Familienleben kann ziemlich philosophisch sein. Das Kind in unserem Leben bringt uns zum Nachdenken. Etwa dann, wenn es in aller Ruhe seine Gummistiefel, einen nach dem anderen, wieder auszieht – während wir im Mantel, seine Brotzeitdose in der Hand, an der offenen Tür ungeduldig von einem Fuß auf den anderen treten. Was ist Zeit?
Ist sie ein Pfeil, auf dem du dich vorwärts bewegst? Oder ist sie ein Punkt, an dem du stillstehst? Das hängt ganz davon ab, ob du 34 bist. Oder zweieinhalb. Ob du das Kind in der Kita abzuliefern hast und dann den Bus zur Arbeit erwischen musst. Oder ob du Lust hast, deine Gummistiefel, Größe 25, an diesem Morgen doch verkehrt herum anzuziehen.
Erwachsene sind, wenn sie etwas erledigen, mit ihren Gedanken oft schon beim nächsten Tagesordnungspunkt. Kinder planen nicht, sie leben im Moment. Egal, ob es der schöne Moment ist, in dem sie mit der Schaukel in den Himmel fliegen. Oder der schreckliche Moment, den sie brüllend vor dem verweigerten Schokoriegel im Biomarkt verbringen. Kinder leben im Jetzt, so oder so, glücklich, trödelnd, hüpfend, schimpfend, träumend. In zehn Minuten, heute Abend, übermorgen – wann soll das sein? Zeit spielt keine Rolle.
Trotzdem haben auch Kleine durchaus eine Vorstellung davon, wie sie abläuft. Schon sechs Monate alte Babys folgen einem inneren Skript, sagen Entwicklungsforscher. Sie mögen Vertrautes, Wiederholungen. Es beginnt im Mutterleib, wenn das Ungeborene das Herz seiner Mutter schlagen hört.
Babys zeigen ihre Erwartungen deutlich
Später erkennen Babys bekannte Abläufe wieder. Papa beugt sich lächelnd über mein Bett, küsst mich auf die Nase, gleich werde ich hochgehoben. Ihre Erwartung zeigen Kleine deutlich. Sie strampeln aufgeregt, fuchteln mit den Händchen, strahlen bis über beide Backen. Wenn, dann. Auf eine Aktion folgt die nächste. Das abstrakte Ding Zeit spielt für Kinder zunächst eine Rolle als vertrautes Ritual.
Studien zeigen, dass schon Dreijährige Zeitabläufe planen können, wenn diese mit guten Gefühlen verknüpft sind. Noch drei Kerzen auf dem Kalender durchstreichen, dann ist Geburtstag. Am Kita-Turntag holt immer Oma mich ab. Es ist ein langsamer Lernprozess, erst ältere Grundschulkinder können verstehen, dass 15 Uhr früher ist als 17 Uhr. Vorfreude trägt zu diesem Lernprozess bei.
Und dann ist da noch die Sache mit dem Flow. Das ist dieser begehrte Zustand, in dem wir eins sind mit dem, was wir tun. Weil Eltern sehr oft viele Dinge gleichzeitig erledigen müssen, erwischen sie den Flow-Punkt nur schwer. Zoomkonferenz vorbereiten, der Kita-Whatsappgruppe folgen, schon mal Suppe aufsetzen fürs Abendessen. Multitasking ist der natürliche Feind des Flow.
Kinder sind Beobachter im Hier und Jetzt
Kinder dagegen sind naturbegabte Flower. Sie beobachten geduldig, vergessen dabei die Welt um sich herum. Sie wiederholen, was ihnen Spaß macht, immer und immer wieder. Die gaaaanz langsam wachsende Schleimspur der Nacktschnecke auf ihrem Weg zur Schaukel, sehr interessant! Mehr als das Hier und Jetzt brauchen sie nicht für das wunderbare Gefühl, bei sich zu sein. Ich füttere meinen Plüschpingu mit unsichtbarer Suppe, also bin ich. Ich sehe zu, wie die Regentropfen die Fensterscheibe entlang tropfen, also bin ich.
Aber dann will Uschi aus der Kita, dass alle sich ruckizucki zum Mittagessen versammeln. Oder Papa erinnert an die Sandalen, er möchte los zum Supermarkt. Und schon ist es vorbei mit dem Ich-bin-ganz-bei-mir.
Straffe erwachsene Zeitplanung und kindliche Versunkenheit widersprechen sich. Könnte es auch anders gehen? Hätten wir, die Erwachsenen, nicht sehr oft mehr Spielraum, wenn wir uns nicht (aus Gewohnheit?) andauernd selber hetzen würden? Manchmal geht es ja nur um die paar Minuten, die der Zweijährige braucht, um vor dem Zähneputzen noch schnell die Bauklötze im Puppenbett zu verstauen. Wären die nicht drin?
Eltern sollten sich zeitlich nicht nach ihren Kindern richten
Erwachsene sollen sich nicht nur nach Kindern und deren Takt richten. Geht ja auch gar nicht. Der Alltag muss gewuppt werden, und manchmal sind sieben Minuten dann eben zu lang – die S-Bahn wartet nicht. Und ja, auch die begabtesten kleinen Trödler müssen lernen, dass andere Menschen andere wichtige Pläne haben.
Aber die ständige Eile, das ganze Gehetze. Manchmal würde doch auch die langsamere Lösung funktionieren. Das Kind flowt auf dem Sofa so vor sich hin. Mama drängelt, das Play-Kaffee-Date mit der Mutter aus der Kita beginnt in zwanzig Minuten. Sie kann das motzende Kind vom Sofa holen, es gegen seinen Willen in die Jacke stecken. Sie könnte aber auch abwarten, bis es freiwillig vom Sofa klettert und gut gelaunt zum Aufzug hüpft. In der Viertelstunde, die das dauert, könnte sie eine Textnachricht schreiben: Tut mir leid, wird etwas später, Kind trödelt. Es besteht die große Möglichkeit, dass zwei Emojis zurückkommen: Eines, das grinst, und eines, das mit den Augen rollt. Kinder und Zeit, die Sache mit dem Pfeil und dem Punkt. Ein philosophisches Thema, mit dem Eltern sich auskennen. Nicht nur theoretisch.
Warten war und ist nicht die Stärke von Sabine Maus. Wenn sie sich dazu zwang, wurde sie mit gut gelaunten Söhnen belohnt.