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Sprachentwicklung Muss mein Kind zur Sprachtherapie?

Dein Kind spricht noch nicht „richtig“? Es ist gut, nicht gleich nervös zu werden. Denn nicht alle Kinder funktionieren wie ein Schweizer Uhrwerk. Aber es gibt auch Auffälligkeiten bei der Sprachentwicklung, bei denen die frühe Hilfe wichtig ist. Wann ist das der Fall? Was können Eltern zu Hause unterstützend machen? Dazu haben wir die Atem-Stimm- und Sprachtherapeutin Viola Wilde aus Bargteheide, Schleswig-Holstein interviewt.

Wann sollten Eltern, deren Kinder nicht „nach Plan“ sprechen, zum Kinderarzt gehen?

Kind bei der Sprachtherapie
© IStock SerrNorik

Viola Wilde: Zunächst einmal ist es so, dass diverse Studien ergeben haben, dass Eltern sehr oft mit dem richtigen Bauchgefühl zum Arzt gehen. Das heißt: Sie können  - auch ohne vom Fach zu sein -  sehr gut einschätzen, ob die Entwicklungsverzögerung ihres Kindes Grund zur Sorge ist oder nicht. Das ist meistens um die U7 herum. Ein wichtiger Knackpunkt in dieser Zeit ist der sogenannte „Wortschatzspurt“ zwischen dem  zweiten und dem dritten Geburtstag. Das ist eine Phase, in der die Sprachentwicklung galoppiert, und die Kinder gefühlt täglich zwanzig neuen Wörter lernen und verwenden. Wenn dieser Wortschatzspurt ausbleibt, sollte man hellhörig werden und abklären, was die Ursache hierfür sein könnte.
 
 

Das heißt konkret?

Viola Wilde: Als allererstes wird jeder gute Kinderarzt einen Hörtest und eine Untersuchung des Ohres empfehlen, um zu sehen, ob die Schallübertragung funktioniert. Dabei kann zum Beispiel herauskommen, dass ein Erguss im Mittelohr verhindert, dass das Trommelfell schwingen kann. In dem Falle hört das Kind unsauber. Hier helfen sogenannte Paukenröhchen dabei, dass das Sekret aus dem Ohr abfließen kann. Es ist ja klar: gutes Hören ist die Voraussetzung für gutes Sprechen.
 

Wir hören häufig, dass Eltern diesen Hör-Test machen, der dann aber unauffällig ist. Damit sind sie im Grunde auch nicht schlauer sind als vorher.

Viola Wilde: Wenn die Symptomatik bleibt, das Kind also weiterhin eine sehr kleinen Wortschatz hat, sehr lang bei Zweiwortsätzen verharrt oder Buchstaben oder ganze Satzteile verdreht, sollte man dran bleiben und sich auch nicht abschütteln lassen. Besonders dann, wenn das Kind auch auf anderen Gebieten ein auffälliges Verhalten zeigt. Zum Beispiel sehr schnell erschöpft ist, sehr leicht reizbar  oder ständig Wutanfälle hat, die über das normale Maß der Trotzphase hinausgehen. Alles allein erstmal ok, alles zusammen, ein Grund genauer hinzuschauen.
 

Was hat das jetzt mit der Sprache zu tun?

Viola Wilde: Kinder, bei denen viele dieser Symptome zusammenkommen, könnten auch eine sogenannte Auditive Wahrnehmungsstörung haben. Diese hat etwas mit der Verarbeitung des Gehörten zu tun. Das heißt, das Gehirn (nicht das Ohr) hat Schwierigkeiten, das Gehörte in die richtige Schublade abzulegen und zu „lernen“, um es bei Bedarf wieder richtig zu verwenden. Diese Kinder haben große Schwierigkeiten, auditive Reize und Geräusche  zu filtern und einzusortieren. Während andere fast automatisch Wichtiges von Unwichtigem aus dem, was sie hören (Mutter ruft, Spülmaschine läuft, Straßenlärm, Telefon klingelt), herausfiltern und „adäquat“ reagieren können, fällt das den Kindern mit auditiver Wahrnehmungsstörung sehr schwer. Sie nehmen alles in der gleichen Intensität wahr und sind deshalb  viel schneller erschöpft und somit gereizt als andere Kinder. Das erschwert natürlich auch das Sprechen lernen.
 

Oje, das klingt irgendwie schlimmer als wenn das Kind einfach “nur“ schlecht hört?

Viola Wilde: Keine Angst, das ist kein Schicksal, dem man nicht entkommen kann. Aber hier ist es wirklich wichtig, das früh erkannt wird, was los ist. Sonst tut man den Kinder häufig auch einfach unrecht, einfach weil man nicht weiß, welche Schwierigkeiten hinter ihren Auffälligkeiten stecken.
 

Aber was kann man dagegen tun?

Man muss diesen Kindern helfen, ihre Hör-Wahrnehmung zu schulen. Das kann in der Tat ein längerer Prozess sein, aber er lohnt sich. Und je früher man anfängt, desto besser. Das kann Logopädie oder auch Sprachtherapie sein. Es gibt verschiedene Verfahren, die angewandt werden können, z.B. auch mit Rhythmus, Musik. Um das Sprachzentrum zu stimulieren, kann auch Therapeutisches Reiten unter Anleitung von Heilpädagogen sinnvoll sein; vor allem, weil es einfach Spaß macht und sich nicht nach Therapie anfühlt. Oder einfach viel Bewegung. Denn das ist das Zauberwort: Es muss Spaß machen, dann lernt das Kind schnell.

 

Kann man denn nicht auch zu Hause etwas machen?

Eltern lesen vor
© I Stock Skynesher

Viola Wilde: Aber ja! Und am Besten macht man das sowieso mit allen Kindern: Sprechen Sie mit ihnen, singen Sie gemeinsam, lesen Sie ihnen vor, unterhalten Sie sich über alles, was sie sehen und was sie umgibt - und zwar mit Augenkontakt und mit soviel Körperkontakt wie möglich. Kein Hörspiel, kein Fernseher, keine lustige App kann ersetzen, was Eltern bieten können: nämlich Bindung. Sie ist erwiesenermaßen die Voraussetzung für jedes Lernen.
Als Auslöser für eine Auditive Wahrnehmungsstörung kommen nach heutigem Stand mehrere Faktoren in Betracht. Das reicht von familiärer Veranlagung über Frühgeburtlichkeit bis hin zu Nikotin- und Alkoholmissbrauch in der Schwangerschaft. Aber grundsätzlich ist das Gebiet nicht so gut erforscht und belegt wie zum Beispiel Schreib-und Lesestörungen. Sicher ist aber, dass Kinder, die sie haben, all das noch viel mehr brauchen, was allen Kindern guttut: echter Austausch, gemeinsames Lauschen, gemeinsames Singen, Kniereiterspiele, Kinderreime, Musik und Rhythmus, Fingerspiele und viel Schaukeln und geschaukelt werden. Das ist wichtig für die neuronale Entwicklung des Gehirns und deshalb auch der Grund, weswegen gerade diese Babys viel herumgetragen und geschuckelt werden wollen.
Das alles ist eine ganz wichtige Unterstützung einer professionelle Therapie, die bei Kindern mit diagnostizierter auditiver Wahrnehmungsstörung aber dennoch sein muss.

 

Sie sagen ja selbst: Für alle, aber insbesondere für berufstätige Eltern klingt das nach einer ziemlichen Herausforderung.

Viola Wilde: Jein. Die Herausforderung ist da, das stimmt, aber sie geht nicht weg, in dem man sie ignoriert oder delegiert. Wenn Eltern am Anfang mit diesen Dingen den Grundstein legen, kann das später viele Nerven sparen. Denn die Probleme dieser Kinder verwachsen sich eben nicht, sondern können sich auswachsen – und das kostet dann richtig Zeit und Nerven.
Wir haben häufig Kinder, die kurz vor Schulbeginn hektisch vom Kinderarzt geschickt werden, weil erst da die Probleme unübersehbar werden.  Aber dann ist es viel schwerer, alles aufzuholen. Und die Kinder haben dann oft schon viel Leid, viele Hänseleien und negative Rückmeldungen hinter sich, weil sie anecken.
 
 

Ganz ehrlich, Sie machen diese Arbeit seit vielen Jahren - bei wie vielen Kindern, die zu Ihnen kommen, haben Sie wirklich das Gefühl, geholfen zu haben?

Viola Wilde: Bei der weitaus überwiegenden Zahl der Kinder - auch bei Auditiver Wahrnehmungsstörung. Das sind vor allem die Kinder, bei denen die Eltern zu Hause mitziehen. 
 

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