"Tschüss, jetzt habe ich keine Lust mehr!“ Meine sechsjährige Tochter verschränkt die Arme über der Brust, knallt die Tür und ist nicht mehr ansprechbar. Meist geht ein Streit mit der kleinen Schwester voraus, vielleicht habe ich verboten, mit einem Lolli im Mund Purzelbäume zu schlagen – aber manchmal auch: keine Ahnung, was so eine Reaktion hervorgebracht haben könnte. Danach folgt etwas, das mich regelmäßig zur Verzweiflung bringt: Schweigen. Stille Tränen. Ich gehe zu ihr: "Was ist los? Was können wir tun, damit du aus deiner Ecke kommst?" Aber sie sagt kein Wort, schmollt. Ich fühle mich dann hilflos, werde irgendwann sauer, weil ich gern für sie da wäre, aber sie mich nicht lässt. Warum regt mich dieses Verhalten bloß so auf? Müsste ich nicht souveräner damit umgehen können? Schließlich bin ich doch die Erwachsene!
Gern spricht natürlich keiner darüber, aber es gibt Wesenszüge unserer Kinder, die uns ganz schön nerven. Woran das liegt, erklärt Familientherapeutin Marthe Kniep so: "Wir sehen in ihnen bestimmte Eigenschaften, mit denen wir etwas verbinden, oft sind sie darin dem Partner sehr ähnlich – oder uns selbst. Ist so eine Ähnlichkeit willkommen, kann sie sich in einem Gefühl besonderer Nähe ausdrücken. Lehnen wir sie ab, wirkt sich das oft negativ auf die Beziehung zum Kind aus, auch wenn es überhaupt nichts dafür kann." Wie etwa eine Überängstlichkeit, mit der wir uns selbst früher oft im Weg standen. Oder ein Verhalten, das wir als theatralisch empfinden – obwohl wir uns in bestimmten Momenten ganz ähnlich aufführen. Kinder übernehmen instinktiv, was sie bei ihren Bezugspersonen wahrnehmen. Was genau sie sich abgucken, können wir uns aber leider nicht aussuchen. Und da wir uns gern selbst in unseren Kindern sehen, sind wir enttäuscht, Dinge vor Augen gehalten zu bekommen, die uns gar nicht passen.
"Reg dich doch nicht immer gleich so auf!" Diesen Satz sagen wir unserer kleinen Tochter Thea gefühlte hundert Mal am Tag. Aber sie regt sich eben auf, und wie, und das bei jeder Gelegenheit. Okay, sie ist drei, und Dreijährige gehen schnell mal an die Decke. Oder besser gesagt: auf den Boden. Dort rollt sie herum und tritt wild um sich, wenn sie ihren Willen nicht bekommt oder etwas nicht beim ersten Versuch gelingen mag. Mein Mann Steffen kommt damit am allerwenigsten klar. "Heute ist die Zündschnur bei Madame wieder extrem kurz", sagt er dann und verdreht die Augen. Natürlich weist er komplett von sich, dass er die Sache mit der Frustrationstoleranz auch nicht so richtig gut drauf hat. Wenn er handwerkliche Tätigkeiten ausführt (die ja per se nie sofort klappen!) oder die Parkplatzsuche länger dauert als zwei Minuten, dann flucht er dermaßen, dass ich jedes Mal erschrocken denke: Es ist etwas wirklich Schlimmes passiert! Ich unterstelle mal: Auch wenn er natürlich längst aus dem Alter raus ist, dass man so was bringen kann, würde er sich insgeheim auch am liebsten wütend auf den Boden werfen.
"Manchmal halten die Kinder ihren Eltern unbewusst einen Spiegel vor und konfrontieren sie durch ihr Verhalten mit Themen, zu denen sich die Eltern nicht angemessen reif oder klar verhalten", sagt Marthe Kniep. Und das kann manchmal ganz schön unangenehm sein.
Den Fokus nicht immer nur aufs Kind legen, sondern auch mal auf sich selber
Aber was sollen wir da machen? Wir können ja nicht aus unserer Haut, uns komplett verstellen, damit die Kleinen bloß nicht alle unsere Unarten übernehmen. Stimmt. Allerdings: Wenn ich mir selbst über ein paar Dinge bewusst werde, kann ich auf jeden Fall besser auf das reagieren, womit mich meine Kinder so auf die Palme bringen. Darum hilft es, nicht immer nur den Fokus aufs Kind zu legen, sondern mich auch mal selbst zu fragen: Wie geht es mir eigentlich gerade? Was fehlt mir im Moment? Sind die Kinder echt so stressig, oder bin ich im Dauerstress? Sind sie wirklich ständig überdreht, oder bin ich es, die mal Ruhe braucht? Und auch mal nachzuforschen, ob bei mir früher etwas zu kurz gekommen sein könnte, zu schauen, was eigentlich in dem Rucksack steckt, den jeder mit sich herumträgt. Diese Art der inneren Feldforschung kann sehr interessante Dinge zu Tage fördern.
Ich zum Beispiel habe mich lange gefragt, warum ich immer gleich in helle Panik verfalle, wenn meine Kinder wütend sind. Am liebsten möchte ich dann die Flucht ergreifen und weglaufen – mit 42! Das geht natürlich nicht, ich habe schließlich die Aufsichtspflicht! Klar, wenn die eigenen Kinder ausflippen, lässt das niemanden kalt. Aber mir wurde irgendwann klar, dass ich mich an keine einzige Situation aus meiner Kindheit erinnern kann, in der bei mir zu Hause mal jemand richtig sauer oder laut wurde. Gelebte Wut kannte ich überhaupt nicht. Seit ich das weiß, kann ich die Gefühle, die in mir hochkochen, besser einsortieren – und zumindest so gelassen bleiben, dass sich die Wogen nicht noch weiter auftürmen.
Wenn ich genau hinschaue, ahne ich auch, wie sich meine Tochter fühlt, wenn sie in den Schmollmodus schaltet. Mir fällt dabei ein Ausflug nach Spiekeroog mit meinen Eltern ein, da war ich in ähnlichem Alter. Ich erinnere noch, dass ich mich durch irgendetwas ausgeschlossen fühlte, und hielt diese gekränkte Stille den ganzen Tag durch – Sand, heißer Kakao und einem neuen Friesennerz zum Trotz. Und ich fürchte, auch heute verfalle ich noch in diese beleidigte Starre, wenn mir etwas nicht passt. Zu behaupten, "keine Ahnung, von wem sie das hat!", wäre also glatt gelogen.
"Wenn man selber aufgeräumt ist, kann man mit dem Chaos des anderen viel besser umgehen", sagt auch Familientherapeut Mathias Thimm: "Genau deshalb brauchen Kinder Eltern, die den Mut haben, sich mit diesen unbewussten Themen auseinanderzusetzen, die in ihnen arbeiten und oft eine Distanz zu den Kindern schaffen." Mir jedenfalls hilft es oft , an mein Spiekeroog-Gefühl zu denken, wenn meine Tochter sich wieder verkriecht.
Vorbildfunktion
"Wir brauchen unsere Kinder nicht erziehen, sie machen uns sowieso alles nach": Zwar ist an Karl Valentins Zitat eine Menge dran. Aber – und das ist die entlastende Nachricht für uns Eltern – sie haben eben auch andere Vorbilder: Eine Studie der Michigan State University ergab, dass Vorschulkinder sich besonders die Persönlichkeitsmerkmale ihrer gleichaltrigen Freunde abgucken – und zwar vor allem die positiven!
Erfahrungen
Um herauszufinden, warum bestimmte Verhaltensweisen unserer Kinder uns so aufregen und was das mit unseren eigenen Erfahrung zu tun hat, bietet Familien- und Traumatherapeut Mathias Thimm in Kooperation mit der Familienwerkstatt Familylab das Forschungsgespräch "Mein wunder Punkt – Was mich am meisten an meinem Kind stört" an. Damit wir zukünftig gelassener und souveräner agieren können (aktuell per Zoom, www.familie-in-berlin.de/familylab/Forschungsgespraech).