Unser erstes Kind hatte keinen Schnuller. Wir hatten ihm keinen angeboten, weil ich so Sorge hatte, dass es dann mit dem Stillen nicht klappt. Von der Hebamme bis zum Kinderarzt feierten uns alle dafür, es ohne Nuckel zu schaffen: Das wäre so gut für die Kieferentwicklung, die Zahnstellung, den Spracherwerb! In all diesem Lob schwang ein ziemliches Vorurteil gegenüber Eltern mit, die ihren Babys Schnuller geben: Die würden es sich eben bequem machen, sich nicht so ins Zeug legen wie wir.
Was für ein ausgemachter Unsinn das ist, lernte ich nach der Geburt meines zweiten Kindes. Denn während mein erstes Baby sein Saugbedürfnis offensichtlich prima allein an meiner Brust stillen konnte, reichte meinem zweiten Kind das Nuckeln bei den Mahlzeiten dafür offensichtlich nicht aus. Stattdessen saugte es wie verrückt an allem, was es in den Mund bekam – an den Knöpfen meiner Strickjacke, dem Zipfel des Stillkissens, an seinen eigenen Händen. Dazwischen schrie es sehr laut und sehr verzweifelt. Bis ich ihm einen Schnuller gab. Dann wurde es ruhig und zufrieden – und schlief manchmal sogar im Kinderwagen ein.
Und wenn ein Kind den Schnuller länger braucht?
Keins meiner Kinder hat seinen Schnuller so gebraucht wie dieses. Mein drittes und viertes Kind hatten zwar auch im Babyalter einen, aber nur kurz. Nicht aus pädagogischen Gründen, sondern aus mangelndem Interesse. Sie verloren ihre Nuckel irgendwie ständig und schienen sie auch nicht wirklich zu vermissen. Mein zweites Kind jedoch liebte seine Schnuller nicht nur, es brauchte sie. Zum Einschlafen, zum Runterkommen, zum Sicherfühlen. Im Bett zu Hause und in der Kita, auf langen Autofahrten und beim Kinderarzt. Und zwar nicht nur als Baby, sondern auch noch weit über den zweiten Geburtstag hinaus. Was dazu führte, dass dieselben Fachleute, die uns bei unserem ersten Kind noch so beklatscht hatten, nun stirnrunzelnd unser Schnullerkind betrachteten und befanden, der Nuckel müsse langsam mal weg.
Viele Eltern kennen diese mahnenden Blicke. Vor allem in Zahnarztpraxen sind sie weit verbreitet. Eltern wird dazu gern gesagt, jetzt müssten sie sich aber wirklich mal durchsetzen, und Kindern, sie seien doch jetzt schon groß. Versucht man dann am Abend, das Kind ohne seinen geliebten Nuckel ins Bett zu bringen, ist das Drama oft groß. Die Kleinen schreien, weinen, flehen oft stundenlang nach ihrem Schnuller, und die Eltern verlieren sich in wirren Argumentationen über Schnullerfeen und Schnullerbäume. Am Ende fühlen sich alle schlecht.
Wichtig für die Seele
Denn ein Schnuller ist nicht einfach nur ein Plastiknuckel. Er ist für Eltern wie Kinder ein Stück emotionale Sicherheit. Eine Regulationshilfe, die oft da ist, wenn nichts anderes mehr hilft. Und zwar nicht, weil Eltern zu faul wären, ihr Kind zu beruhigen. Sondern weil manche Kinder mehr brauchen als Händchenhalten und Liedersingen, um ihr überreiztes Nervensystem in die Ruhe zu bringen. Nuckeln ist und bleibt nun mal unsere älteste und wirksamste Selbstberuhigungsstrategie. Schon Ungeborene nuckeln am Daumen. Neugeborene beruhigen sich beim Saugen an der Brust. Und überall auf der Welt haben Eltern schnullerähnliche Saug-Gelegenheiten für ihre Babys erfunden, und das seit Jahrhunderten: Auf einem Altarbild in Aschersleben aus dem 15. Jahrhundert nuckelt sogar das Jesuskind an einem sogenannten Lutschbeutel, wie die allerersten Schnullervorläufer genannt wurden. Was das mit seiner Zahnstellung machte, ist nicht überliefert.
Den Zähnen meines eigenen Schnullerkindes geht es jedenfalls prima. Und das ist bei den meisten Kindern so. Denn auch wenn es Untersuchungen gibt, die tatsächlich belegen, dass Schnuller sich bei Kleinkindern negativ auf Kiefer und Zähne auswirken können, ist in den Studien dabei nicht von normalen Schnullern, sondern von exzessivem Schnullerkonsum die Rede – also von Kindern, die tagein, tagaus den Nuckel nicht aus dem Mund nehmen. Darüber hinaus haben sämtliche Studien zum Thema Schnullergebrauch die große Schwäche, dass sie sich immer nur auf einen Aspekt der kindlichen Entwicklung fokussieren: Zahnärzte gucken auf die Zähne, Logopäden auf die Sprachentwicklung, Hals-Nasen-Ohren-Ärzte auf das bei Schnullerkindern tatsächlich leicht erhöhte Risiko für Mittelohrentzündungen. Doch Kinder sind mehr als ihre Zähne, ihre Sprache und ihr Ohr. Sie sind kleine Menschen mit ganz eigenen Bedürfnissen und Regulationsstrategien – und diese zu verändern braucht Zeit und Geduld und gewiss keinen Druck. Meinem eigenen Schnullerkind habe ich seinen Nuckel deshalb nie weggenommen. Stattdessen wurde mein Schnuller-Management mit der Zeit einfach immer nachlässiger. Mal hatte ich auf dem Spielplatz keinen dabei, mal vergessen, einen zu den Großeltern mitzunehmen. Und dann ging es auch ohne, nach und nach. Mein Kind lernte neue Strategien zur Selbstberuhigung und vergaß darüber irgendwann, beim Einschlafen nach seinem Nuckel zu fragen. Mag sein, dass mir nun Zahnärzte böse Briefe schreiben. Ich bleibe dabei: Schnuller mögen suboptimal für die Zähne sein, aber manchmal sind sie wichtig für die Seele. Und sie einem Kind dann einfach wegzunehmen, wäre unverhältnismäßig und gemein.
Nora Imlau schreibt als freie Autorin für ELTERN, sie hat einen erfolgreichen Blog (nora-imlau.de) und viel Erfolg mit Bestsellern wie "So viel Freude, so viel Wut", Kösel, 20 Euro, oder "Mein Familienkompass", Ullstein, 22,99 Euro.