Artikelinhalt
Zoo oder Schwimmbad? Leon oder Paula? Das Leben steckt voller Entscheidungen – sie zu treffen muss man erst lernen. Vom Kleinkind bis zum Teenager, so gelingt die Balance aus klaren Regeln und Wahlfreiheit.
Ab 3 Jahren: Jetzt entscheide dich mal!
Für Kitakinder eine echte Challenge. Wie können wir ihnen dabei helfen?
Eins gleich vorweg: Kinder kommen nicht als die großen Entscheider zur Welt. Das Motto "Viel hilft viel" bewirkt bei ihnen eher das Gegenteil. Um sich sicher zu fühlen, brauchen gerade die Kleinen noch einen Schutzraum aus klaren Regeln und Ansagen. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass wir für sie die richtigen Entscheidungen treffen. Egal, ob es ums Zähneputzen geht oder darum, im Winter eine Jacke anzuziehen – noch können sie die Folgen ihrer Entscheidungen nicht absehen. Fehlt ihnen diese Sicherheit, weil Eltern bewusst oder unbewusst die Verantwortung an sie abgeben, sind Kinder überfordert. Chaos ist vorprogrammiert.
Üben, üben, üben
Aber natürlich wollen auch Kitakinder schon mitentscheiden. Gut so. Jede Entscheidung bringt ein Stück mehr Lebenserfahrung, stärkt Selbstbewusstsein und Verantwortungsgefühl. Und: Wer nicht übt, sich auf eine Sache festzulegen, lernt es nie. "Oder doch lieber das kleine Schwarze, Schatz?" Für den Anfang sollte es aber um Entscheidungen gehen, bei denen keine negativen Folgen zu befürchten sind. Eine Diskussion, ob die grünen oder blauen Schuhe besser zum Outfit passen, ist also drin, eine über Sandalen im Winter nicht. Das Gute ist: Haben Kinder im Kleinen die Wahl, kommen sie besser damit klar, dass größere Entscheidungen auch von den Großen getroffen werden und nicht nach ihrem Kopf gehen können. "Nein, wir lassen die Kita heute nicht sausen, Mama muss arbeiten."
Nicht zu viele Optionen
Unsere schwierige Aufgabe ist also zu überlegen, bei welchen Fragen das Kind seine Entscheidungsfähigkeit trainieren darf. Dabei setzt schon das Alter beziehungsweise der jeweilige Entwicklungsstand Grenzen. Wer eine Dreijährige fragt, wie was sie am Sonntag machen möchte, überfordert sie. Sie kann noch nicht einschätzen, welche Möglichkeiten es gibt und was ihr am meisten Spaß machen würde. Leichter wird es, wenn wir die Auswahl auf zwei Dinge beschränken, die wir idealerweise sogar zeigen können: "Möchtest du eine Banane oder diesen Joghurt hier?" Und, by the way: Wer sein Kind nach Banane oder Schoki fragt, ist selbst schuld und muss mit der Entscheidung klarkommen. Alles andere wäre fies.
Kleine Erleichterungen
Was Entscheidungen für Kinder auch schwer macht: das Gefühl, durch die Wahl des einen etwas anderes zu verlieren. Leichter geht es, wenn sie sich die zweitleckerste Süßigkeit oder das Vize-Lieblingsbuch für den nächsten Tag aufheben können. Auch unausgeschlafene oder hungrige Kinder sollte man nicht mit Entscheidungen quälen. Denn nach müde kommt doof. Um Stress zu vermeiden also lieber die Klamottenfrage schon am Vortag klären. Das gilt übrigens auch im Erwachsenenleben – etwa für die Frage nach dem kleinen Schwarzen.
Wie viel Freiheit in der Kita?
"Studien zeigen, dass Kinder gut damit klarkommen, wenn der Tagesablauf in der Kita nicht vorgeben wird. Ob sie dadurch lernen, Entscheidungen zu treffen, ist aber fraglich. Meist entscheiden ältere oder mächtigere Kinder für sie mit." Prof. Tilmann Betsch, Uni Erfurt.
Ab 8 Jahren: Welche Schule? Welches Hobby?
Zwei Familien, zwei Entscheidungen. Prof. Tilmann Betsch, Psychologe an der Uni Erfurt, kommentiert:
Schulwahl: Janie und das Gymnasium
Mareike, Mutter von Janie (inzwischen 13): "Janie hatte in der Grundschule nur Einser und Zweier. Ich hatte fest mit einer Gymnasialempfehlung gerechnet, aber ihre Lehrerin sah das anders: Auf der Realschule bräuchte sie sich nicht so anzustrengen und könne mit ihren Freundinnen zusammenbleiben. Wir haben ihr das zuerst gar nicht erzählt. Nach den Tagen der offenen Tür war klar: Janie will aufs Gymnasium. Als ich sagte, dass sie ihre Freundinnen dann nicht mehr so oft sehen würde, meinte sie, sie könne ja neue finden. Ich dachte: Wenn sie das so will, machen wir das. Es fühlte sich komisch an, gegen die Lehrerin zu entscheiden, war aber richtig. Ihre neuen Lehrer sagen, Janie passe perfekt in diese Schule und komme gut mit – und so ist es bis heute."
Prof. Betsch: "Freut mich, dass es bei Janie funktioniert hat. Es kann auch danebengehen, wenn Eltern die Empfehlung der Schule nicht berücksichtigen. Weder sie noch die Kinder sind in der Lage, das rational zu entscheiden. Eigentlich können Grundschulkinder schon sehr gut Entscheidungen treffen, das zeigen unsere Studien. Sie können viele Informationen und sogar komplexe Entscheidungen händeln. Schwierig wird es, wenn sie – wie in diesem Fall – Umwelten beurteilen sollen, in denen sie noch keine Erfahrung haben. Es fällt ihnen schwer, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Die Entscheidung der Eltern ist aber oft genauso irrational. Sie wissen ja nicht, welche Lehrer ihr Kind bekommt oder wie es sich entwickeln wird. Wichtiger aber ist: Man muss mit der Entscheidung leben. Es war genau richtig, Janies Meinung ernst zu nehmen, sonst hätte sie später vielleicht alle Probleme auf ihre Eltern geschoben."
Hobbywahl: Jonas und der Fußball
Andreas, Vater von Jonas, 10: "Jonas ging schon mit fünf zum Fußball, gab aber mit sechs wieder auf – da half kein Reden. Mit neun wollte er unbedingt wieder einsteigen, obwohl wir zu bedenken gaben, dass die anderen ja nun schon viel besser spielten als er. Es kam, wie es kommen musste: Nach ein paar Wochen flog er aus der Mannschaft und weinte einen ganzen Abend. Hätten wir ihn vor der Niederlage schützen müssen? Immerhin hat er gelernt, dass man nicht so schnell aufgeben sollte. Das Happy End: Jonas spielt jetzt in einem weniger anspruchsvollen Verein und ist glücklich."
Prof. Betsch: "Bei der Hobbywahl geht es darum, in seiner Freizeit Spaß zu haben. Warum sollten sich Eltern da einmischen? Das fände ich fast übergriffig; außer man kann es sich nicht leisten, dann kann man mit seinem Kind darüber reden. Jonas’ Eltern haben alles richtig gemacht. Sie haben ihm die Chance gegeben, sich auszuprobieren, und ihn dabei begleitet. Kinder müssen ihre eigenen Erfahrungen machen. Dazu kann auch die Einsicht gehören: Ich bin nicht der Fußballcrack, für den ich mich gehalten habe."
Wie geht es weiter?
Hier entscheiden die Leser:
• Fabian Lenk: "1000 Gefahren junior", Ravensburger, je 6 bis 9 Euro
• "Die drei ??? Kids und du", Kosmos, je 9 Euro
• "Die drei !!! Geheimbuch", Kosmos, je 13 Euro
Ab 12 Jahren: Wer bin ich und was will ich?
In einer offenen Gesellschaft müssen Jugendliche viel mehr entscheiden. Nicht ganz leicht für Pubertierende, findet Dr. Jakob Hein, Kinder- und Jugendpsychiater und Schriftsteller. Im Interview beantwortet er, wie wir unsere Teenies unterstützen können.
Eltern: Zehn Sorten Butter im Supermarkt überfordern uns alle. Leiden auch Teenies unter dem, was Psychologen "Tyrannei der Wahl" nennen?
Dr. Jakob Hein: Absolut. Sie müssen heute viel mehr Entscheidungen treffen. Das Spektrum, aus dem sie entscheiden dürfen, ist viel breiter, weil bestimmte Gewissheiten fehlen. Früher war zum Beispiel klar: Wenn du so oder so aussiehst, dann bist du ein Junge, wirst später mal eine Frau heiraten und Kinder kriegen. Heute muss ich überlegen: Fühle ich mich als Junge oder Mädchen, und was bedeutet das? Das ist zwar interessanter, aber auch eine Herausforderung.
Wie reagieren Jugendliche, wenn sie das überfordert?
Sie haben dann das Gefühl, gar nichts mehr entscheiden zu wollen. Ich glaube, wir kennen alle das Gefühl, dass wir uns nur noch unter die Decke kuscheln und von Mama eine Geschichte hören möchten. Gut, wenn Eltern dann signalisieren, dass sie ein offenes Ohr für ihre Nöte haben und bereit sind zu helfen, wo Hilfe gewünscht wird.
In einem Artikel zur Coronaimpfung für "Die Zeit" haben Sie vor einiger Zeit geschrieben "Lasst die Kinder entscheiden". Das klang, als würden Eltern eher zu viel für ihre Kinder entscheiden …
Es gibt die traditionelle Haltung: Erwachsene wissen Sachen besser und entscheiden für ihre Kinder. Wir haben ja auch jahrelang vernünftige, weitsichtige Entscheidungen für sie getroffen. Da kommt man manchmal schwer wieder raus. Wir müssen aber lernen, Entscheidungen mit unseren pubertierenden Kindern zu teilen und sie teilweise auch abzugeben.
Worüber sollten Jugendliche auf jeden Fall selbst entscheiden?
Ich würde sehr genau zuhören, was sie zum Thema Schulbildung zu sagen haben und sie über Klamotten und Freunde selbst entscheiden lassen. Wer überzeugt ist, dass er sein Kind gut und vernünftig erzogen hat, kann davon ausgehen, dass auch ihre Freunde eine gute, sinnvolle Wahl eines klugen Menschen sind.
Wenn sich mein Sohn einen Freund aussuchen würde, der nur noch kifft und zockt, hätte ich daran meine Zweifel.
Mag sein. Die Frage ist: Können Sie das entscheiden? Entscheiden hat ja etwas von bestimmen – und daran glaube ich nicht so sehr. Vielleicht wäre es besser, ihren Sohn zu überzeugen. Es wäre ja schon interessant, was er an seinem neuen Freund so attraktiv findet.
Eltern sollten also ihre Kinder beraten, damit sie die richtigen Entscheidungen treffen?
Genau. Die Zeit zwischen 12 und 18 ist ja relativ kurz. Dann sind sie volljährig und dürfen ohnehin entscheiden. Wenn wir unseren Kindern nie gezeigt haben, wie man so etwas macht, können wir später auch nicht sauer sein, wenn sie falsche Entscheidungen treffen. Eltern brauchen einen kleinen Masterplan: Wie wollen wir unser Kind an diese komplexen Dinge heranführen, damit es später selbst gute Entscheidungen trifft? Sonst kann es passieren, dass es die falschen Leute für sich entscheiden lässt, weil es gewohnt ist, dass andere seine Entscheidungen treffen.
Wie Entscheide ich mich richtig?
Infos für Teenies zu Themen wie Alkohol, Medienkompetenz und Sex gibt es unter: www.feel-ok.ch