Sollten Kinder über die Vielfalt von sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten aufgeklärt werden? Über diese Frage wird immer heftiger diskutiert. Die Wissenschaft ist sich hingegen recht einig: Eine altersgemäße Aufklärung über sexuelle Vielfalt schadet Kindern nicht. Und die Warnung vor der "Frühsexualisierung" ist vor allem eins: ein Abwehrmechanismus.
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In der Sendung mit der Maus ist eine trans Frau zu sehen, bereits in Kita und Grundschule wird Akzeptanz für verschiedene Lebens- und Liebesformen vermittelt und in modernen Kinderbüchern treten gleichgeschlechtliche Elternpaare auf: Die Sichtbarkeit queerer Personen nimmt zu und hat auch in die Sexualaufklärung von Kindern Einzug gehalten.
So weit, so gut. Oder? Nicht alle sehen das so. Immer mehr laute Stimmen stören sich an einer an Vielfalt orientierten Aufklärung von Kindern; vielmehr noch: Es sei eine Gefahr, bereits Kita-Kinder über Homosexualität und Transgender aufzuklären – "Umerziehungsversuche" und eine Abwertung des klassischen Familienbildes würden drohen. Das jedenfalls behaupten die Kritiker:innen, die in einer ganzheitlichen und an Vielfalt orientierten Sexualaufklärung eine "Frühsexualisierung" sehen, die es zu verhindern gelte. Die Vermittlung von Akzeptanz gegenüber vielfältigen Lebens- und Liebesweisen an Schulen oder Kindergärten ruft Protest hervor: Petitionen und Demonstrationen zum "Schutz der Kinder" werden initiiert, die "Frühsexualisierung" müsse unterbunden werden.
Aufklärung von Kindern ist ein Thema, das polarisiert
Und eigentlich ist diese Ablehnung auch gar nicht so verwunderlich: Auf der Suche nach dem angemessenen Umgang mit kindlicher Sexualität kam es des Öfteren zu Konflikten und Gegenwehr: Ob es nun Sigmund Freuds Erkenntnisse zur frühkindlichen Sexualität oder die Einführung eines flächendeckenden Sexualkundeunterrichts während der 68er-Bewegung waren – stetige Auseinandersetzungen begleiten die Deutungshoheit über den korrekten Umgang mit Sexualerziehung und Aufklärung in der Kindheit. Das ist zum einen in der nicht mehr gültigen Annahme, Kinder kämen als asexuelle Wesen auf die Welt, die vor der schmutzigen Sexualität der Erwachsenen so lange wie möglich geschützt werden müssten, begründet. Zum anderen darin, dass das Thema Sexualität etwas sehr Intimes ist, bei deren Vermittlung Eltern die Kontrolle behalten möchten.
Ist die Sorge um eine "Frühsexualisierung" berechtigt?
Aber was ist nun dran an der Sorge, die Kinder würden durch "Frühsexualisierung" Schaden nehmen, ihrer Unschuld beraubt oder gar in ihrer geschlechtlichen und sexuellen Identität verunsichert, wenn sie einen schwulen Protagonisten in ihrer Lieblingsgeschichte entdecken?
Wenn wir uns die wissenschaftlichen Erkenntnisse anschauen: nichts. Ganz im Gegenteil empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer offiziellen Richtlinie zu den Standards für die Sexualaufklärung in Europa eine altersangemessene Sexualerziehung bereits ab Geburt zu praktizieren und Kinder nicht als asexuelle Wesen zu betrachten. Selbstverständlich geht es dabei nicht um Aufklärung über Geschlechtsverkehr, sondern vielmehr um die Vermittlung eines gesunden Körperbewusstseins sowie um einen angemessenen Umgang mit Körperlichkeiten und mit Gefühlen. Und auch um die korrekte Benennung von Körperteilen; Penis und Vulva eingeschlossen.
Wenn wir uns die wissenschaftlichen Erkenntnisse anschauen: nichts. Ganz im Gegenteil empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer offiziellen Richtlinie zu den Standards für die Sexualaufklärung in Europa eine altersangemessene Sexualerziehung bereits ab Geburt zu praktizieren und Kinder nicht als asexuelle Wesen zu betrachten. Selbstverständlich geht es dabei nicht um Aufklärung über Geschlechtsverkehr, sondern vielmehr um die Vermittlung eines gesunden Körperbewusstseins sowie um einen angemessenen Umgang mit Körperlichkeiten und mit Gefühlen. Und auch um die korrekte Benennung von Körperteilen; Penis und Vulva eingeschlossen.
Aufklärung ist auch Missbrauchsprävention
Die Vermittlung von eigenen Grenzen, die Unterscheidung zwischen "Das mag ich" und "Das mag ich nicht" sowie die Fähigkeit, Übergriffigkeiten benennen zu können, sind wichtige Aspekte der Missbrauchsprävention. Die Eltern sind dabei die erste und wichtigste Quelle in der frühen Entwicklungsphase und senden bereits ihrem Baby Botschaften in Bezug auf den menschlichen Körper, auf Nähe und Intimität: Auch das ist Sexualaufklärung. Ebenso wie das Vorleben von Akzeptanz gegenüber anderen Liebeskonzepten oder die Förderung von Sichtbarkeit queerer Personen. Beispielsweise durch diverse Kinderbücher: So lernen Kinder nicht nur mit sich selbst verantwortungsbewusst umzugehen, sondern auch, sich gegenüber anderen Mitgliedern der Gesellschaft respektvoll zu verhalten.
Die verschämt-strafende Pädagogik der 50er-Jahre, die die kindliche Entdeckung des Körpers und Interessenbekundungen an Sexualität als Sittenverfall ansah und mit körperlicher Gewalt zu unterdrücken suchte, hat sich im Rückblick als falsch erwiesen – zum Glück wissen wir es heute besser! So ist es mittlerweile sowohl in der Sexualwissenschaft als auch in der frühkindlichen Pädagogik gängiger Konsens, dass bereits Kindergartenkinder altersangemessene, aber ehrliche Antworten auf ihre Fragen bekommen. Altersangemessen meint in diesem Zusammenhang: Themen, die in einem gewissen Alter interessant sind, werden Schritt für Schritt besprochen. Eltern beantworten ihren Kindern nur Fragen, die sie auch stellen und können dasselbe Thema später erneut aufgreifen.
Sexualität kann nicht geformt werden. Der Charakter hingegen schon
Dass sich eine zu frühe Sexualaufklärung negativ auf Kinder auswirkt, lässt sich zudem auch empirisch nicht belegen. Ganz im Gegenteil: Aufgeklärte junge Menschen verhüten besser und werden seltener im Teenageralter schwanger. Zudem hat sich der Zeitpunkt für das erste Mal nicht nach vorne, sondern eher nach hinten verschoben. Und Kinder, die über Homosexualität aufgeklärt werden, werden dadurch auch nicht selbst schwul oder lesbisch. Die Sorge, die Sexualität eines Kindes ließe sich durch eine ganzheitliche Aufklärung in beliebiger Art und Weise "umerziehen" ist eher ein Schreckgespenst: Sexualität kann nicht geformt werden. Der Charakter hingegen schon – deswegen ist eine an Vielfalt orientierte, ganzheitliche Sexualaufklärung wichtig, um Kindern respektvolle und akzeptierende Haltungen zu vermitteln, die Tragpfeiler eine sozial gerechte Gesellschaft sind. Aufklärung, die Vielfalt abbildet, hilft Kindern und Jugendlichen außerdem, selbst zu einer selbstbestimmten Sexualität zu finden – und das ist es doch, was wir als Eltern wollen.
Warum der Begriff "Frühsexualisierung" bedenklich ist
Es zeigt sich jedoch: Nicht alle sind an einer Gesellschaft, in der vielfältige Lebens- und Liebesformen existieren, interessiert. Das Problem sind hierbei nicht die Eltern, die sich um ihre Kinder sorgen und Angst vor einer "Frühsexualisierung" haben, sondern diejenigen, die diese Ängste schüren. Es werden Horrorszenarien entworfen, in denen Grundschulkindern unangemessene Informationen zu sexuellen Handlungen aufgezwungen werden und Pädagog:innen Kinder zu körperlichen Erkundungen verleiten.
Es geht nicht um die Vermittlung einer Erwachsenenperspektive
Diese völlig an der Realität von Sexualaufklärung vorbeilaufende Mär verunsichert, alarmiert und beängstigt Eltern. Und zeigt: Viele wissen nicht, was genau Ziel und Inhalt von Aufklärung bei Kindern ist – nämlich nicht die Vermittlung einer Erwachsenenperspektive auf Sex, sondern ein kindgerechtes Fragenbeantworten. Ausgenutzt wird diese Sorge von Interessengruppen, die sexuelle Vielfalt und infolgedessen Vielfalt innerhalb der Gesellschaft, ablehnen. Dabei geht es in erster Linie aber nicht um das Wohl der Kinder, denn diese sind mitnichten von "Frühsexualisierung" bedroht, sondern um das Durchsetzen der eigenen Agenda: gegen sexuelle Vielfalt, für Queerfeindlichkeit und für ein traditionelles Rollen- und Geschlechterbild.
Quellen:
- Viktoria Reineke: Elternmobilisierung gegen „Frühsexualisierung“, abgerufen am 17.08.2022.
- Heinz‐Jürgen Voß: Wenn rechtpopulistische Kreise gewinnen: Zu den Debatten um Sexualpädagogik und Antidiskriminierung, abgerufen am 17.08.2022.
- WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa, abgerufen am 17.08.2022.
- Daniel Kunz: Sexualaufklärung bei Kleinkindern. Themen, Herausforderungen und Mythen, abgerufen am 17.08.2022.