Lisette Siek-Wattel, 68, arbeitete 35 Jahre lang als Erzieherin und leitete bis zu ihrem Ruhestand eine kleine Kindergartengruppe in Stuttgart. Die charismatische Pädagogin war auch Mittelpunkt des Dokumentarfilms "Lisette und ihre Kinder", der vor einiger Zeit in den Kinos lief. Mit uns sprach die Erzieherin über ihre Erfahrungen, ihre Einstellung zu Kindern und ihre Beobachtungen, wie Erziehung heute besser gelingen kann.
Gibt es den kleinen Kindergarten in der Form wie er im Film gezeigt wird noch?
Ja, ich arbeite sogar im Moment wieder mit. Ich bin übergangsweise eingesprungen, als eine Vertretung benötigt wurde. Mir macht das nach wie vor viel Spaß, denn ich arbeite einfach gerne den Kindern.
Was wollten Sie in Ihrer Arbeit den Kindern vermitteln?
Dass sie zu sich selbst stehen können und nicht wie ein Blatt im Wind hin und hergeweht werden. Es ist gut, wenn sie selbstbewusst sind und ihre eigenen Bedürfnisse kennen. Es ist wichtig, dass sie Freunde finden können und Glück erleben. Dazu muss man ihnen aber auch Freiräume geben, in denen sie ihre Erfahrungen selbst machen können. Sie sollen erleben, dass sie nicht nur von Erwachsenen fremdbestimmt werden.
Der Kindergarten hat aber auch einen "Bildungsauftrag" und soll auf die Schule vorbereiten.
Ich wollte die Kinder nicht fertig bügeln für die Schule. Für mich ist "Bildungsauftrag" ein Schlagwort, als ob es davor noch keine Bildung im Kindergarten gegeben hätte. Kinder bilden sich ständig selbst, das hat es immer schon gegeben, aber dazu brauchen Kinder wieder mehr Freiräume, die ihnen heute oft fehlen. Sie schöpfen viel Kraft aus dem, was sie entdecken und erforschen. Das kommt in der Schule oft zu kurz.
Ich finde, dass die Schule gerade heute Erfahrungs- und Lebensraum sein muss und auf die individuellen Bedürfnissen der Kinder besser eingehen sollte. Durch große Klassen und dem Aussortieren nach der Grundschule, kann Schule das nicht leisten. Dadurch geht den Kindern oft die Freude am Lernen und Entdecken verloren.
Wie würden Sie Ihre Pädagogik beschreiben?
Ich habe nie ein Konzept genommen oder eines aufgesetzt und gesagt, so mache ich es jetzt. Ich habe einfach immer geschaut, was die Kinder interessiert und darüber nachgedacht. Das Leben ist so vielfältig, genauso wie die Kinder.
Wir kennen die Zukunft unserer Kinder nicht, daher brauchen sie Kreativität, um Dinge zu bewältigen die sie noch nicht kennen. Diese Kreativität zu erhalten und zu fördern war mir besonders wichtig. Ich glaube, dass für die Arbeit mit den Kindern auch deshalb jeder Tag ein neues Erlebnis für mich war.
Sie betonen, dass Kreativität sehr wichtig ist für Kinder. Wie kann man Ihrer Meinung nach Kreativität fördern?
Kinder bringen Kreativität mit. Aber es kann sein, dass sie ihnen abhanden kommt. Kinder brauchen Raum, um selbst etwas herauszufinden und eine ansprechende Umgebung wie Erde, Wasser, Sand. Ganz einfache Sachen sind es oft, die Kinder benötigen und die für ihre kreative Entwicklung wichtig sind. Es ist nicht das Vorgefertigte und auch nicht die Masse an Spielsachen, die diese Kreativität fördert.
Was halten Sie von Frühförderung?
Frühförderung einzelner Fertigkeiten stiehlt Kinden nur Zeit um ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Kleine Kinder lernen anders. Auch Kinder, die aus einem Waldkindergarten kommen, mit der Natur, mit Blättern, Steinen und Tannenzapfen gespielt haben, kommen in der Schule genauso gut mit, wie Kinder, die jeden Nachmittag vom Vorschulenglisch und danach zur musikalischen Früherziehung gefahren werden. Damit nimmt man Kindern nur die Freiräume, die sie brauchen. Wie sollen sie lernen, wie man Freunde findet und Spielkameraden, wenn sie gar keine Zeit zum Spielen haben? Freies Spielen ist ein wichtiges Element der Entwicklung. Kinder spielen um des Spielens willens, so entdecken sie die Welt. Das ist ein wichtiger Wert, der leider verloren zu gehen droht.
Was haben Sie von den Kindern gelernt?
Einfach leben. Kinder greifen nach dem Leben und genießen es. Sie haben ein Recht auf das Jetzt und Hier. Durch Kinder kann man das Leben und auch die Freude am Dasein lernen. Sie denken nicht:Was bringt mir das?`.
Was hat sich über die Jahre verändert?
Die Bedürfnisse der Kinder sind immer gleich geblieben und werden immer gleich bleiben. Aber die Umwelt hat sich verändert. Die Kinder sitzen häufig vor dem Fernseher oder vor Computerspielen, sie bewegen sich zu wenig und und die persönliche Zuwendung kommt zu kurz. Weil die Eltern Angst haben, es könnte etwas passieren, können Kinder heute kaum noch unbeobachtet eigene Erfahrungen machen.
Ist Ihnen etwas aufgefallen, was Eltern aus Ihrer Sicht häufig falsch machen im Umgang mit ihren Kindern?
Viele Eltern haben heute weniger Zeit. Sie sind häufig unter Druck und geben diesen Druck an ihre Kinder weiter. Sie machen sich viele Gedanken um ihre Kinder und haben Ängste, die ihnen oft die Gelassenheit beim Umgang mit ihren Kindern nehmen. Was mir auch auffällt ist die Unsicherheit der Eltern. Sie können oft nicht mehr erkennen, was wirklich wichtig ist für ihre Kinder und wie sie Grenzen setzen sollen.
Wie könnte Ihrer Meinung nach die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Erziehern besser klappen?
Ins Gespräch kommen ist wichtig. Eltern und Erzieher müssen mehr miteinander reden, sich über die täglichen Themen besser austauschen. Ein Beispiel: Beim Frühstücken im Kindergarten ist das bei uns ein richtiger Tauschhandel. Die Kinder tauschen ein Stück Obst gegen ein paar Nüsse oder ein halbes Käsebrot und verhandeln dabei miteinander. Allein dabei, lernen sie so viel. Eine Mutter hatte ihrer Tochter einmal verboten ihre Brotzeit zu tauschen. Das Mädchen saß ganz traurig beim Frühstück. Die Einmischung von Eltern kann da wirklich schlecht sein.
Wie kann Ihrer Meinung nach Erziehung leichter gelingen?
Eltern sollten versuchen, eine gewisse Gelassenheit aufzubringen und sie sollten nicht so viel erzwingen wollen. Sie sollten Vertrauen in ihre Kinder haben und genießen, was die Kinder mitbringen und nicht alles so tierisch ernst nehmen, sonst macht erziehen ja gar keinen Spaß. Es muss Raum bleiben für Lebensfreude.
Sie waren sehr lange Erzieherin, was empfanden Sie an Ihrem Beruf am anstrengendsten?
Die Elternabende. Dabei kam es oft zu Gesprächen, bei denen ich gemerkt habe, dass die Eltern nicht mehr offen sind für die Bedürfnissen ihrer Kinder und darüber einfach hinweggehen.
"Lisette und ihre Kinder" - Der Film
"Lisette und ihre Kinder" Dokumentarfilm Deutschland, 2008 75 Minuten plus Bonusmaterial
Die DVD kostet im Handel ca. 20 Euro. Infos zum Film auch unter www.lisette-film.de.