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Sicherheitswahn Mehr Freiraum für kleine Leute!

Kinder brauchen Räume, in denen sie unbeobachtet spielen können. Doch viele Eltern haben nicht den Mut, sie machen zu lassen. Sie kreisen über ihren Kindern wie Helikopter. Und haben ständig Angst, es könnte was passieren. Ein Artikel für mehr Mut. Und gegen die Angst.

ELTERN-Autorin Greta Niesner über Angst und Mut

Sicherheitswahn: Mehr Freiraum für kleine Leute!
© A1PIX/BIS

Eltern haben zu viel Angst. Viele von uns haben sogar so viel Angst, dass sie ständig wie Helikopter über ihren Kindern kreisen: wachsam und immer bereit, einzugreifen. Wir passen auf, dass sie beim Radeln einen Helm auf dem Kopf haben - und nicht zu viel Tempo! Wir passen auf, dass die Schaukel im Garten TÜV-geprüft ist. Wir passen auf, dass die Brotzeittasche Reflektoren hat – und das Kind einen Platz in der musikalischen Frühförderung. Und natürlich bringen wir unser Kind auch mit dem Auto zur Musikstunde. Und später zur Grundschule: Nur noch jeder fünfte Erstklässler macht sich allein auf den Weg! Soziologen wie der englische Buchautor Frank Furedi sprechen inzwischen schon von einer "Elternparanoia". Seine deutschen Kollegen haben die "Generation Rücksitz" ausgerufen.

Sie stellten fest, dass der sogenannte Streifradius von Grundschulkindern - also das Gebiet, das sie auf eigene Faust entdecken können – binnen weniger Jahrzehnte von 20 auf vier Kilometer geschrumpft ist. Ohnehin verbringen sie nur noch durchschnittlich zwölf Stunden pro Woche draußen! "Ist doch klar", möchte man an dieser Stelle einwerfen, "das liegt daran, dass die Welt heute viel gefährlicher ist als noch vor 20, 30 Jahren: der Verkehr, die Missbrauchsfälle, die ständig in der Zeitung stehen. Das Risiko war doch früher viel kleiner." Stimmt nicht! Die Zahl der Kinder, die im Verkehr tödlich verunglückten, ist seit 1953 kontinuierlich gesunken, schreibt Silke Pfersdorf in ihrem Buch "Erziehungsfalle Angst" (Diana Verlag, 16,95 Euro), ebenso wie die Zahl der Sexualdelikte. Was sich aber geändert hat, sind offenbar die Wahrnehmung von uns Eltern und die Macht der Informationsflut.

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Die Ängste beginnen in der Schwangerschaft

Schon in der Schwangerschaft werden wir und unser Ungeborenes vermessen, geprüft und überwacht. Es könnte ja was sein. Ist das Kind dann da, geht es weiter mit den potenziellen Gefahren: Versicherungsleute warnen uns vor Unfallrisiken. Spielzeughersteller vor Kleinteilen. Und Medizinratgeber vor Fuchsbandwurmeiern. Wir hören ständig von Störungen, für die es vor 30 Jahren nicht mal einen Namen gab: Dyskalkulie, Legasthenie, ADHS. Und natürlich kaufen wir auch nicht irgendeinen Lack im Baumarkt, um das Kinderbett zu streichen. Denn irgendein Lack, das wissen wir Mütter und Väter von zahlreichen Bedenklichkeits-Tests, ist im Zweifelsfall giftig. Und eben weil wir das wissen, sind wir unentspannter als unsere Eltern und Großeltern. Und ständig in Habachtstellung!
Dazu kommt aber noch etwas anderes: Kindheit ist heute keine öffentliche Sache mehr. Sie ist eine Privatangelegenheit. Die Straßenkindheit der 60er- und 70er-Jahre ist selten geworden. Es gibt keine Kriegsbrachen mehr, auf denen Kinder ungestört spielen können, kaum noch verwilderte Gärten, verlassene Scheunen. Und es gibt im Zeitalter der Kleinfamilie auch kaum noch andere Erwachsene, die mit aufpassen.

Termine und Kurse - statt Freiraum und Freiheit

Deshalb treffen sich unsere Kinder nicht mehr auf der Straße, sondern sie treffen sich zu Hause. Oder in Kursen: in PEKiP-Kursen, Schwimmkursen, Musikkursen, Englischkursen. Immer gibt es dafür einen geplanten Termin. Und immer brauchen die Kinder auch einen erwachsenen Chauffeur, der sie zu der Verabredung fährt. "Verinselung" nennen das die Soziologen. Und finden diese Entwicklung gar nicht gut. Ist sie auch nicht. Denn sie drängt uns Eltern in eine anstrengende Rolle.

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Kindheit als Großprojekt

Kindheit als Großprojekt

Wir sind die Manager eines Großprojekts geworden, das Kindheit heißt. Jeder Vater und vor allem jede Mutter ist allein dafür verantwortlich, dass aus dem Kind was wird. Dass es nicht unter die Räder kommt, sich gut entwickelt, ordentlich gefördert wird. Geht was schief, haben wir versagt! Die permanente Kontrolle und Absicherung der Kindheit macht aber nicht nur uns Eltern unfrei und setzt uns unter Druck, sondern ist auch für unsere Kinder ziemlich ungesund. Kinder, die in Watte gepackt, immer beaufsichtigt und in schwierigen Situationen automatisch an die Hand genommen werden, lernen nicht, mit Gefahren und Risiken umzugehen. Sie wissen nicht, was sie sich zutrauen können. Sie kennen nicht das Glücksgefühl, das sich einstellt, wenn man eine Gefahr umschifft hat.

Und sie lernen auch nicht auszuhalten, dass etwas schiefläuft - und dann daran zu wachsen. "Krisenklau" nennt das die Kölner Erziehungswissenschaftlerin Professor Sigrid Tschöpe-Scheffler in ihrem Buch "Perfekte Eltern und funktionierende Kinder" (Verlag Barbara Budrich, 12.90 Euro). Und sie sagt: "Sätze wie 'Dazu bist du noch zu klein' oder 'Lass nur, ich mach das schon' erziehen Kinder dazu, die Verantwortung an andere abzugeben. Sie werden träge, lust- und einfallslos."

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Sollen wir unsere Kinder mehr sich selbst überlassen?

Fürsorge, Schutz und - Kontrolle

Mit einer gewissen Angst müssen Eltern leben lernen


Heißt das nun, dass wir unsere Kinder einfach sich selbst überlassen sollten? Nach dem Motto: Sie wissen schon, was sie tun? Nein, kleine Kinder wissen oft nicht, was sie tun: Sie ziehen den Teetopf mit dem heißen Wasser runter, verschlucken Cent- Stücke, trinken aus der Spüliflasche... Und wenn sie größer werden, dann essen sie Chips ohne Ende und hocken stundenlang vorm Computer. Kinder, das ist klar, brauchen Fürsorge, Schutz und - Kontrolle! Aber: Spätestens wenn sie aus dem Babyalter raus sind, brauchen sie auch Hürden, beherrschbare Probleme, Eltern, die ihnen etwas zutrauen. Und vor allem: Eltern, die sie darauf vorbereiten, Dinge allein zu tun. Es geht also um das gesunde Mittelmaß zwischen Autonomie und Freiheit auf der einen Seite und Schutz und Behüten auf der anderen. An dieser Stelle wäre es schön, wenn ich verweisen könnte - zum Beispiel auf eine Tabelle, in der genau aufgelistet ist, was ein Kind in welchem Alter schon allein und ohne Aufsicht kann. "Leider ist es nicht so einfach", sagt Professor Tschöpe-Scheffler. "Denn nicht nur Eltern haben ganz unterschiedliche Angstschwellen, sondern auch Kinder sind sehr verschieden: was ihren Mut angeht, ihre Selbstständigkeit, ihre Zuverlässigkeit, ihr Temperament."

Stimmt! Unsere ältere Tochter konnte man schon mit fünf Jahren bedenkenlos zum Brotkaufen schicken. Denn sie ist ein vorsichtiges, besonnenes Kind, und nachdem wir den Weg zweimal geübt hatten, wusste ich: Sie bleibt stehen, bevor sie über die Straße läuft. Und wenn sie zu den Nachbarn geht, Häschen angucken, sagt sie vorher Bescheid.
Bei unserem jüngeren Sohn bin ich da gar nicht sicher. Er ist impulsiv und waghalsig, ein Kind, das immer erst macht und dann denkt. Und dessen Schutzengel schon viele Überstunden hinter sich hat! Meine mütterliche Intuition sagt mir deshalb: Warte lieber noch, bis du ihn allein zum Bäcker schickst. Und wenn ich aus seinem Kinderzimmer gehe, drehe ich mich immer noch mal um: gucken, ob auch die Fenster fest zu sind. Trotzdem lasse ich ihn aber mit den Nachbarskindern auf der Wiese hinter unserem Haus spielen. Dort gibt es Ameisen und Zecken und nasse Füße und Brillen, die kaputtgehen können. Aber diese Risiken halte ich für überschaubar. Genauso wie runtergefallene Lollis, die wieder in den Mund gesteckt werden.

Ich finde, Dreck und aufgeschrammte Knie gehören zu einem Kinderleben. Genauso wie ein verdorbener Magen, Wespenstiche und das Ausgerufenwerden im Kaufhaus: Der kleine Leon sucht seine Mama! Und wenn doch etwas Schlimmeres passiert? Mit dieser Angst müssen wir Eltern wohl leben. Ich meine sogar, wir haben die Pflicht, an dieser Angst zu arbeiten. Und sie nicht übermächtig werden zu lassen. Denn nein, das Böse lauert nicht überall. Und der worst case ist auch nicht der Normalfall.

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Wir brauchen mehr Zuversicht und Vertrauen

Wir brauchen mehr Zuversicht und Vertrauen

Was wir brauchen, sind keine Herzschlagüberwachungsgeräte und auch keine Handys mit Ortungsfunktion. Sondern vor allem mehr Vertrauen und Zuversicht, dass die Dinge auch gut gehen können. Wir brauchen Sätze, die Mut machen und die unsere Eltern und Großeltern viel öfter gesagt haben als wir heute: "Das wird schon". Oder: "Das wächst sich aus." Oder: "Das schaffen sie doch, meine Kinder." Und: Wir brauchen gute Ideen - damit wir Eltern wieder weniger Angst haben. Und unsere Kinder wieder mehr Kindheit. Eine gute Idee ist zum Beispiel der "Bus mit Füßen", der neuerdings in unserem Stadtviertel herumkurvt, immer zwischen sieben und acht Uhr morgens. Der "Bus mit Füßen" bewegt sich auf Kinderbeinen und bringt Erstklässler zur Grundschule. Er läuft ganz ohne Sprit - und bei uns mittlerweile auch ganz ohne erwachsenen "Fahrlehrer". Ich finde ja, der Bus mit Füßen ist eine echte Alternative zum Auto mit Rücksitz. Und umweltfreundlicher als ein Helikopter ist er allemal!

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