Am Anfang, am Tag der Geburt, ist die Sache für die meisten von uns klar: Dieses kleine Wunderwesen, das da gerade aus unserem Bauch in die Welt gerutscht kam, ist perfekt und was ganz Besonderes: anrührend, wunderschön, so süß! – und logisch, schlau ist es natürlich auch. Es wird bestimmt später mal was richtig Tolles machen …
Doch dann irgendwann kommt unser Kind zur Schule. Wenn wir Glück haben, flutscht es auch dort. Wahrscheinlich ist das aber nicht unbedingt. Wahrscheinlich ist, dass es immer mal wieder ruckelt: Unser Kind kapiert schon in der ersten Klasse den Zehnerübergang nicht oder verwechselt noch in der dritten ständig Tu- und Wiewort. Es hat keinen Bock auf Hausaufgaben und schreibt im Test über die europäischen Hauptstädte eine Fünf, obwohl wir zwei Wochenenden lang geübt haben.
Vielen von uns fällt es dann schwer, gelassen zu bleiben. Nicht nur, weil die Akademisierung unserer Gesellschaft immer weiter zunimmt. Und weil die Erwartung, dass die Kinder Abitur machen, in der Mittelschicht schon fast zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Sondern auch, weil es uns durchaus persönlich kränkt, wenn unser Kind in der Schule nicht zu den Guten gehört. Kann es denn wirklich sein, dass es nicht so schlau ist, wie wir dachten?
Am liebsten würden wir dann tief hineinschauen in dieses kleine Hirn und in jeder Windung nach der (bestimmt nur verborgenen) Intelligenz des eigenen Kindes fahnden.
Das Verlockende: Es gibt Tests, die das können. Intelligenztests.
Und weil wir gelernt haben, dass wir mit Wissen und Fakten, Zahlen und Werten die Dinge oft ganz gut unter Kontrolle bekommen, erscheint uns ein IQ-Test oft naheliegend.
Angeboten werden sie zum Beispiel beim Schulpsychologen oder in einer Beratungsstelle für Hochbegabte. Auch im Internet. Letzteres allerdings ist nicht immer seriös – und:
„Ohnehin braucht es immer einen guten Grund für so einen Test. Reine Neugier oder ein paar Vierer und Fünfer gehören nicht dazu“, sagt Dr. Nicole von der Linden, stellvertretende Direktorin der Begabungspsychologischen Beratungsstelle an der Uni Würzburg. „Wenn es aber um die Frage geht, ob ein möglicherweise hochbegabtes Kind früher eingeschult werden oder eine Klasse überspringen soll, ist ein IQ-Test absolut sinnvoll.“
Und oft auch dann, wenn sich ein Kind langfristig echt schwertut in der Schule – und niemand so recht weiß, warum und wie man ihm helfen kann.
Tatsächlich liefern IQ-Tests von allen psychologischen Testverfahren die stabilsten und aussagekräftigsten Werte. Für jede Altersgruppe gibt es maßgeschneiderte Fragenkataloge. Sie beleuchten differenziert die Fähigkeiten eines Kindes: Sprachliches Können wird genauso überprüft wie logisches Denken, Aufmerksamkeit ebenso wie das Arbeitsgedächtnis oder die Verarbeitungsgeschwindigkeit. Die Ergebnisse liefern einzelne Werte für alle Teilbereiche. Das ist praktisch, um herauszufinden, wo es konkret hapert: Ist es die Konzentrationsfähigkeit oder das räumliche Denken? Gibt es Probleme im sprachlichen Bereich, oder wird das Kind durch eine schlechte Verarbeitungsgeschwindigkeit gebremst? Im Idealfall findet man also nicht nur die Ursachen für Schulprobleme, sondern bekommt auch Ideen für konkrete Hilfe.
Gar nicht so selten bleibt am Ende von solchen Tests aber nicht viel mehr übrig als eine Zahl.
Zwar geben seriöse Intelligenztests immer ein Intervall an, in dem sich die Intelligenz des Getesteten mit hoher Wahrscheinlichkeit bewegt. Aber beim Laien bleibt dann trotzdem oft nur der Durchschnittswert aller getesteten Bereiche hängen. Ein Wert, der einem Kind zwangsläufig einen Stempel aufdrückt. Die Intelligenz-Skala ist da ziemlich gnadenlos. Ein IQ-Wert von 100 markiert den Mittelwert. Der Bereich zwischen 85 und 115 IQ-Punkten gilt als durchschnittlich. Bei einem IQ von 130 aufwärts beginnt die Hochbegabung, bei einem IQ von 70 abwärts spricht man von geistiger Behinderung.
Die klassische Intelligenzforschung stellt das vor gut 100 Jahren entwickelte IQ-Konzept bis heute nicht wirklich infrage. Sie belegt in unzähligen Studien, dass der IQ gut dafür geeignet sei, nicht nur etwas über das intellektuelle Potenzial eines Menschen zu sagen, sondern ganz konkret auch etwas über seinen wahrscheinlichen Erfolg in Schule, Beruf und Leben. Wie intelligent ein Mensch ist, beeinflusse auch seine Zufriedenheit, seine Gesundheit, sein Einkommen und sogar, wie lange er lebe.
Heruntergebrochen auf die eigene kleine Familie können solche wissenschaftlichen Erkenntnisse zu reichlich Frust führen.
Was macht es mit den Beteiligten, wenn der IQ-Test eines Kindes nur eine unterdurchschnittliche kognitive Begabung attestiert? Oder auch eine überdurchschnittliche, aber eben keine, die eine Hochbegabung erkennen ließe, obwohl die Eltern das vielleicht gehofft hatten? Es verändert den Blick aufs Kind, öffnet ihn für Mängel und Makel, lässt ihn erst mal verschwimmen für all das andere Liebenswerte im Kind.
„Damit das nicht passiert, verwenden wir in unserer Beratung viel Zeit darauf, den Eltern das Testergebnis genau zu erklären“, sagt Dr. von der Linden. Dieses Ergebnis lasse zwar ziemlich verlässlich Aussagen über die kognitive Begabung eines Kindes zu und damit auch über seine voraussichtlichen Schulleistungen. „Aber wir sagen immer auch sehr eindringlich, dass der Test nichts über alle anderen Begabungen eines Kindes sagen kann, etwa im sportlichen, kreativen oder sozialen Bereich.“ Deshalb könne der wissenschaftlich erwiesene Zusammenhang zwischen IQ und Lebenserfolg auch nie ein 1:1-Zusammenhang sein.
Andere Wissenschaftler bezweifeln trotz Studien, dass es diesen Zusammenhang überhaupt gibt.
Die Meinungen gehen da unter den Forschern der verschiedenen Fachrichtungen weit auseinander, mitunter wird die Debatte sehr emotional geführt. Soziologen und Pädagogen betrachten die Dinge anders als die klassischen Intelligenzforscher. Christof Kuhbandner etwa, er ist Professor für pädagogische Psychologie an der Universität Regensburg. Wenn es um die Frage geht, wie relevant die Intelligenz eines Menschen für sein Lebensglück ist, muss er ausholen: „Alles beginnt mit der weit verbreiteten Annahme, dass Intelligenz etwas Angeborenes und kaum Veränderbares ist.“ Und mit dem Glauben, dass nur die Menschen mit hohem IQ auch zu hohen Leistungen und Erfolg fähig wären. Das genau aber sehe er völlig anders, so Kuhbandner. „Ein hoher IQ sagt nichts über das eigentlich vorhandene Potenzial eines Kindes aus. Ein Kind kann sein Potenzial etwa aufgrund fehlender Motivation oder eines wenig anregenden Umfeldes bisher noch nicht ausgeschöpft haben.“
Die Fähigkeit, ein Problem erfolgreich zu lösen, hänge immer von zwei Aspekten ab: „Vom vorhandenen Potenzial der ‚Hardware‘, wie zum Beispiel der Gedächtniskapazität, und von der Qualität der erworbenen ‚Software‘, wie zum Beispiel dem angeeigneten Wissen“, sagt Kuhbandner. So werde das Hardwarepotenzial eines Kindes zwar von den Genen beeinflusst. Allerdings sei das allgemeine Potenzial von Kindern generell so hoch, dass die Fähigkeit zur konkreten Problemlösung von der erworbenen Software abhänge. „Sprechen lernen ist beispielsweise eine der komplexesten geistigen Fähigkeiten des Menschen“, so Kuhbandner. „Und wenn das Potenzial eines Kindes ausreichend war, um erfolgreich sprechen zu lernen, sollte es prinzipiell auch viele andere komplexe Dinge lernen können, wenn es dazu motiviert ist und didaktisch gut begleitet wird.“
Was das alles für uns bedeutet?
Selbst wenn Wissenschaftler darüber streiten, in welchem Maß Intelligenz genetisch in uns festgelegt ist und welche Rolle sie für unser Leben spielt, so sind sie sich doch einig: Intelligenz ist – in einem gewissen Rahmen und bis ins junge Erwachsenenalter – beeinflussbar, und zwar nicht nur von Eltern, die fördern und an ihr Kind glauben, sondern auch von anderen guten Mentoren, vom Willen und nicht zuletzt vom Zufall.
Für alle Eltern, die angesichts der hohen gesellschaftlichen Wertschätzung von Intelligenz, guten Schulabschlüssen und akademischen Graden trotzdem von Zeit zu Zeit Schweißausbrüche bekommen, sei gesagt: Auch ein durchschnittlich schlaues Kind kann später mal was richtig Tolles schaffen.
Vielleicht wird es nicht unbedingt Professor für theoretische Physik. Aber es gibt ja auch noch ein paar andere spannende Berufe auf dieser Welt, die glücklich und zufrieden machen können.
Plötzlich hochbegabt?
Dass der IQ eine veränderbare Größe ist, zeigt sehr eindrücklich auch der sogenannte Flynn-Effekt. Er beschreibt das Phänomen, dass die Menschen immer intelligenter geworden sind – der durchschnittliche IQ hat von 1909 bis 2013 um knapp 30 Punkte zugenommen. Da solche gravierenden Veränderungen im menschlichen Genpool in so kurzer Zeit nicht möglich sind, kann ein derart starker IQ-Anstieg also fast nur mit Umwelteffekten wie besserer Ernährung oder Bildung erklärt werden.
Interview: „Wir sollten machen, was wir können“
Viel wichtiger als der Blick auf irgendwelche Intelligenzwerte ist der Blick auf die wirklichen Begabungen – und die hat jedes Kind! Auf der Suche nach ihnen sollten Kinder viel besser begleitet werden, findet Prof. Aljoscha Neubauer, Professor für Differentielle Psychologie an der Uni Graz.
ELTERN: Herr Neubauer, hat eigentlich jedes Kind eine Begabung – völlig unabhängig von seiner Intelligenz?
Herr Neubauer: Natürlich! Wenn man so will, ist Intelligenz ja auch nur eine Begabung in einem Teilbereich, nämlich der Kognition. Aber man kann auch noch in vielen anderen Bereichen begabt sein, etwa im sozialen, sportlichen, praktisch-technisch oder kreativen Bereich. Diese Leistungsbereiche wurden in der wissenschaftlichen Psychologie lange vernachlässigt.
E: Wenn man in die Schulen guckt, zeigt sich oft ein ähnliches Bild: Was zählt, ist nicht etwa eine Begabung in Kunst oder Sport, sondern die in Mathe oder Deutsch. Läuft da was schief?
HN: In vielen Schulen fehlt leider insgesamt der breite Blick auf die Talente der Kinder, das liegt am System. Nach der Grundschule wird das etwas besser. Es gibt da durchaus Schulen, die ein sehr differenziertes Profil haben, etwa im kreativen oder technischen Bereich. Es lohnt sich, genau hinzuschauen und eine Schule auszusuchen, die gut zu den Begabungen des Kindes passt. Insgesamt vermisse ich aber den Fokus auf die spätere Berufswahl. Ich finde, es müsste ein eigenes Unterrichtsfach dazu geben – mindestens in den letzten beiden Jahren der Schullaufbahn. Wenn man sich anschaut, wie viele Lehren und Studiengänge später abgebrochen werden, gibt es da dringend Nachholbedarf.
E: Wie finde ich als Eltern heraus, welche Begabungen mein Kind hat?
HN: Das ist gar nicht so einfach. Man muss sich als Erstes bewusst machen, dass Begabungen nicht das gleiche sind wie Interessen. Interessen können sich schnell ändern und sind von außen stark beeinflusst – von Stereotypen, von unserer Umwelt, unseren Freunden. Begabungen hingegen sind das, was wir richtig gut können. Sie liegen tiefer in uns drin und sind deshalb wesentlich stabiler.
Häufig glauben Eltern, dass ihre Kinder in dem Bereich begabt sind, für den sie sich brennend interessieren. Empirisch lässt sich dieser Zusammenhang leider nicht bestätigen. Wer sich für Autos interessiert, ist später noch lange kein guter Mechaniker, weil er vielleicht keine Begabung in der Auge-Hand-Koordination oder im räumlichen Denken hat. Aber vielleicht ist er ein guter Autoverkäufer, weil er toll mit Menschen umgehen kann.
E: Viele Jungs glauben, richtig gut im Fußball zu sein und sehen sich schon als Profi-Fußballer. Manche Mädchen träumen, getriggert durch diverse Fernsehshows, von einer Karriere als Model oder Popstar. Stimmt die Annahme, dass Selbsteinschätzung und tatsächliche Begabung manchmal ganz schön weit auseinanderklaffen?
HN: Eine leichte Selbstüberschätzung kann durchaus auch hilfreich sein. Man sucht sich dadurch ja automatisch höhere Ziele aus und legt mehr Selbstdisziplin an den Tag, um sie zu erreichen. Das ist ja durchaus wünschenswert. Eine massive Überschätzung der eigenen Fähigkeiten in einem bestimmten Bereich kann allerdings auch zu herben Enttäuschungen führen.
Viele Studien zeigen übrigens, dass die meisten Menschen, auch Erwachsene, ziemlich schlecht darin sind, sich realistisch einzuschätzen. Ein Beispiel zum Schmunzeln: Bei einer Untersuchung waren 90 Prozent der befragten Männer davon überzeugt, bessere Autofahrer zu sein als alle anderen. Da kann natürlich etwas nicht stimmen.
E: Wie kommen wir zu einer realistischeren Einschätzung?
HN: Durch den Blick von außen. Oft können uns andere Menschen wesentlich präziser einschätzen als wir selber. Eltern sind darin besser als Kinder, Lehrer oft sogar noch besser als Eltern.
E: Woran liegt das?
HN: Je mehr Abstand die Person zu uns hat, desto objektiver kann sie uns beraten. Je mehr Personen wir um eine Einschätzung bitten, desto vollständiger wird das Bild. Eltern neigen manchmal auch dazu, ihre Kinder zu positiv einzuschätzen. Sie generalisieren kleine Erfolge und bagatellisieren die Misserfolge. Das ist ganz normal, wir machen das mehr oder weniger alle. Lehrer haben zudem bessere Vergleichsmöglichkeiten als Eltern. Sie sehen das Kind in einer Gruppe und vor allem auch in einem Leistungskontext. Älteren Schülern, die vor der Frage stehen, welchen Beruf sie ergreifen wollen, rate ich auch gerne zu einer psychologische Berufsberatung. Die hat auch den Charakter mit im Blick: Ist jemand introvertiert oder extrovertiert? Ist er gewissenhaft oder eher fahrig? Ist er emotional oder rational veranlagt?
E: Wie wichtig ist es denn ganz konkret, genau über seine Begabungen Bescheid zu wissen?
HN: Es ist sehr hilfreich in Bezug auf ein zufriedenes Arbeitsleben. Wenn wir machen, was wir gut können, ist das sehr befriedigend. Und für Menschen, die richtig Karriere machen wollen, sogar essenziell. Wir alle wünschen uns doch einen Job, in dem wir richtig gut sind, in dem wir vielleicht sogar manchmal Raum und Zeit vergessen, weil er uns so begeistert. Wer seinen Job nach seinen Begabungen ausgesucht hat, kommt am ehesten in diesen Flow.