Scham ist kein "angeborenes" Gefühl
Jeder hat schon einmal Scham empfunden, als Kind und auch als Erwachsener: Als man gerade ordentlich über den Chef hergezogen hat und bemerkte, dass er längst im Raum war. Oder als der Partner herausfand, dass das angebliche Schnäppchen ein teueres Designerstück war. Dann schämen wir uns. Ein Gefühl, das sich kaum unterdrücken lässt. Dabei ist Scham - im Gegensatz etwa zu Wut, Traurigkeit oder Freude - kein "angeborenes" Gefühl. Für was man sich schämt und ob überhaupt, das bestimmt die Gesellschaft, in der man groß wird. Denn sie formt die Ansprüche mit, die wir an uns selbst stellen.
Um Scham zu verstehen, muss man herausfinden, um welche primären Gefühle es dabei geht. "Das vermeintliche Versagen vor dem eigenen Ich-Ideal’ ist ein häufiger Auslöser für Scham", sagt die Hamburger Diplom-Psychologin Kora Krüger. Das gilt für den Familienvater, der seine Arbeitslosigkeit aus Scham vor seiner Familie verschweigt, genauso wie für ein Kind, das seiner kunstbegeisterten Mutter die Fünf in Malen vorenthält: Beide schämen sich, ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden zu sein.
Kinder schämen sich häufiger als Erwachsene
Kinder sind noch besonders auf Zuwendung und Anerkennung von Eltern, Lehrern und Freunden angewiesen. Deshalb ist es den meisten Kindern sehr wichtig wie sei ihnen gegenüber dastehen. Wenn mögliche, vermeiden sie alles, was Schamerlebnisse auslösen könnte. Ist zum Beispiel bekannt, dass fast alle in der Klasse "Tokio Hotel" doof finden, dann huldigen "Tokio Hotel"-Fans ihren Idolen eben heimlich und in der Hoffnung, dass dies von den Mitschülern nicht "enthüllt" wird. Das Bemühen um Anerkennung von anderen führt allerdings gelegentlich dazu, dass sich ein Kind erst recht schämt.
Wie Jonas, der Stille mit der Brille, der sonst nie mitmacht, wenn seine Freunde schmutzige Witze erzählen. Aber heute fasst er sich ein Herz und erzählt einen, in der das Wort Titten vorkommt. Jonas’ Mitschüler schauen sich belustigt an, aber keiner lacht. Jonas steht wie versteinert da, und sein Kopf sieht aus wie der eines Streichhölzchens. Nicht nur der Witz ist durchgefallen. Jonas auch. Denn er wollte sich mit diesem Witz eine neue Stellung in der Gruppe verschaffen, erklärt Diplompsychologin Krüger. "Donnerwetter", sollen die anderen denken, "der stille Jonas hat’s ja faustdick hinter den Ohren."
Seine Rolle als stiller Teilhaber an den Witzerunden ist er los
Doch er erlebt den Doppelabsturz. Die Reaktion der Mitschüler macht ihm klar: „Du bist kein Witze-Erzähler; und außerdem - sieh mal einer an - der Stille mit der Brille hat auch noch schweinische Gedanken." Dadurch ist Jonas seine Rolle als stiller Teilhaber an den Witzerunden los. Beim nächsten Mal werden die anderen ihn herausfordern. Erzählt er dann keinen "versauten" Witz, werden sie ihn Feigling nennen. Tut er’s, werden sie ihn nicht witzig finden.
"Sichtbar für die anderen ist Jonas’ Scham. Letztlich geht es hier jedoch um eine soziale Angst", sagt Kora Krüger. Jonas ist es sehr wichtig, zu dieser Gruppe dazuzugehören, er weiß aber nicht, wie er es anstellen soll. "Jonas glaubt, er sei unattraktiv, und die schmerzliche Ablehnung verstärkt diese negative Selbstbild noch." Um aus diesem Teufelskreis herauszukommen, hilft nur, sich erst mal zurückzuziehen, bis die Scham abgeklungen ist.
Scham kommt erst mit Fünf
Wie entsteht Scham eigentlich? Zunächst einmal muss man zwei Formen der Scham unterscheiden: das oben erwähnte Schamgefühl, das entsteht, wenn man sich bloßgestellt fühlt - und die Körperscham, die Menschen dazu bringt, ihre Intimsphäre zu schützen.
Babys können sich noch nicht schämen. Denn erst mit 18 Monaten erkennen Kinder sich selbst im Spiegel - eine wichtige Voraussetzung, sich selbst als Person wahrzunehmen. Es entwickelt sich langsam ein Selbstbild (wie sehe ich mich selbst) und ein Fremdbild (wie sehen mich andere). Mit fünf Jahren ist das Schamempfinden ausgeprägt, bis zum siebten Lebensjahr zeigen 80 Prozent aller Kinder deutliche Schamgefühle, ergab eine Studie zur kindlichen Körperscham, die Professorin Bettina Schuhrke im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gemacht hat.
Das Vorschulkinder ein ausgeprägtes Körperscham-Empfinden haben, wird deutlich, wenn sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr nackt herumlaufen wollen. "Damit versucht das Kind, Grenzen zu setzen, die Erwachsene respektieren sollten", erklärt Bettina Schuhrke. Denn mit drei bis vier Jahren beginnen Kinder, ihre Privatsphäre abzustecken. Sie schließen die Toilettentür ab - jedenfalls fürs große Geschäft; manche Schulkinder hüllen sich zum Umziehen im Schwimmbad in ein Handtuch oder duschen zu Hause in der Badehose, weil die Babysitterin da ist.
Erkennen, dass man etwas falsch gemacht hat
Die zweite wichtige Voraussetzung dafür, dass Kinder sich schämen können: Sie müssen bereits in der Lage sein zu erkennen, dass sie etwas falsch gemacht oder gegen Regeln verstoßen haben. Auch dieses Bewusstsein wächst erst im Kindergartenalter. Doch was tun, wenn Kinder sich häufig und intensiv schämen, verlegen und unsicher sind? Dann sollten Mütter und Väter versuchen, vorsichtig die wahren Schamursachen zu ergründen.
Offenbaren, was einen wirklich verletzt
So wie bei Marco, 10: Weil er in der letzten Sportstunde beim Schubkarren-Lauf gescheitert ist, kommentierte sein Sportlehrer nicht gerade feinfühlig: "Wie ein nasser Sack". "NaSa", wird Marco deshalb seitdem von den meisten in seiner Klasse genannt. Marcos Eltern müssen nun nicht nur herausfinden, was "NaSa" bedeutet und wie er entstanden ist. "Vielmehr sollten sie Marco in einem intensiven vertrauensvollen Gespräch dazu bewegen, zu offenbaren, was ihn wirklich verletzt hat und welchen Ansprüchen an sich selbst er glaubt nicht gerecht werden zu können", rät Diplompsychologin Kora Krüger. Hängt sein Selbstwertgefühl wirklich daran, als Sportler anerkannt zu werden, können seine Eltern ihm helfen: indem sie ihn in einem Sportverein anmelden, den keiner aus der Klasse besucht. Dort kann er heimlich so lange trainieren, bis er fit ist.
Und was tun wir, wenn uns der Chef beim Lästern erwischt hat? Dafür gibt es leider kein Patentrezept. Da müssen wir durch. Und beim nächsten Mal gucken wir genau, wer wirklich im Zimmer ist.