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Temperament Wenn's rumpelt, war's meiner!

wilder junge, Rabauke, Schlingel
© Thinkstock - IndigoLT
Claudia betritt Räume nur noch mit Scannerblick: Lässt sich hier ein Möbel besteigen, ein Tischtuch herunterziehen, etwas umkippen? Nein? Okay, dann können wir rein. Rumpelt es irgendwo, weiß Claudia: Das war mein Sohn. Und wenn andere Mütter kreischen, kennt Claudia den Grund.

Die Wahrnehmung ändert sich.

Der Zweijährige sieht süß aus, ist aber ein Gefahrensucher.

Sein Name ist Frido, und er rutscht im Möbelhaus-Kinderparadies nicht wie andere Kleinkinder sitzend ins Kugelbad, sondern mit dem Kopf voraus - und rammt beim Eintauchen noch mindestens drei andere Zwerge. Der Zweijährige sieht süß aus, ist eigentlich sehr gutmütig - und ein Gefahrensucher.

Eltern Fallbackbild

Alle bleiben auf Trab.

Wir müssen immer wachsam sein.

Mit Frido in die Eisdiele gehen heißt für seine Eltern: Einer stürzt den Kaffee hinunter und löst dann schnell den anderen ab, der gerade hinter Frido herläuft. "Wir müssen immer wachsam sein", sagt Claudia. Kinder wie ihr Sohn tragen ein höheres Unfallrisiko, sind kontaktfreudig und kennen keine Angst. Sie stürzen sich im Schwimmbad ins Schwimmerbecken und auf dem Spielplatz vom Klettergerüst. Außerdem ziehen sie immer durch, was sie sich in ihre kleinen Dickköpfe gesetzt haben.

Claudia und ihr Mann wollen Frido nicht ständig bremsen und schimpfen. Trotzdem besteht ihr Wortschatz vor allem aus "Nein!" und "Nicht!". "Verglichen mit ruhigeren Zeitgenossen fordern Kinder wie Frido die drei- oder vierfache Erziehungsleistung", sagt der Psychologe und Erziehungsberater Hans Berwanger.

Die Sozialkontakte bröckeln

Ein Teil dieser Experimentierlust ist genetisch bedingt.

Zumindest, wenn man nicht aufpasst. "Als wir mal eine befreundete Familie besuchten", erinnert sich Claudia, "hatte mein Sohn nichts Besseres zu tun, als in dem sehr gepflegten Garten das erstbeste Rankgitter zu besteigen. Unser Freund fand das gar nicht komisch und zog Frido persönlich wieder herunter. Was mein Sohn ihm natürlich ziemlich übel genommen hat."
Das Problem: Außenstehende sehen oft nur das Anstrengende, aber nicht die charmanten Seiten dieser Kleinkraftwerke. Was dazu führt, dass ihre Eltern manch eine Bekanntschaft nicht mehr pflegen und bestimmte Restaurants nicht mehr besuchen können. Und natürlich fragt man sich als Mutter oder Vater stets: Warum? Und warum trifft es uns?
Wenigstens entlastet es, zu wissen, dass ein großer Teil dieser Experimentierlust genetisch bedingt ist - angeborenes Temperament eben, das oft von einem Elternteil (oder beiden) vererbt wird. Was weniger beruhigend klingt: "Die Beobachtung 'wildes Kind' kann später durchaus in die Diagnose Aufmerksamkeits- Defizit-Syndrom/Hyperaktivität (ADHS) münden", sagt Hans Berwanger. Wenn beispielsweise Konzentrationsprobleme hinzukommen oder Schwierigkeiten, wichtige von unwichtigen Reizen zu unterscheiden. Da sind die Übergänge fließend, seriöse Diagnosen erst mit drei, vier Jahren möglich.

Vier Schritte für den besseren Umgang

Regale festschrauben, Steckdosen sichern.

Aber egal, was es nun ist - die Frage bleibt: Wie schafft man es, dass ein Energiebündel sich und andere nicht ständig in Gefahr bringt? Wie hilft man ihm, mit seinem Temperament zu leben?
Schritt 1: die Aufmerksamkeit erhöhen.
In den ersten Jahren müssen Eltern höllisch aufpassen und Gefahrenquellen beseitigen oder entschärfen: Regale festschrauben, Steckdosen und Fenster sichern, spitze Messer wegschließen etc.
Schritt 2: klare Ansagen machen.
Wilde Kinder brauchen ein Maximum an Deutlichkeit. Hans Berwanger empfiehlt:

  • dem Kind zu sagen, was es tun soll - und nicht, was es nicht tun soll;
  • wenig Fragen zu stellen;
  • möglichst kleine Handlungsschritte vorzugeben (statt "Räum bitte auf!" besser: "Die Bausteine kommen in die rote Kiste." "Die Autos ins Regal.");
  • wenn das Kind laut ist, selbst eher leiser zu werden;
  • Aufforderungen zu wiederholen;
  • dem Kind dabei in die Augen zu schauen, es leicht an Schulter oder Arm zu berühren, körperliche Nähe herzustellen.

Schritt 3: den Alltag langsamer machen.
Ideal: ausreichend Ruhepausen und nicht zu viele Aktivitäten. Rückzugsmöglichkeiten einrichten, Fernsehen auf ein Minimum reduzieren - wenn überhaupt. Und: Abends rechtzeitig Ruhe einkehren lassen, denn Schlaf ist wichtig. Übertriebene motorische Aktivität sei oft nur ein Symptom für Schlafmangel, behaupten Forscher der Universität Haifa.

Schritt 4: den eigenen Blick ändern.
Nicht nur auf den Stress und die Einschränkungen schauen! Fridos Eltern zum Beispiel bestätigen sich in stilleren Momenten immer wieder, wie liebenswürdig ihr Sohn ist. Sie wissen: Ist wieder einmal etwas zu Bruch gegangen, dann aus überbordender Lebensfreude. Frido ist nicht destruktiv, er braucht einfach einen größeren Aktionsradius als andere.

Hans Berwanger tröstet betroffene Eltern damit, dass die kleinen Wilden später oft wegen ihrer Originalität und Kreativität geschätzt werden. Er spricht sowieso nicht gern von "anstrengenden" oder "hyperaktiven" Kindern, sondern lieber vom "Michel- aus-Lönneberga-Syndrom".

Astrid Lindgrens liebenswert-chaotischer Michel ist berühmt dafür, Unfug zu machen, an den andere Kinder nicht mal denken. Etwa, seine kleine Schwester Ida mit Tinte anzumalen, damit Krösa-Maja glaubt, sie habe Typhus. Oder den Kopf in die einzige Suppenschüssel der Familie zu stecken.

Von Frido gibt es übrigens eine ganz ähnliche Geschichte: Bei einem Ausflug ins österreichische Schloss Amras schaffte er es tatsächlich, seinen Dickschädel zwischen die Stufen einer historischen Holztreppe zu klemmen. Um ihn wieder herauszubekommen, musste die Feuerwehr die Stiege zersägen.

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