen Tochter und ihrem Blindenführhund leben sie in Berlin. Weil ihr bereits so viele Fragen gestellt wurden, wie sie den Familienalltag meistern und ihnen leider auch viele Vorurteile begegnet sind, hat sie ihre persönlichen Erfahrungen in dem Buch "Blind mit Kind" zusammengetragen. Dazu durften wir im ELTERN-Interview der promovierten Sprach- und Kulturwissenschaftlerin spannende Fragen stellen …
Interview: Blind mit Kind – wenn Mama und Papa nicht sehen können
ELTERN.de: Liebe Hannah Reuter, wie ist es, Mutter und blind zu sein?
Hannah Reuter: Meistens toll, bereichernd und erfüllend. Manchmal aber auch herausfordernd oder sogar ein bisschen nervenaufreibend – wie bei sehenden Eltern auch. In erster Linie ist es "normal" für mich und eigentlich nicht der Rede wert!
Dein Mann ist auch blind. Wünschst du dir manchmal, dass er sehen könnte?
Nein, mit Blick auf unsere Beziehung ist es wunderbar, weil sie so immer auf Augenhöhe bleibt (lacht). Ist ein Elternteil sehend, kann ganz leicht eine gewisse Schieflage entstehen. Wir beide leben mit ähnlichen Voraussetzungen und Herausforderungen, wobei ich den Vorteil habe, dass ich immer schon mit meiner Beeinträchtigung lebe, während mein Mann spät erblindet ist und sich erst in die Situation einfinden musste.
Im Gegensatz zu dir und deinem Mann kann eure Tochter sehen. Wie fühlt es sich an, dass sie Dinge anders erlebt?
Unsere Tochter ist in den Alltag mit zwei blinden Eltern reingewachsen und hat sich unserer Art der Wahrnehmung angepasst: "Guck mal!", hieß bei uns einfach immer "Fass mal an!". Jetzt ist sie in der Schule und von vielen Sehenden umgeben. Ihre Art der Wahrnehmung hat sich ein bisschen verschoben. Manchmal sagt sie automatisch "Guck mal, was ich mache!", und gestikuliert, anstatt meine Hand zu nehmen und mich fühlen zu lassen. Dass sie die Welt generell ein bisschen anders wahrnimmt als wir, finde ich interessant: So haben wir viel Redestoff.
Was für Gedanken hattest du, als du erfahren hast, dass du Mutter wirst?
Zuallererst habe ich mir Alltagssituationen ausgemalt. Ich habe mir vorgestellt, wie es sein würde, blind zu wickeln oder blind mit Kind im Straßenverkehr zu navigieren. Dazu habe ich mir schnell Rat bei anderen blinden Müttern gesucht und mir gesagt: "Ich wachse an meinen Herausforderungen!" Dass mein eigentliches Problem später eher der Umgang mit dem sehenden Umfeld beziehungsweise die Reaktion der Gesellschaft auf meine Mutterschaft sein würde, habe ich absolut nicht geahnt!
Was sind besondere Herausforderungen im Alltag?
Im Bereich Baby-/Kinderpflege geht das meiste wirklich gut. Wer ohne Kind blind sein Leben mit allen Facetten gemeistert hat, wird das auch mit Kind schaffen. Natürlich gibt es Schwierigkeiten: vom Fingernägel schneiden und Brei füttern über die Orientierung auf unbekannten Spielplätzen bis hin zum Leisten von Erster Hilfe, bei den vielen kleinen Unfällen im Kinderalltag.
Was sind Herausforderungen bei älteren Kindern?
Malen, Basteln und Hausaufgabenbetreuung sind oft nicht leicht. Da muss ich mit Tricks und Hilfsmitteln arbeiten. Manches geht nur eingeschränkt oder gar nicht. Puzzlen ging im Anfangsstadium wunderbar, dank gut tastbarer großer Holzteile, danach nur mit Hilfe des Farberkennungsgeräts (Mama als Vorsortiermaschine). Später ging es gar nicht mehr, weil sich alle Teile für mich gleich anfühlten.
Gab es schon mal eine heikle Situation?
Meine Tochter war gerade in der Trotzphase und im herannahenden Gewitter rannte meine zweijährige Tochter auf den Spielplatz, was ich verboten hatte. Schwups, weg war sie – ich hörte nur den Donner und fühlte mich total hilflos. Aber wir haben beide viel daraus gelernt, denn auch Zweijährige stehen nicht gern allein im Regen.
Nach dem dritten verzweifelten "Mama" konnte ich sie orten. Das Thema Wegrennen war für immer erledigt. Das ist übrigens etwas, was ich auch bei den Kindern anderer blinder Eltern beobachte. Die wissen sehr genau, dass ihnen im Ernstfall niemand hinterherrennt.
Apropos andere Eltern … zwar sorgen sich alle um ihren Nachwuchs, aber macht ihr euch häufiger Sorgen, weil ihr euer Kind nicht sehen könnt?
Ehrlich gesagt glaube ich, dass ich mir sogar weniger Sorgen mache als viele andere. Ich bin von Natur aus kein ängstlicher Mensch, denke aber, dass blinde Eltern insgesamt eine größere Portion Vertrauen in ihr Kind und in die Welt brauchen. Ohne Vertrauen geht es einfach nicht! Rennt mein Kind wirklich nicht auf die Straße? Fällt es gleich vom Klettergerüst? Weiß ich natürlich nicht, aber eines weiß ich ganz sicher:
Also würdest du euch nicht als übervorsichtig bezeichnen?
Nein, Helikoptereltern sein zu wollen, ist von Beginn an zum Scheitern verurteilt, denn wir können unser Kind nicht in dem Maße "kontrollieren" wie sehende Eltern. Ich versuche Regeln, Risiken und Möglichkeiten gut zu kommunizieren, dem Kind Hilfe zur Selbsthilfe beizubringen und einfach loszulassen! Natürlich nicht das Baby auf dem Wickeltisch – beim Umgang mit Babys und Kleinkindern gilt für blinde Eltern ganz klar: Immer eine Hand am Kind haben.
In welchen Situationen bist du auf Hilfe angewiesen?
In dem Bereich nicht barrierefreier Papierkram und Unterrichtsmaterialien benötige ich ab und zu Hilfe. Da steigt der beste Scanner irgendwann aus und sehende Unterstützung – in solchen Fällen ist die Oma nebenan Gold wert!
Im Freizeitbereich! Ich bin zwar mobil und habe dank meiner Hündin eine sehende Begleitung, aber bei Outdooraktivitäten ist eine Assistenz – ob professionell oder aus dem Familien- und Freundeskreis – oft eine Erleichterung, manchmal sogar notwendig. Zum Beispiel beim Fahrradfahrenüben.
Hast du manchmal auch Orientierungsschwierigkeiten bei Ausflügen?
Ja, ein Zoobesuch ist orientierungstechnisch eine andere Herausforderung und kann für das Kind langweilig sein, wenn Mama nicht mitreden kann, was es zu sehen gibt.
Welches Ausflugsziel würdest du niemals allein mit deinem Kind besuchen?
Ich würde nicht in ein überfülltes Strandbad gehen! Überall Bodenhindernisse – von Handtüchern über dösende Erwachsene bis hin zu buddelnden Kindern. All das bei einer orientierungsunfreundlichen Geräuschkulisse. Zudem könnte ich meine Hand aus Sicherheitsgründen nie von meinem planschenden Kleinkind nehmen. Viel entspannter ist es hingegen mit einer Freundin am See, die alles im Blick hat!
Welche Vorurteile kannst du nicht mehr hören?
Oh, da gibt es viele! Vor allem, dass wir arme Menschen seien und man Mitleid mit uns hat, weil es so anstrengend sein muss, als blinde Mutter. Viele Menschen glauben, unsere Tochter müsse sich um ihre hilfsbedürftigen Eltern kümmern. Sie gehen ernsthaft davon aus, dass wir nicht kochen und nicht Wäsche waschen können und keinen Weg ohne unser "Führkind" bewältigen.
Unsere Tochter darf gerne helfen, schnell die Busnummer vorlesen oder auch im Supermarkt den richtigen Joghurt schnappen, aber sie muss nie helfen. Sie ist unser Kind und keine Haushalts- oder Mobilitätshilfe. Oft werden Entwicklungsdefizite bei unserer Tochter angesprochen, automatisch aufgrund unserer Blindheit! "Das Kind kann nicht mit Besteck essen, weil die Eltern das nicht kontrollieren können" oder "Das Kind bekommt keine Unterstützung beim Lesen".
Was wünscht du dir für eine inklusivere Gesellschaft?
Mehr für blinde Menschen adaptierte Gesellschaftsspiele und inklusive Kinderbücher (mit Schwarz- und Kurzschrift und taktilen Bildern). Aus tiefstem Herzen würde ich mir wünschen, dass blinde Elternschaft "normal" wird. Es ist nie verkehrt, zu fragen, wie das alles funktioniert, denn welcher sehende Mensch hat schon Ahnung von sprechenden Küchengeräten, Tropfen-Dosierhilfen oder Farberkennungsgeräten. Zu schaffen machen mir die hartnäckigen Vorannahmen, die einfach nicht aus den Köpfen wollen.
Magst du von einer Situation erzählen?
Vier Monate nach der Geburt stand bei uns das Jugendamt auf der Matte. Wir hatten plötzlich eine Akte – nur, weil wir beide blind sind. Klar, besser das Jugendamt kontrolliert einmal zu viel als zu wenig, aber das sagt schon etwas über das Bild von blinden Menschen in unserer Gesellschaft aus! Ich hoffe sehr, dass ich dieses Bild mit meinem Buch – und auch mit diesem Interview – umgestalten kann!
