Der kleine Haustyrann ist der absolute Albtraum
Eltern sollten besser keine Buchhandlung mehr betreten. Jetzt müssen sie nicht mehr nur "Erziehungsnotstand" und "Pisa-Katastrophe" fürchten. Jetzt bekommen sie auch wieder vielfach vor Augen geführt, "Warum unsere Kinder Tyrannen werden". Glaubt man dem so betitelten Buch des Psychiaters Michael Winterhoff, geht das ganz schnell: Eltern, die lieber partnerschaftlich als hierarchisch erziehen, Großeltern, die ihre Enkelkinder auch mal verwöhnen, dazu ein Kindergarten, in dem die Kleinen selbst entscheiden dürfen, was sie spielen - mehr braucht es nicht, und schon ist er fertig: der kleine Haustyrann. Das ist ein wahrlich unsympathischer Zeitgenosse: egoistisch, unselbstständig, herrsch-süchtig, faul und zu allem Überdruss noch schadenfroh: Nichts bereitet dem kleinen Tyrannen nämlich mehr Freude, als seine Eltern zu quälen.
Kurz: Der kleine Haustyrann ist der absolute Albtraum. Was halt herauskommt, wenn man als Mutter oder Vater total versagt hat. Und genau deshalb sitzt die Angst vor ihm so tief. Wer will schon daran schuld sein, dass aus einem unschuldigen Säugling ein gewissenloses egozentrisches Monstrum wird?
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Dieses Verzärteln sei nämlich ganz und gar nicht im Sinne des Kindes: Wie sollte es sonst je selbstständig werden? Wenn ein Baby in seinem Bettchen schreit und weint, gibt es für sie nur eine richtige Reaktion: "Dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen. Das Kind begreift unglaublich rasch", droht die Autorin. "Nach kurzer Zeit fordert es diese Beschäftigung mit ihm als ein Recht, gibt keine Ruhe mehr, bis es wieder getragen, gewiegt oder gefahren wird - und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig."
Das Buch passte den Nationalsozialisten wunderbar in den Kram: Die frühzeitig abgehärteten Früchte dieser Erziehung, so hofften sie, würden später ausgezeichnete Soldaten für Führer, Volk und Vaterland abgeben. Johanna Haarer war mit ihnen ideologisch da ganz auf einer Linie, wie der Titel eines weiteren Buches aus ihrer Feder zeigt: Mutter - erzähl von Adolf Hitler.
Ungünstige Schlafgewohnheiten?
Zum Beispiel abends, wenn wir unser Baby lehrbuchmäßig satt und müde in sein Bettchen gelegt haben - und es augenblicklich brüllt wie am Spieß. Sofort rausnehmen? Oder erstmal liegen lassen? So streitet das Herz, das das verzweifelte Schreien schier nicht aushalten kann, mit dem Kopf, der die Ratgeber gelesen hat. Neue, moderne Ratgeber. Die trotzdem die Angst schüren, sein Kind zu verwöhnen. Und, noch schlimmer: Sich von seinem Kind manipulieren zu lassen. Ein schönes Beispiel dafür ist der Ratgeber Jedes Kind kann schlafen lernen, auch in der neuesten Auflage noch.
Der kommt zunächst ganz harmlos daher, und auf den ersten Seiten ist viel vom Wert der Nähe und der Liebe zu lesen, die Eltern ihren Kindern auf keinen Fall versagen sollten. Nur: "Ungünstige Einschlafgewohnheiten" sollten sich daraus nun auch wieder nicht entwickeln. Deshalb sei es nun wahrlich keine gute Idee, ein in seinem Bettchen weinendes Baby herauszunehmen und zu wiegen, zu fahren oder gar an der Brust einschlafen zu lassen. Stattdessen soll man es schreiend und weinend in seinem Zimmer liegen lassen und nur alle paar Minuten nach ihm sehen, damit es lernt, alleine einzuschlafen. Diesen Lernprozess erklärt sich die Autorin Anette Kast-Zahn folgendermaßen: Das Baby "kommt zu dem Schluss: ,Ich strenge mich an und schreie, und was passiert? Für das bisschen Zuwendung lohnt sich der Aufwand nicht. Da schlafe ich lieber. [...] Länger schreien bringt auch nicht mehr. Meine Eltern machen trotzdem nicht genau das, was ich will.’!
Haustyrann reloaded
Diese Überlegungen sind umso erstaunlicher, als sie einem sechs Monate alten Baby zugeschrieben werden, das nach aktuellem Stand der Forschung weder einen Sinn für kausale Zusammenhänge ("Wenn ich dies mache, passiert das") hat, noch bewusst "beschließen" kann, einzuschlafen. Vor allem aber wird dem Kind ein verblüffendes Maß an Berechnung unterstellt: Da plant der Säugling strategisch, wie er seine Eltern dazu zwingen kann, seinen Willen zu erfüllen. Und sieht dann ein, dass es gegen die konsequenten Eltern machttechnisch doch den Kürzeren gezogen hat, und fügt sich in sein Schicksal.
Die Annahme, ein Kind wolle durch sein verzweifeltes Weinen starrköpfig seinen (unberechtigten) Willen durchsetzen, wird sogar noch weiter ins Extrem geführt: Manche Babys übergeben sich im Rahmen des Schreienlassens nach Zeitplan nämlich in ihr Bettchen. Daraufhin das Schlaflernprogramm abzubrechen und sein Kind in den Arm zu nehmen wäre laut Kast-Zahn jedoch fatal. Denn es lerne daraus: "Durch Schreien bekomme ich nicht die Einschlafhilfe, die ich haben will. Durch Erbrechen schon." Erpressen durch Erbrechen – der kleine Haustyrann hat sich über die Jahre neue Waffen zugelegt.
Die Monster sind los!
Die kleinen Tyrannen. Wie Kinder ihre Eltern dressieren und wie Mütter und Väter kontern können, titelte der Stern im Jahr 2005. Im vergangenen Jahr legte er mit einer mehrteiligen Serie über das "Abenteuer Erziehung" nach. Überschrift: Kleine Tyrannen. Im Mai 2008 dann das Titelthema: Los, erzieht mich! Warum die Wohlfühlgesellschaft kleine Monster schafft. Kinder werden darin wahlweise als "Bonsai-Terroristen", "Saddam Husseins im Taschenformat" oder schlicht "Kotzbrocken" bezeichnet. Und seit diesem Frühjahr also: Warum unsere Kinder Tyrannen werden.
Laut Lexikon ist der Tyrann ein skrupelloser Machthaber, der die Macht widerrechtlich inne hat und die ihm Untergebenen quält und schikaniert. Das also soll die passende Umschreibung für ein weinendes Baby, eine protestierende Zweijährige, einen aufmüpfigen Fünfjährigen sein? Wieso fahren wir bei der Beschreibung unserer Kinder eigentlich solche Geschütze auf?
Anruf bei einer, die es wissen muss. Die Konstanzer Historikerin Miriam Gebhardt erforscht seit Jahren, wie die Deutschen ihre Kinder erziehen - vom Kaiserreich bis heute: "Ach ja, der kleine Haustyrann", seufzt sie. "Der hat immer dann Hochkonjunktur, wenn die Deutschen mal wieder besonders unsicher sind. Nach Kriegen, aber auch in wirtschaftlich wackeligen Zeiten. Dann ist da so eine diffuse Sorge, das eigene Kind könnte durchs Verwöhntwerden eine Art Wettbewerbsnachteil erleiden: Später muss es doch auch selbstständig sein und sich durchsetzen können! Dann kommt der kleine Tyrann ins Spiel - und mit ihm die Tipps, das Kind früh abzuhärten und die Bedürfnisse, die es durch sein Weinen äußert, zu unterdrücken."
Und warum tun wir uns so schwer damit, das Schreckgespenst des Mini-Tyrannen endgültig als pädagogischen Sondermüll zu verklappen? Weil sich der kleine Tyrann in den letzten 70 Jahren ganz schön festgefressen hat in dem Bild, das unsere Gesellschaft von Kindern hat, sagt Miriam Gebhardt. Und natürlich, weil der kleine Haustyrann allen Experten ganz gelegen kommt, die Eltern vermitteln wollen: Wenn ihr euch auf euer Bauchgefühl verlasst, kann das katastrophal nach hinten losgehen.
"Ob die Supernanny im Fernsehen genüsslich an der Erziehung gescheiterte Eltern vorführt oder der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann einen "Elternführerschein" fordert - übrig bleibt doch der Eindruck, die meisten Mütter und Väter seien von Natur aus inkompetent im Umgang mit Kindern", so Miriam Gebhardt. "Und der kleine Haustyrann ist das Symbol dafür, was herauskommt, wenn solche Eltern nach Gutdünken ihre Kinder erziehen."
Das Bauchgefühl wiederentdecken
Höchste Zeit also, den kleinen Haustyrannen endlich in den verdienten Ruhestand zu schicken. Nur wie?
Als erstes, indem wir unsere Sprache entrümpeln: Unsere Kinder sind vielleicht manchmal Schlingel, Blagen oder Lümmel, aber weder Tyrannen noch Terroristen.
Der zweite Schritt ist schwerer: Wir müssen nämlich wieder das Vertrauen gewinnen, das nichts Schlimmes herauskommt, wenn wir uns in der Kindererziehung zu allererst auf unsere Intuition verlassen. Im Gegenteil: In vielen Studien konnte nachgewiesen werden, dass Eltern mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit erspüren können, was ihre wann Kinder brauchen. Der Impuls, ein weinendes Baby sofort hochzunehmen, zu tragen oder zu stillen gehört genauso dazu wie der, einem tobenden Zweijährigen beruhigend die Hand auf die Schulter zu legen.
Das heißt natürlich nicht, dass es nicht sinnvoll wäre, auch mal den einen oder anderen Ratgeber zu lesen. Gute Erziehungs-Bücher oder -Magazine können Eltern sogar dabei helfen, wieder größeres Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu gewinnen. Wer sich vom extra aufgebauten Tisch, der das neue Tyrannenbuch bewirbt, nicht abschrecken lässt, kann sie schon heute in den Buchhandlungen finden. Sie machen nur kein so lautes Geschrei.