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Zwischen drei und fünf Jahren entdecken Kinder das magische Denken: in ihrer Vorstellung ist nun alles möglich. Dabei unterscheiden sie nicht zwischen echter Welt und Fantasie wie wir Erwachsenen, sondern erleben die magische Logik als Teil ihrer Realität. Diese magische Phase endet meistens mit dem Schuleintritt, kann sich aber auch länger hinziehen. Laut dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget durchläuft jedes Kind diese Phase der Magie – die einen mehr, die anderen weniger stark ausgeprägt.
Warum Kinder das tun, diese Frage beschäftigt die Wissenschaft seit langer Zeit. Und während die kindliche Fantasie früher aus entwicklungspsychologischer Perspektive als nutzlos angesehen wurde, misst man ihr heute eine wichtige Bedeutung bei.
Die Kraft der Fantasie
So zeigen verschiedene Studien, dass sich kleine Kinder mittels ihrer Fantasie die reale Welt erschließen. Klingt zunächst paradox, leuchtet dann aber doch ein: Erst in der Abgrenzung zum Magischen und Unmöglichen kann die Realität mitsamt ihrer Grenzen vollständig erfasst werden. Außerdem kann die Fiktion die kognitive Entwicklung fördern sowie zu neuen Einsichten und Lösungen verhelfen: Indem ein Kind sich der Fantasie hingibt, schult es die Fähigkeit zu unkonventionellem und lösungsorientiertem Denken.
Und dann ist da noch die Sache mit der Empathie: Die Fähigkeit, sich in andere Menschen und ihre Gefühlswelt hineinversetzen zu können. Die Psychologie beschreibt diese menschliche Fähigkeit als Theory of Mind – die Grundlage für soziale Kompetenz und für ein stabiles Miteinander. Der Grundstein für diese Fähigkeit wird bereits in der frühen Kindheit gelegt und Studien weisen darauf hin, dass eine ausgeprägt kindliche Fantasie die Ausprägung der Theory of Mind fördert. Kurz gesagt: Kinder, die an Feen und andere Fantasiewesen glauben, sind empathischer.
Fantasiewesen als Kinderschreck? Bitte nicht!
So weit, so gut – die Fantasie ist wichtig, beeinflusst die Persönlichkeitsentwicklung und scheint Kindern beim Lernen zu helfen. Aber was bedeutet das für unsere Ausgangsfrage: Können Kinder ihre magische Phase nicht auch ausleben, ohne dass wir Eltern dafür den Osterhasen spielen? Die Antwort ist ein klares: "Jein".
Ungünstig wäre es, jede fantasievolle Äußerung der Kleinen zu widerlegen und mit einem "So ein Quatsch, das gibt es gar nicht" abzutun. Das würde die kindliche Fantasie im Keim ersticken und Rollenspiele, Tagträume oder magische Erzählungen schnell ausbremsen. Stattdessen dürfen Eltern mitspielen und die Fantasie ihrer Kinder ernst nehmen.
Vielleicht habt ihr euch diese Frage auch schon gestellt, während ihr abends heimlich in die Rolle der Zahnfee geschlüpft und den ausgefallenen Zahn gegen eine kleine Überraschung eingetauscht habt. Aber eine Lüge ist das streng genommen nicht: Dass andere Menschen über die Welt nicht genauso denken wie sie selbst, begreifen Kinder nämlich ohnehin erst ab einem Alter von etwa dreieinhalb Jahren. Und wenn die Kleinen von sich aus dran glauben, dürfen wir als Eltern Magie-Helfer:innen sein.
Andererseits können Fantasiewesen aber auch Ängste auslösen, die für die Kleinen eine reale Bedrohung darstellen. Ein Ausnutzen der Fantasiewesen zu erzieherischen Zwecken ist daher definitiv nicht zu empfehlen – auch wenn es wirkungsvoll ist. Vermeidet daher Aussagen wie: "Wenn du keine Zähne putzt, kommt die Zahnfee nicht" oder "Der Weihnachtsmann kommt mit der Rute, wenn du nicht brav bist". Denn eure Kinder nehmen diese harmlos gemeinten Sätze sehr ernst und können echte Ängste entwickeln – für sie ist das ganze eben keine bloße Fantasie, sondern ganz real. Damit nutzt ihr das magische Denken eurer Kinder aus und erzeugt eine Atmosphäre der Angst.
Also: Mitspielen ist erlaubt und erwünscht, aber als Mittel zur Drohung taugen die Fantasiewesen nicht.
Dem Zauber entwachsen
Und wenn die Kinder fragen? Dann können Eltern guten Gewissens mit der Wahrheit rausrücken. Mutmaßlich sind die Kleinen der Sache schon selbst auf die Schliche gekommen und haben erkannt: So ganz logisch ist die Sache mit dem Kamin und dem Weihnachtsmann nicht. Das zeigt, dass sie zunehmend zwischen Realität und Fantasie unterscheiden können und sich langsam aus der magischen Phase verabschieden.
Nur um der Tradition willen weiterhin auf die Existenz des Weihnachtsmannes zu bestehen, wäre also irgendwie schon eine Lüge. Und vermutlich wäre die auch schnell durchschaut. Böse sind die Kleinen uns übrigens nicht, wenn wir die Wahrheit offenbaren: Studien haben gezeigt, dass eher die Eltern als die Kinder traurig sind, wenn diese Phase vorübergeht.