Der Blick meines Babys verhieß nichts Gutes. "Was hast du dir denn jetzt schon wieder für einen Quatsch ausgedacht, Mama?", schien er zu sagen. Und: "Kannst du mich aus dieser misslichen Lage bitte schnell wieder befreien?" Grund für den Unmut meiner kleinen Tochter war das Handtuch, das ich zusammengerollt und ihr unter den Brustkorb geschoben hatte, um sie zu ermutigen, in Bauchlage nicht einfach flach wie eine Flunder auf der Krabbeldecke zu liegen, sondern das Köpfchen zu heben und die Arme aufzustützen. Das Handtuch, hatte ich gelesen, würde mein Baby bei seiner natürlichen Bewegungsentwicklung unterstützen. Meine kleine Tochter schien dieses Memo jedoch nicht bekommen zu haben. Unzufrieden ruckelte sie auf ihrer Handtuchrolle hin und her und sah wie ein kleines gestrandetes Walross aus, das verzweifelt versucht, zurück ins Meer zu kommen.
Denke ich heute an dieses Bauchlagen-Training zurück, fällt es mir schwer, nachzuvollziehen, was mich damals geritten hat. Dachte ich wirklich, mein gerade mal drei Monate altes Baby müsste von mir beigebracht bekommen, dass man nicht sein ganzes Leben im Liegen verbringen kann? Tatsächlich war der Grund wohl viel profaner: Ich war ungeduldig und wollte, dass mein Baby endlich mehr kann.
Jeden neuen Entwicklungsschritt konnte ich kaum erwarten: Wann greift es endlich, wann kullert, wann krabbelt es? Befeuert wurde dieser Ehrgeiz durch die anderen Babys, die ich in Krabbelgruppen und Babymassagekursen traf und die in ihrer Entwicklung oft schon ein bisschen weiter schienen als mein eigenes Kind. Meine Tochter war als Baby nämlich eher von der gemütlichen Sorte: Bis sie mal zu krabbeln anfing, war sie fast ein Jahr alt. Da spazierten manche Gleichaltrige schon längst auf zwei Beinen durch die Gegend. Die Eltern waren natürlich stolz: Was unser Baby jetzt schon kann! Und wir anderen, deren Babys noch nicht so weit waren, fragten uns im Stillen, ob wir nicht vielleicht doch irgendwie den Lernfortschritt noch etwas besser unterstützen könnten. Vielleicht mit einem Lauflernwagen?
Und wie ist es heute?
Jedenfalls: Irgendwann kurz nach ihrem ersten Geburtstag lernte meine Tochter ganz von selbst laufen und sprechen und singen, und später lernte sie alle Farben, alle Buchstaben, das Zählen und das Rechnen, und gerade jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, sitzt sie in der Bahn nach Berlin zur Abschlussfahrt der neunten Klasse, und niemand interessiert sich dafür, welche ihrer Freundinnen mit zehn Monaten schon laufen konnte und welche erst mit anderthalb Jahren.
Wir Eltern sind uns einig, dass unsere Kinder viel zu schnell groß geworden sind und dass wir lieber mal ein bisschen entspannter gewesen wären, was die ganzen Baby- und Kleinkind-Meilensteine angeht. Denn so sehnsüchtig wir viele Entwicklungsschritte auch erwartet haben – bei genauerem Hinsehen haben sie unser Leben selten wirklich leichter gemacht. Ein Baby, das noch nicht mobil ist, ist zum Beispiel eine ziemlich praktische Angelegenheit – wie man feststellt, wenn das Baby dann robben kann und von der Klobürste bis zum Mülleimer nichts mehr vor ihm sicher ist. Und so rührend das erste "Mama!" auch sein mag – die millionenfache Wiederholung dieses Wortes in den darauffolgenden Jahren kann durchaus eine gewisse Nervenprobe darstellen.
Nicht falsch verstehen: Es ist toll und wichtig, dass unsere Kinder sich entwickeln, groß werden und neue Dinge lernen. Aber es gibt wirklich keinen Grund, diese Entwicklung auch noch künstlich zu beschleunigen. Bei meinem jüngsten Kind war mir das besonders bewusst – sicher auch, weil ich wusste, dass es unser letztes sein würde. Anstatt die Entwicklungsmeilensteine herbeizusehnen wie bei meinem ersten Kind, blieb ich nun ganz im Hier und Jetzt. Genoss die Neugeborenenzeit, in der die Kleinen so anschmiegsam und bedürftig sind wie sonst nie mehr, das erste halbe Jahr, in der der Baby-Radius noch so klein und die Sehnsucht nach Nähe so groß ist, das zweite halbe Jahr, in der die süßen Babylaute zunehmen und den Weg zu den ersten verständlichen Worten bahnen, wann immer sie auch kommen. Ich ließ mein Baby ein Baby sein und mein kleines Kind ein kleines Kind. Ich wusste ja, dass sie kommt, die Selbstständigkeit. Dafür kann es vielleicht keinen besseren Reminder geben als einen Teenager im selben Haushalt, der gerade flügge wird.
Unabhängigkeit in unserer Gesellschaft
Doch warum fällt uns das gerade beim ersten Kind oft so schwer? Ich glaube, es liegt auch daran, dass in unserer Gesellschaft Bedürftigkeit oft als Bürde und Unabhängigkeit als ein so hoher Wert gilt. Und kleine Kinder sind nun einmal bedürftig und zeigen uns jeden Tag, dass sie noch nicht ohne uns sein können. Ich glaube, dass wir lernen dürfen, diese Unselbstständigkeit nicht als Unfertigkeit anzusehen, sondern als wichtige Grunderfahrung: Wenn ich es brauche, wird mir geholfen. Und wenn ich groß werden will, dann darf ich das! Und Handtücher sind zum Abtrocknen da. Und nicht als Trainingsgerät.
Nora Imlau schreibt als freie Autorin für ELTERN, sie hat einen erfolgreichen Blog (nora-imlau.de) und viel Erfolg mit Bestsellern wie "So viel Freude, so viel Wut", Kösel, 20 Euro, oder "Mein Familienkompass", Ullstein, 22,99 Euro.