Wer Max sieht, würde im Leben nicht denken, dass er so was macht. Auf der Straße grüßt er jeden freundlich mit einem „Hi!“. Er lächelt viel, und wenn er sich freut, freut er sich mit seinem ganzen Körper. Und plötzlich geht er auf ein Kind zu und kratzt ihm ins Gesicht. Scheinbar grundlos. Als Max eineinhalb war, hüpfte er mal auf dem Spielplatz auf einer dieser schwarzen Matten. Ein kleiner Junge kam dazu. Erst sprangen sie noch gemeinsam, dann nahm Max dem anderen die Mütze ab. Ich sagte „Nein" und gab dem Jungen die Mütze wieder. In dem Moment biss Max ihm in den Arm. Der Junge schrie. Ich schimpfte mit Max: „Warum machst du das immer?“ Und die andere Mutter ging auf mich los: „Passen Sie doch besser auf Ihren Sohn auf!“
Immer wieder hat Max Kinder gekniffen oder gekratzt. Die Attacken folgten keinem Muster – das macht es mir so schwer zu verstehen, was los ist. Es konnte immer und überall passieren, ob er müde war oder ausgeschlafen, ob er zuvor schöne oder nicht so schöne Dinge erlebt hatte. Mal ging er in der Kita auf ein Mädchen los, das ihm die Zaubertafel aus der Hand genommen hatte. Mal griff er einen Gleichaltrigen in der Garderobe an, noch bevor wir Hallo gesagt hatten. Manchmal setzte er nach, wenn das andere Kind zu perplex war, um zu reagieren.
Faszinierten ihn die Tränen? Die Aufmerksamkeit, die er dann von den Erwachsenen bekam? Oder machte er das nur, um sich danach liebevoll mit einer Streicheleinheit entschuldigen zu können?

War ich einfach unfähig, ihn zu erziehen?
Zwei Freundinnen reden nicht mehr mit mir, weil Max ihren Kindern ziemlich wehgetan hat. Darunter leide ich – aber ich leide auch unter den Vorwürfen, die ich mir selbst mache. Natürlich fragen mein Mann und ich uns, was wir falsch gemacht haben.
In der Schwangerschaft hatte ich starke Stimmungsschwankungen. Ob hormonell vielleicht was nicht stimmte mit Max? Ich kam auf die absurdesten Gedanken. Max verletzte ja nicht nur andere Kinder, auch sein Vater und ich haben die kleinen Fingernägel schon öfter zu spüren bekommen. Lag es an unserer Beziehung, in der es vor einem halben Jahr häufiger Reibereien gab? War es der permanente Schlafmangel, der dazu führte, dass wir nicht immer besonnen auf alles reagierten? Hätte ich Max früher in der Kita anmelden sollen? Oder war es für ihn mit 17 Monaten doch noch zu früh? Hätte ich mal einen Babykurs mit ihm besuchen sollen? Haben mich die eineinhalb Jahre mit ihm daheim zu oft genervt? War ich einfach unfähig, ihn zu erziehen?
Und dann kam das Elterngespräch
Einmal wurde Max selbst gebissen. Und ich dachte: Das wird ihm sicher eine Lehre sein. Von wegen. Max zankte ungebremst weiter. Mit einer Freundin, die gerade ein Baby bekommen hatte, traf ich mich lieber draußen, da konnte ich sicher sein, dass Max nicht in einem unbeobachteten Moment das Baby kratzt. Vorsichtsmaßnahmen.
Riesige Angst hatte ich vor dem ersten Elterngespräch in der Kita, vor allem, nachdem Max’ Erzieher irgendwann sagte, er habe solche Kratz- und Beißattacken noch nicht erlebt. Der Termin wurde dann gar nicht so schlimm. „Klar, das ist gerade anstrengend“, sagten der Erzieher und seine Kolleginnen, „aber lassen Sie uns ein halbes Jahr warten. Wenn es nach seinem zweiten Geburtstag nicht besser wird, sollten wir anfangen, uns Gedanken zu machen.“
Wir müssen das zusammen schaffen
Es gab danach leider noch einige „Zwischenfälle“. Was mir das Herz zerreißt, ist, dass Max nicht versteht, wie sehr er anderen wehtut. Mit seinem besten Freund Konrad darf er nicht mehr spielen, nachdem der mal wieder mit Kratzern am Arm nach Hause kam – Konrads Mutter will es nicht. Max fragt ganz viel nach ihm, aber ich bringe es nicht über mich zu sagen: „Er kommt nicht mehr, weil du so böse zu ihm warst.“
So konnte es nicht weitergehen, ich ging in die Offensive, sprach mit meiner Mutter, mit Freundinnen und mit Bekannten über die Schwierigkeiten mit unserem Sohn. Und ich begann, konsequenter zu sein: Wenn wir auf den Spielplatz gingen, sagte ich Max vorher, dass wir sofort wieder verschwinden, wenn etwas passiert. Und daran musste ich mich gelegentlich halten – auch wenn das hieß, im Sommer bei 26 Grad zu Hause statt in der Sonne zu sitzen. Nach jedem Vorfall entschuldigte ich mich bei den anderen Müttern und den Kindern. Auch Max musste sich entschuldigen.
Es wurde weniger, aber es hörte nicht auf. Bis zu dem Tag, als ich, fertig mit den Nerven, beschloss, mich an eine Erziehungsberatungsstelle zu wenden. Ich bekam einen Termin und ab diesem Moment wurde es wirklich besser. Nachdem Max tagelang friedlich blieb, bin ich zu der Beratung gar nicht mehr hingegangen.
Das war um seinen zweiten Geburtstag herum, und ich wollte alles tun, damit es so bleibt. „Egal, wer wie viel Schuld an der Situation hat – wir müssen netter zueinander sein“, sagte ich zu meinem Freund. „Max merkt sofort, wenn dicke Luft ist.“ Wir mussten das zusammen schaffen. Es folgte ein sehr entspanntes Wochenende bei gutem Wetter und ganz ohne Termine. Max scheint das genossen zu haben. Er war der Junge, den wir in ihm immer gesehen hatten: unser toller Sohn mit seinem fröhlichen Lächeln!
Wild ist Max heute immer noch. Aber nicht mehr so unfair. Das Kratzen ist fast völlig verschwunden. Es hat sicher auch damit zu tun, dass er heute viel besser spricht als noch vor einem halben Jahr, dass er sich einfach anders ausdrücken kann. Hätten wir früher Hilfe holen müssen? Mag sein. Aber vielleicht muss man manchmal auch einfach nur warten.
Kleinkind-Attacken: Was steckt dahinter?
Zwischen zwei und fünf Prozent aller Kleinkinder legen auffällig aggressives Verhalten an den Tag. Manche testen einfach ihre Grenzen aus – auch körperliche. Andere suchen dadurch Nähe oder Aufmerksamkeit, die fehlt, wenn zum Beispiel plötzlich ein Geschwisterchen da ist. Auch Schwierigkeiten in der Partnerschaft oder eine unsichere Eltern-Kind-Bindung können zu Aggressionen führen.
Wie verhalten sich die Eltern am besten?
Es ist ein Eiertanz: Einerseits soll man dem Kratzen, Beißen, Hauen, Schubsen ein klares „Nein" entgegensetzen – und eingreifen, bevor das Kind einem anderen richtig wehgetan hat. Andererseits haben Kinder ein Recht darauf, wütend zu sein und diese Wut auch zu zeigen.
Wann müssen wir dazwischengehen?
Wenn sich jemand zu verletzen droht. Wenn sich die Aggression gegen Schwächere richtet. Wenn ein Kind offensichtlich Grenzen auslotet und wissen will, wie weit es gehen kann.
Wie fördern wir eine friedliche Entwicklung?
Indem wir unseren Kindern Fairness im Alltag vorleben. Indem wir ihnen genug Möglichkeiten bieten, sich auszutoben. Indem wir Streiten und Raufen nicht zum Tabu erklären, sondern – vielleicht auch mit ein paar Regeln – zeigen, wie man auf faire Weise Dampf ablassen kann.
Was, wenn das Schlagen und Beißen nach einem halben Jahr nicht besser wird?
Dann ist es Zeit, sich an eine Erziehungsberatungsstelle zu wenden.