Fluch und Segen zu gleich: Geschwister kann man sich nicht aussuchen und doch besteht meist eine enge und innige Beziehung zwischen ihnen. Als Eltern wünschen wir uns zwischen unseren Kindern Harmonie, freuen uns, wenn die Kleinen gemeinsam spielen, zu Verbündeten werden und wollen bestenfalls jeden Streit sofort schlichten. Doch warum gelegentliche Streitigkeiten unter Geschwistern sogar vorteilhaft sind und wie wir uns in aufgeheizten Situationen verhalten können, erklären wir im Artikel.
Das Wichtigste auf einen Blick
- Geschwister lernen durch die Interaktion miteinander, entwickeln soziale Kompetenz und formen ihren Charakter. Durch Streitigkeiten erlernen die Kinder eine gute Streitkultur.
- Jüngere Geschwister können durch ihre älteren Brüder oder Schwestern häufig früher lesen, schreiben und rechnen und erlangen früh ein soziales Verständnis.
- Kinder müssen nicht gleich behandelt werden, sondern gerecht. Es ist wichtig ihre Bedürfnisse dabei entsprechend ihres Alters und ihrer Stärken und Schwächen als Anhaltspunkt zu nehmen.
- Unterschiede des Charakters oder der Leistungen der Geschwister hervorzuheben oder zu vergleichen ist nicht ratsam.
- Es ist gut, wenn Geschwister lernen, ihre Streitigkeiten selbstständig zu lösen. Wenn man doch dazwischen gehen muss, ist es gut, die Kinder dabei zu unterstützen, sich zu vertragen anstatt einen "Schuldigen“ zu finden. Das ist häufig gar nicht möglich und führt im schlimmsten Fall zu unfairen Bestrafungen.
So helfen sich Geschwister untereinander
Die Beziehung zwischen Geschwistern könnte man plump als eine Schicksalsgemeinschaft bezeichnen. Kinder können sich ihren Bruder oder ihre Schwester nicht aussuchen und auch nicht, ob sie der jüngere oder ältere Part im Geschwisterkonstrukt sind. Sie werden als Nesthäkchen, Sandwichkind oder als ältestes Geschwisterkind geboren. Dadurch entstehen aber auch für jedes Kind bestimmte Charakterzüge, Erfahrungen sowie Stärken und Schwächen, die laut Wissenschaftler:innen in dieser Form nur unter Geschwistern oder anderen Gleichaltrigen entstehen können, mit denen vermehrt Zeit verbracht wird (etwa in der Kita).
Jüngere Geschwister können beispielsweise sehr viel von ihren älteren Geschwistern lernen. So können die Jüngeren häufig früher lesen, schreiben und rechnen, da sie den Älteren nacheifern wollen. Außerdem schauen sich jüngere Geschwister sehr viele Verhaltensweisen von ihren größeren Brüdern und Schwestern ab. "Tatsächlich deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass das soziale Verständnis der Kinder in vielen Fällen durch die Interaktion mit Geschwistern beschleunigt wird“, sagte Dr. Hughes in einer Studie von der Universität Cambridge. Weiter erklärt sie: "Einer der Hauptgründe dafür scheint zu sein, dass Geschwister ein natürlicher Verbündeter sind. Sie sind oft auf der gleichen Wellenlänge, und es ist wahrscheinlich, dass sie sich auf die Art von Scheinspielen einlassen, die Kindern helfen, ein Bewusstsein für mentale Zustände zu entwickeln."
Auch die älteren Kinder profitieren von ihrer Vorbildrolle. Es stärkt ihr Selbstvertrauen und ihr Verantwortungsgefühl nimmt zu.
Geschwister: Eine Hassliebe mit positiven Folgen für die Entwicklung
So förderlich Geschwister füreinander sein können, so kann Geschwisterliebe auch innerhalb von Sekunden in Hass und Streit ausarten. Was mit harmonischem Spielen, Geheimsprache und bedingungslosem Zusammenhalt anfing, schwenkt nicht selten in Konkurrenzkämpfe, Machtspielchen oder in "sich-ungerecht-behandelt-fühlen“ um. Dennoch ist die Beziehung zwischen Geschwistern eine einzigartige und hält oft ein Leben lang.
Wenn sich unsere Kleinen mal wieder ordentlich fetzen, gilt es Ruhe zu bewahren. Der Drang eingreifen zu wollen, ist verständlich, aber nicht immer nötig und vor allem nicht immer förderlich. Denn wenn unsere Kinder eines aus Streitsituationen mit dem Bruder oder der Schwester lernen, dann den Umgang mit Konflikten. Der Studie der Universität Cambridge zufolge sind streitende Geschwister sozial kompetent und lernen, eine gute Streitkultur zu entwickeln. Das fördert auch die Entwicklung des Charakters, hat Einfluss auf das Selbstbild des Kindes und die Persönlichkeit. Laut der Studie nimmt dadurch das soziale Verständnis des jüngeren Kindes rasch zu. Selbst bei offensichtlicher Geschwisterrivalität, wenn beispielsweise ein Kind das andere hänselt oder streitet. Jüngere Geschwister, die schon im Kleinkindalter Streitsituationen erleben, können sich demnach ab einem Alter von sechs Jahren fast gleichberechtigt über Gefühle unterhalten, wie ihre älteren Geschwister, da sie häufig mit der emotionsgeladenen Sprache des oder der Älteren konfrontiert wurden.
Rivalität nach Geburt des zweiten Kindes
Ist es erstmal so weit und nach dem ersten folgt das zweite Kind, kann es für das erstgeborene hart werden. Der Wettstreit um die Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern beginnt oft, sobald Mama und Papa sich verstärkt um das Baby kümmern müssen. Das ist sowohl für das ältere Kind als auch für die Eltern oftmals schwer zu ertragen. Aber diese Situation ist ganz normal und jedes Familienmitglied wird sich an die neue Situation gewöhnen. Psycholog:innen nennen diese Entwicklung beim älteren Kind "Entthronisierung“. Jetzt kommt es darauf an, dem Erstgeborenen zu zeigen, dass die Liebe zu ihm durch das zweite Kind nicht gemindert wird. Hilfreich für eine konfliktarme Eingewöhnung der oder des Erstgeborenen ist das Einbinden in die Versorgung des neuen Geschwisterchens. Nicht nur Mama und Papa dürfen es streicheln, baden und füttern, auch Kind Nummer eins sollte eigene Aufgaben bekommen. Nichtsdestotrotz bleibt es ein Balanceakt und Frustration und Ärger können trotzdem entstehen.
Gerechtigkeit statt Gleichbehandlung: So verhalten wir Eltern uns fair
Bei jeglicher Art des Konfliktes zwischen Geschwistern kann es hilfreich sein, gezielt auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes einzugehen und nicht sofort schlichtend eingreifen zu wollen. So können Kinder besser lernen, Streit selbst aufzulösen. Wenn wir doch mal dazwischengehen müssen, ist es ratsam, die Geschwister dabei zu unterstützen, sich zu vertragen. Ungünstig ist es, wenn wir selbst einen "Schuldigen“ benennen. Das ist häufig gar nicht möglich und führt im schlimmsten Fall zu unfairen Bestrafungen.
Auch eine Gleichbehandlung ist nicht empfehlenswert. Gleichbehandlung fühlt sich oft gerecht an, ist aber in vielen Fällen unfair und kann neue Konfliktherde schaffen. Denn jedes Kind hat andere Bedürfnisse – aufgrund seines oder ihres Alters, der Persönlichkeit und des Entwicklungsstands. Beispielsweise ist es verständlich, dass das ältere Kind länger wach bleiben darf und das jüngere nicht den Tisch abräumen muss.
Trotzdem ist es ratsam, die individuellen Stärken und Schwächen jedes Kindes nicht plakativ hervorzuheben und mit dem anderen Kind zu vergleichen. Denn dadurch kann Missgunst und Rivalität unter den Geschwistern entstehen. Sätze wie "Schau mal, wie gut deine Schwester das schon kann“ oder "Dein Bruder hat das auch geschafft“, können dem Kind vermitteln, dass es weniger kann als das Geschwisterkind. Besser wäre es in solchen Situationen das Bündnis zwischen den Geschwistern zu stärken, indem man sie sich gegenseitig unterstützen lässt und vor allem nicht die gleichen Dinge von dem einen auch von dem anderen zu erwarten. Jedes Kind ist ein Individuum mit eigenen Stärken und Schwächen. Wenn wir diese erkennen und vor allem anerkennen, können Geschwister auch besser mit Unterschieden umgehen.
Ohne Geschwister: Was Einzelkinder fördert
Kinder, die ohne Geschwister aufwachsen, können von denselben Vorteilen profitieren, die Geschwisterkinder haben. Solange sie schon früh mit Gleichaltrigen zusammenkommen, beispielsweise in der Kita, dem Kindergarten oder bei Verabredungen mit anderen Kindern, entsteht dem Einzelkind kein Nachteil.
Quellen:
Newsletter zur Panelstudie "Gesundheitsverhalten und Unfallgeschehen im Schulalter“ von der Frankfurt University of Applied Sciences
Studie „Sibling rivalry an brotherly love“ der University of Cambridge von Claire Hughes www.cam.ac.uk/research/news/sibling-rivalry-and-brotherly-love