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Druckmittel in der Erziehung Wenn-dann-Falle: Wie du dein Kind ohne drohende Sätze erziehst

Wenn-dann-Falle: Kleines Mädchen am Esstisch rümpft die Nase
© very_ulissa / Adobe Stock
Tägliche Mini-Erpressungen müssen nicht sein, findet unsere Autorin Nora Imlau. Sie zeigt, wie es anders geht.

Mein kleiner Sohn liebt es, wenn ich für ihn Geschichten erfinde. "Und dann?", fragt er immer, wenn ich dabei eine bedeutungsschwere Pause einlege, um die Spannung zu erhöhen. "Und dann? Was passiert dann?"

Es liegt in der Natur des Menschen, wissen zu wollen, wie es weitergeht. Anders als die meisten Tiere, die völlig im Moment leben, ist unser Denken auf die Zukunft gerichtet: Wir sind neugierig, was als Nächstes passiert. Schon im Alter von fünf bis sechs Monaten können Babys bestimmte Handlungsfolgen wiedererkennen und dadurch antizipieren, was sie erwartet. Deshalb rudern sie bereits freudig mit den Ärmchen, wenn Mama am Still-BH herumzuppelt oder das Fläschchen anrührt, wohlwissend, dass das bedeutet: Als Nächstes gibt es feine Milch.

Deshalb mögen kleine Kinder oft auch feste Rituale so sehr: Die wiedererkennbare Routine beim Wickeln, der immer gleiche Tischspruch in der Kita, das Gute-Nacht-Lied am Abend – sie alle helfen Kindern, sich zurechtzufinden im Tagesablauf, und bereiten sie darauf vor, was nun kommt: eine frische Windel, ein leckeres Mittagessen, die Schlafenszeit am Ende eines ereignisreichen Tages.

Alltägliche Sätze bieten Orientierung

Eine besondere Orientierungsfunktion haben dabei all die kleinen sprachlichen Ankündigungen, mit denen wir unsere Kleinen im Alltag darüber informieren, was heute wann passiert: "Jetzt essen wir noch auf, und dann gehen wir zum Spielplatz." All diese alltäglichen Sätzen helfen Kindern, sich darauf einzustellen, was wir so mit ihnen so vorhaben, und nehmen viel Stress aus dem Alltag, weil sie verhindern, dass unsere Kleinen sich völlig überrumpelt fühlen von einer Veränderung, mit der sie nicht gerechnet haben: Wie, wir gehen jetzt zum Spielplatz? Davon wusste ich ja gar nichts!

Es gibt jedoch auch andere Wenn-dann-Sätze, die viele Eltern tagtäglich nutzen: "Wenn du deinen Brokkoli nicht isst, gibt’s auch keinen Joghurt!" "Wenn du jetzt nicht sofort aufhörst, mit Sand zu werfen, gehen wir nach Hause!" "Wenn du jetzt nicht Zähneputzen kommst, gibt’s keine Gute-Nacht-Geschichte!" All diese Sätze sind Drohungen: Sie sollen bewirken, dass ein Kind tut, was wir sagen, weil sonst unangenehme Konsequenzen folgen. Es gibt Menschen, die sagen, das sei eben Erziehung. Ich sehe das anders. Denn so harmlos uns diese täglichen Mini-Erpressungen auf den ersten Blick erscheinen mögen, so gemein sind sie auf den zweiten.

Denn ob wir Kindern in Aussicht stellen, ihren Nachtisch zu streichen, ihren Spielbesuch zu beenden oder ihre Gute-Nacht-Geschichte zu verweigern, wenn sie nicht hören – letztlich sind all diese Drohungen Druckmittel, die Kinder da treffen sollen, wo es wehtut, damit sie tun, was wir sagen. "Ja aber", sagen viele Eltern mir dann. "Wie soll es denn sonst gehen? Soll ich mein kleines Kind ungerührt Müslischüsseln auf den Boden werfen lassen und nicht reagieren, wenn es seine Babyschwester haut?" Nein, ganz und gar nicht. Ich finde es sehr wichtig, dass wir Eltern klare Kante zeigen, wenn uns das Verhalten unserer Kleinsten aus gutem Grund missfällt. Doch ich finde auch: Wir müssen deshalb nicht unsere Macht missbrauchen. Wir können auch freundlich "Stop" sagen und alltagspraktische Lösungen für altersangemessenes Verhalten finden. Ich habe meine Babys in ausgeprägten Matschphasen zum Beispiel zeitweise in der ungefüllten Badewanne essen lassen. Oder wenn meine Nerven das nicht hergaben, auf Fingerfood statt Brei gesetzt, damit zumindest die Tapete keine Flecken bekam.

Woher kommt dieser Satz?

Trotzdem habe auch ich schon oft gesagt: "Wenn du das noch einmal machst, ist der Teller weg." In der Folge saß dann ein noch halb hungriges, heulendes Kind am Tisch, und ich hatte ein schlechtes Gewissen. Warum passiert uns das? Weil diese alten Erziehungsmuster tief in unserer gesellschaftlichen DNA verankert sind. Ich glaube, es ist die große Aufgabe unserer Elterngeneration, solche alten Überzeugungen kritisch zu hinterfragen und bei jedem Wenn-dann-Satz zu überlegen: Informiere ich mein Kind hier über einen Zusammenhang, um ihm zu helfen – oder versuche ich, es unter Druck zu setzen, damit es hört?

Ich bin überzeugt: Für die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern ist es unendlich kostbar, wenn wir die drohenden Wenn-dann-Sätze aus unserer Familienkommunikation streichen. Weil zugewandte Erziehung nie auf Angst bauen sollte. Bestes Beispiel: Gute-Nacht-Geschichten. In wie vielen Familien werden die gestrichen, weil das Kind beim Zähneputzen getrödelt oder nachmittags seinen Bruder gebissen hat? "Tja", heißt es dann, "Wenn du dich so verhältst, dann kann ich dir leider heute Abend nicht vorlesen." Ich finde: Das darf nicht sein. Dass es lange als normal galt, Kindern liebevolle Zuwendung zu Erziehungszwecken zu entziehen, macht es nicht richtiger. Kein Kind sollte Angst haben müssen vor dem Dann, das nach dem Wenn kommt. Und jedes Kind sollte sich darauf verlassen können, abends liebevoll ins Bett gebracht zu werden.

"Und dann?", fragt mein kleiner Sohn, und seine Augen flackern vor Müdigkeit. "Dann schlief der kleine Ritter glücklich und geborgen ein", sage ich.

Nora Imlau schreibt als freie Autorin für ELTERN und hat Erfolg mit ihrem Blog (nora-imlau.de) und ihren Bestsellern zu Familienthemen. Ihr neues Buch "Meine Grenze ist dein Halt" ist kürzlich im Beltz-Verlag erschienen, 20 Euro.

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