1. Kindergehirne sind formbarer als lange gedacht
Seitdem es die technischen Möglichkeiten gibt, durch bildgebende Verfahren dem Gehirn genauer beim Arbeiten zuzuschauen, kann man nachvollziehen, wie Erfahrungen die Gehirnstruktur beeinflussen. So kann zum Beispiel Konzentrationsfähigkeit nur entstehen, wenn ein Kind die Chance hat, sich in Ruhe mit sich selbst zu beschäftigen. Und Sprachgefühl entwickeln Kinder, wenn viel mit ihnen geredet wird.
Warum ist das so? "Das Gehirn ist aufgebaut wie eine Zwiebel", sagt Gerald Hüther. Im Innern sitzt der Hirnstamm, über den lebenswichtige körperliche Prozesse wie Atmung oder Verdauung gesteuert werden. Die darüberliegende "Zwiebelschicht" ist das limbische System: Dort werden Informationen aus dem Hirnstamm gebündelt - und als Gefühle wahrgenommen. Wir alle kennen das: Das Herz rast, Schweiß bildet sich auf der Stirn - wir haben Angst, sind vielleicht wie gelähmt.
Die äußerste Zwiebelschicht beherbergt das Bewusstsein
Dann gibt es noch eine weitere, die äußere Zwiebelschicht. Sie heißt Kortex und beherbergt das Bewusstsein. Ihm haben wir es zu verdanken, wenn wir die Angst in den Griff bekommen, zum Beispiel, weil wir aus Erfahrung wissen, dass wir eine bestimmte Situation meistern werden. Dann sendet der Kortex einen Impuls, der über die Gefühlsebene bis hin zum Hirnstamm reicht. Die Folge: Der Herzschlag wird ruhiger, die Schweißperlen auf der Stirn verschwinden.
Bei der Entwicklung des kindlichen Gehirns kommt es vor allem auf diese Bewusstseinsebene an. Gerald Hüther: "Beim Neugeborenen sind nur die unteren beiden Zwiebelschichten vorhanden. Die dritte Schicht, das Bewusstsein, muss erst noch gebildet werden. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Informationsbahnen, die je nach Aktivierung vom Trampelpfad zur Autobahn werden oder aber irgendwann ganz verschwinden, weil sie nicht genutzt werden.
Genau aus diesem Grund ist es nicht egal, ob eine Vierjährige nachmittags vor dem Fernseher sitzt oder mit Gleichaltrigen auf einem Abenteuerspielplatz spielt. Das Gehirn des Spielplatz-Kindes wird ein anderes werden als das des Fernseh-Kindes. Und mit einem anderen Gehirn ist ein Kind ein anderer Mensch.
2. Kindergehirne sehen heute anders aus als früher
Diese Erkenntnis hat einige Wissenschaftler erschüttert: Die Vielfalt und Komplexität der Nervenzellverknüpfungen im Sprachzentrum hat sich verringert. Offensichtlich der Grund dafür, dass viele Jugendliche sich heute mit einer vergleichsweise einfachen Sprache verständigen.
Dagegen ist der für die Steuerung des Daumens zuständige Bereich im Gehirn von Kindern und Jugendlichen seit der Einführung des Gameboys und der SMS-Technologie immer größer geworden.
Aber kommt es im Leben wirklich auf die Bewegung des Daumens an? Was ist wichtig für Fünf-, Zehn-, Zwölfjährige? In diesem Zusammenhang müssen wir Eltern uns fragen, ob wir unseren Kindern vor dem Hintergrund der allgemeinen Förderdiskussion nicht manchmal zu viel zumuten: Muss die Tochter ins Ballett, zum Frühenglisch und in die Musikschule?
Wo bleibt die Fähigkeit zum Entspannen?
Was bleibt auf der Strecke, wenn so viel abrufbares "Wissen" auf einmal antrainiert wird? Die Fähigkeit zum Entspannen vielleicht? Sich wirklich für etwas zu begeistern? Tatsächlich belegen zahlreiche Studien: Kinder freuen sich, wenn sie etwas geschafft haben, aber dabei geht es nicht um Superleistung und Bestnoten. Auf Dauer glücklich und zufrieden werden die Menschen, die über Fantasie und Selbstbewusstsein verfügen und Einfühlungsvermögen besitzen.
Um all das zu entwickeln, braucht das Gehirn nicht nur Phasen der Anregung - sondern auch Phasen der Ruhe. "In den Gehirnen von überforderten, zappeligen Kindern findet man in einer Vielzahl von Bereichen Veränderungen, die offenbar genau diese wichtigen Ruhephasen so schwierig machen", sagt Gerald Hüther. Ähnliche Veränderungen beobachten die Wissenschaftler bei Jungen und Mädchen, die täglich stundenlang vor dem Computer sitzen.
3. Kindergehirne brauchen lösbare Probleme
Kim denkt: "Keiner mag mich." Sara hat sie nicht zum Geburtstag eingeladen. Alle anderen, mit denen Kim und Sara sonst immer spielen, dürfen kommen. Helena ist hin- und hergerissen. Der Leiter der Jugendgruppe hat sie gefragt, ob sie mitwill zum Zeltlager. Klingt spannend. Aber irgendwie hat Helena auch Angst. Nachts mit fremden Leuten in einem Zelt schlafen?
Würde man Kims und Helenas Gehirne unter dem Magnetresonanztomografen anschauen, könnte man bei beiden ähnliche Vorgänge beobachten: Von einer "sich ausbreitenden, unspezifischen Erregung", die bei Angst und Stress durch eine vermehrte Ausschüttung von Botenstoffen im limbischen System zustande kommt, sprechen Hirnforscher dann.
Doch diese innere Unruhe müssen Kim und Helena nicht lange aushalten: Ihre Mütter werden aktiv. Kims Mutter ruft die Mutter von Sara an - jetzt darf Kim doch mitfeiern. Die Mama von Helena entscheidet, dass es für das Zeltlager vielleicht doch noch ein Jahr zu früh ist.
Behütete Kinder haben es später oft schwer
"Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen davon überzeugt sind, dass man unangenehmen Dingen möglichst aus dem Weg gehen sollte", sagt Gerald Hüther. Doch Jungen und Mädchen, die in sogenannten behüteten Kindheiten aufwachsen, haben es später oft schwer. Weil sie nur wenig Vertrauen in eigene Fähigkeiten entwickeln. Oder - in der Sprache der Hirnforscher ausgedrückt - weil in ihren Hirnen Verschaltungen fehlen, mit denen sich Probleme lösen lassen.
Mittels solcherVerschaltungen könnte eine Kim, der im Zwischenmenschlichen nicht immer alles abgenommen würde, sich bei all ihrer Enttäuschung darauf besinnen, bei wem sie in diesem Jahr schon alles eingeladen war. Und dabei sehen: Es stimmt nicht, dass mich keiner mag.
Helena hätte die Chance, Strategien zu entwickeln, sich auch in ungewohnter Umgebung wohlzufühlen. Indem sie zum Beispiel anderen Mädchen von ihrem mulmigen Gefühl erzählt. Und merkt, wie ihre Angst dabei weniger wird. Von "aktiver Bewältigung", durch die "neue Nervenwege" entstehen, spricht Gerald Hüther. Damit das geschehen kann, brauchen Kinder vielfältige, immer wieder neue, auf jeweils sehr verschiedene Weise zu lösende Aufgaben. Nur so kann die Erkenntnis wachsen: Ich war in Schwierigkeiten, kam aber selbst wieder raus.
Weil es eben nicht der Papa war, der das Modellbauauto für mich zusammengesetzt hat, sondern ich es unter seiner Anleitung selbst geschafft habe. Und weil die Mama nicht mit dem Jungen schimpft, der mir auf dem Schulweg die Mütze vom Kopf gezogen hat, sondern gemeinsam mit mir überlegt: Wie kann ich mich das nächste Mal gegen so etwas wehren?
4. Angst hemmt die Entwicklung im Kindergehirn
Eigentlich hätte die fünfjährige Jana in den Ferien zwei Wochen mit einer Freundin in den Urlaub fahren sollen. Damit ihre Mutter in Ruhe ein wichtiges Projekt beenden kann. Jetzt liegt Jana mit Fieber im Bett. Und ihre Mutter fegt durchs Haus: Sagt Sätze wie "Wie soll ich jetzt nur den Auftrag hinbekommen? Soll ich nachts arbeiten? Was, wenn der Auftraggeber abspringt? Wie sollen wir dann die neue Waschmaschine bezahlen?"
Fragen, die wenig mit Vernunft und viel mit Gefühlen zu tun haben. Würde man einen Blick ins Gehirn von Janas Mutter werfen, könnte man eine erhöhte Aktivität im limbischen System (Sie erinnern sich – die zweite Zwiebelschicht) sehen. Das Frontalhirn, die Bewusstseinsschicht, dagegen wäre blockiert. Nicht auf Dauer natürlich. Weil Janas Mutter im Laufe ihres Berufslebens schon viele kritische Situationen erlebt hat, die sich dann doch lösen ließen, wird ihr Gehirn nach einer Weile wieder auf "Normalzustand" schalten, und sie wird - ganz vernünftig - Plan B organisieren.
"Erwachsene können nach einem Gefühlstrommelfeuer auf die gewohnten komplexen Verbindungen im Vorderhirn zurückgreifen", sagt der Hirnforscher Gerald Hüther, "Kinder noch nicht. Sie müssen diese Verschaltungen erst entwickeln. Unter Angst oder Druck geht das nicht.“ Genau das ist Janas Problem: Die Panik der Mutter hat sich auf sie übertragen. Sie bleibt auch, als Mama schon längst wieder ein entspanntes Gesicht macht.
Wichtig: klar stellen, dass man überreagiert hat
Und diese Panik wird in ähnlichen Situationen immer wieder hochkommen. Es sei denn, die Mutter wirkt dem aktiv entgegen. Durch eine liebevolle Umarmung zum Beispiel. Oder durch das Geständnis: "Ich hab da wohl ein bisschen überreagiert."
Geschieht dies nicht, werden die Angstbahnen im limbischen System immer breiter, und es bilden sich kaum Verschaltungen zur Bewusstseinsebene, die nötig sind, um die Angst wieder in den Griff zu kriegen. Dadurch können Panik und Selbstzweifel übermächtig werden. Manchmal ein ganzes Leben lang.
Was Psychologen und Pädagogen schon lange ahnen, kann die Hirnforschung jetzt unterm Magnetresonanztomografen nachweisen: Neue Lernerfahrungen werden unter liebenden, respektierenden Umständen besonders gut mit bereits vorhandenem Wissen verknüpft und besser im Gedächntnis verankert.
Aber was genau ist liebevolle Erziehung? Vielleicht kommt man diesem Ideal am nächsten, wenn man Kinder von Anfang an als das behandelt, was sie sind – als kleine Persönlichkeiten. Und ihnen dabei hilft, Gefühle und Erfahrungen einzuordnen. Deshalb ist es so wichtig, dass Eltern Orientierung geben.
Und es ist richtig, wenn sie sich dabei am Kind orientieren. "Es geht nicht darum, dass Kinder zum Abziehbild elterlicher Wünsche werden. Wer liebt, lässt Kinder ihren Lernstoff selbst bestimmen", sagt Gerald Hüther. Hebt sie nicht dauernd auf die Rutsche, sondern wartet, bis sie von selbst hinaufwollen. Antwortet feinfühlig auf Fragen, aber hört auf zu erzählen, wenn keine weiteren Fragen kommen.
Jedes Kind hat sein eigenes Tempo, seine eigene individuelle Art, sich Dinge zuzutrauen, sich für Themen zu interessieren. Indianer drücken das in einem wunderbaren Bild aus: "Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht."