Heute Morgen waren es die Schuhe. Die waren nämlich die falschen, fand meine Zweijährige, die richtigen waren zu klein geworden. "Komm schon, die Schuhe sind doch auch ganz schön", säuselte ich. "NEIN!", brüllte das Kind und warf die Schuhe in die Küche. "Doch!", sagte ich, sammelte die Schuhe auf und versuchte, mein strampelndes Kind festzuhalten, um sie ihm anzuziehen und endlich loszukommen. Ich hatte keine Chance. Tobend stemmte sich meine kleine Tochter mit all ihrer Kraft gegen meinen Klammergriff, sie kämpfte, als ginge es um ihr Leben und nicht um ein Paar selbst ausgesuchter Halbschuhe in Größe 27.
Es war kurz vor halb neun. Wir mussten dringend los. Und natürlich dachte ich in diesem Moment: Warum ausgerechnet jetzt dieses Drama? Doch weil meine kleine Tochter das Glück hat, mein viertes Kind zu sein, wusste ich auch: All das, was hier gerade passiert, ist nicht ihre Absicht und nicht ihre Schuld. Hier entwickelt sich einfach nur ein kleines Gehirn so rasant wie nie – und ist gleichzeitig völlig überfordert von den Anforderungen unserer Welt.
Dass ich mittlerweile Vorträge über die Gehirnentwicklung im Kleinkindalter halten könnte, hat einen einfachen Grund: Die sogenannte Autonomiephase zwischen eineinhalb und fünf war bereits bei meinem ersten Kind wirklich schwer, und bei meinem zweiten war es der absolute Horror. Denn dieses Kind tobte, kämpfte, wütete und schrie, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich dachte ernstlich, ich wäre die schlechteste Mutter der Welt – und bereute meine Entscheidung sehr, beruflich über Kindererziehung zu schreiben, von der ich offensichtlich nichts verstand. Doch ich hatte nichts falsch gemacht, und auch nicht mein Kind. Es war einfach nur mit einer besonderen Persönlichkeitsstruktur zur Welt gekommen, für die ich seitdem den Begriff "gefühlsstark" verwende. Gefühlsstark deshalb, weil diese Kinder so unglaublich intensiv fühlen und uns diese Gefühle mit immenser Kraft entgegenschleudern. Weil diese große, tiefe Gefühlswelt aber auch eine große Stärke ist.
Die innere Alarmanlage
Und warum fühlen diese Kinder so? Weil ihr Gehirn ein kleines bisschen anders funktioniert. Ihre sogenannte Amygdala – ein mandelkerngroßes Hirnareal, das von Hirnforschern manchmal auch unsere "innere Alarmanlage" genannt wird – ist besonders sensibel für Reize und Stress. Und versetzt ihren Körper deshalb schneller in einen Alarmzustand als andere Kinder. Diesen Alarmzustand kennen wir alle: Es ist der Kampf-oder-Flucht-Modus, mit dem wir auf Gefahrensituationen reagieren. Nur, dass bei gefühlsstarken Kindern schon eine heruntergefallene Kugel Eis einen solchen Alarm auslösen kann. Oder das falsche Paar Schuhe.
Womit wir wieder bei meiner wütenden Zweijährigen wären. Die fühlt nämlich auch ausgesprochen intensiv und wird entsprechend häufig regelrecht durchgeschüttelt von den Gefühlsstürmen in ihrem Inneren. Und das Einzige, was ihr in diesen Momenten helfen kann, ist ein Gegenüber, das ruhig und freundlich bleibt, anstatt selbst auch noch wütend zu werden.
Das ist schwerer, als es klingt. Die Atemübungen aus dem Geburtsvorbereitungskurs helfen dabei sehr. Und ein Satz, den ich mir in der Autonomiephase meines gefühlsstarken Kindes immer wieder selbst gesagt habe: "Mein Kind macht kein Drama. Es erlebt eins." Denn genau das ist für mich der Schlüssel, um sanft bleiben zu können: mir klarzumachen, dass mein Kind gerade kein Theater spielt und nicht übertreibt. Sondern mir zeigt, wie es sich fühlt, auch wenn mir der Grund nichtig vorkommen mag. Meine Freundin, die Künstlerin Maria Herzog alias wildwasserfarben, hat dieses mutmachende Mantra mittlerweile in ein Poster verwandelt, das sich Eltern in den Flur hängen können. Denn meist spielen sich die Dramen ja genau da ab: wenn man dringend losmuss und das Kind aus irgendeinem Grund den Absprung nicht schafft.
Zeit für Rücksicht
Auch bei uns hängt dieses Bild. Und der Blick darauf hilft mir auch heute Morgen mal wieder, aus meiner eigenen Wut herauszufinden und zu einer sehr pragmatischen Lösung zu kommen: Ich wickle meine kleine Tochter in eine Decke und bringe sie mit dem Bollerwagen zur Kita – ohne Schuhe an den Füßen. Die stopfe ich in eine Tüte und überreiche sie der Erzieherin an der Tür. Sie wundert sich ein bisschen über mein Kind, das erhobenen Hauptes in Strümpfen in die Kita marschiert. Aber ich weiß: Für das kleine, wachsende Gehirn meiner Tochter war dieser Moment vorhin Gold wert.
Ja, manchmal können wir keine Rücksicht nehmen auf die kleinen Dramen unserer Kinder. Aber oft können wir es doch. Damit befeuern wir die Dramen nicht, sondern helfen dem Kind im Gegenteil dabei zu lernen, seine Emotionen zu regulieren. Und das ist die beste Basis dafür, dass aus kleinen Dramen mit den Jahren keine großen werden.
Nora Imlau schreibt als freie Autorin für ELTERN, sie hat einen erfolgreichen Blog ("nora-imlau.de") und viel Erfolg mit Bestsellern wie "So viel Freude, so viel Wut", Kösel, 20 Euro, oder "Mein Familienkompass", Ullstein, 22,99 Euro.
Wunderbar zum Vorlesen: "Und was fühlst du, Känguru? Ein Mutmachbuch für alle gefühlsstarken Kinder" von Nora Imlau und Lisa Rammensee, Carlsen Verlag, 10 Euro, ab 2 J.