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Streit Wann Kinder kritisieren dürfen

Kind sagt nein
© velazquez / Adobe Stock
Schön, wenn Kinder selbstbewusst werden und ihre Meinung sagen. Klar, dass sie dabei irgendwann auch ihre Eltern kritisieren. Nur: Was geht? Und was geht zu weit?

Luisa, 6, trommelt mit beiden Fäusten aufs Wohnzimmerparkett, wirft zwischendurch ihre Lieblingspuppe gegen die Wand, weil sie nicht fernsehen darf, und brüllt schließlich tränenerstickt ihre Eltern an: "Ihr seid nicht mehr meine Mama und Papa!" Sekunden später knallt die Tür, und das Kind stampft wütend in sein Zimmer. Roland und Maike, ihre Eltern, lächeln zu uns rüber: "Ist sie nicht süß?" Was die beiden vor lauter Verzückung über ihr blondgelocktes Rumpelstilzchen noch nicht ahnen: Dies ist Luisas erster Versuch von Fundamentalkritik an ihren Eltern, zahllose weitere werden folgen. Verteilt auf die kommenden gut zehn Jahre und in unterschiedlichen Phasen.

Phase 1: Grundschulalter 
Phase 2: Pubertät

Phase 1: Regel-Polizisten im Grundschulalter

Wehe, der Vater leckt beim Frühstück gedankenverloren die Marmelade vom Messer ab! Bei uns kam dann stets ein Warnhinweis, so zuverlässig wie die Zeitansage: "Das darf man aber nicht, da kann man sich ganz doll fies in die Zunge schneiden!" Oder noch schlimmer: Wir gähnten samstagsmorgens die Müdigkeit der vergangenen Woche herzhaft raus und ließen die Kinder dabei in einen weit aufgerissenen Schlund schauen. "Haaaand vorn Muuund, Papaaaa!“ Wir wurden das Gefühl nicht los, da entern kleine Ritter unsere Erziehungs-Festung und wollen uns offenbar mit den eigenen Waffen schlagen. Naheliegende Frage: Müssen wir uns das gefallen lassen?

Kinder haben Spaß daran, jede kleine Verfehlung aufzudecken

Wer Regeln aufstellt, muss sie auch beachten
Unsere kleine Umfrage unter befreundeten Eltern bestätigte damals unser Bauchgefühl: Ja, wir müssen. Denn wer Regeln aufstellt, muss sie auch selbst beachten. Grundschulkinder richten sich noch sehr nach dem Vorbild von Eltern und Lehrern, eifern ihnen nach, merken aber bereits sehr genau, wenn die Großen Vorschriften für die Kleinen machen, sie aber selbst ignorieren. Denn in diesem Alter prägt sich der Gerechtigkeitssinn besonders aus, zumeist intoniert in der Anklage "Mann, das ist aber voll ungerecht!". Kommt Kindern dieser Satz dauernd über die Lippen, heißt das, am besten einmal gründlich zu prüfen, ob womöglich etwas schiefl äuft.
Gelegentliche Ungerechtigkeits-Klagen hingegen sind sogar gut für die Entwicklung. Kerstin und Timm jedenfalls erkannten dadurch allmählich: Mütter und Väter, Omas und Opas sind gar nicht so perfekt, wie sie ihnen bisher schienen! Klar, dass unser Nachwuchs fortan weiter danach trachtete, jede kleine Verfehlung schonungslos aufzudecken. Und schon bald die Helm-Forderung stellte: "Wenn Mama keinen trägt, fahr ich auch ohne!"

In manchen Fällen gilt nicht gleiches Recht
Genau hier haben wir die Grenze gezogen und sie tapfer verteidigt. Nein, hier gilt weder gleiches Recht für alle noch gleiche Pflicht. Denn Erwachsene sind nun einmal viel erfahrener, radeln wesentlich sicherer durch den Straßenverkehr als Kinder, deren Körper zudem noch viel weniger robust sind. Deshalb mussten Timm und Kerstin trotz ihres Protests jahrelang Helm tragen und wir nicht. Kritik und Widerspruch unserer Kinder in diesem Streit haben wir angehört, Argumente ausgetauscht, versucht zu überzeugen, am Ende aber klar und unmissverständlich entschieden.

Phase 2: Vorpubertäre Dauer-Diskutierer

Mehr Freiheit Schritt für Schritt, nicht alles auf einmal

Nun ändert sich die Körpersprache: Rumpelstilzchens geballte Fäuste verschwinden in herausfordernd verschränkten Armen. Die bisher stets hervorquellende Zornesröte im Gesicht weicht einem bemühten Grinsen, das zwischen lässig und abschätzig changieren soll. Dergestalt in Pose geworfen, stampfte Timm bald nach Ende der Grundschulzeit auch nicht mehr energisch mit dem Fuß auf, sondern fläzte sich in einen Sessel oder an den Türrahmen und riskierte eine kesse Lippe, vorzugsweise im Beisein von Freunden: "Ey Daddy, wir chillen jetzt mal 'n bisschen auf der Unterstufenparty." Irritierte Nachfrage des Erziehungsberechtigten: "Aha, und wann seid ihr wieder zu Hause?" Antwort des Zwölfjährigen: "Weiß noch nicht, ist das wichtig?"

Kaum ausgesprochen, schielte Timm verstohlen zu seinen beiden Kumpels und erntete anerkennende Blicke. Exakt diese Botschaft wollte Timm uns senden: "Lasst mal gut sein mit euren Vorschriften, wir reden jetzt auf Augenhöhe - ich weiß ab jetzt selbst, was gut für mich ist."

Genau das aber wissen Kinder in diesem Alter noch nicht, deshalb müssen Eltern ein Stopp-Schild setzen und ihnen klarmachen, dass sie jetzt, kurz vor Beginn der Pubertät, zwar Stück für Stück mehr Freiheiten erwarten können, es diese aber nicht im Selbstbedienungsladen gibt. Kommt diese Ansage auch nur ein bisschen zu undeutlich, ist meist ein Stückchen elterliche Autorität futsch.

Jedes Wort wird jetzt auf die Goldwaage gelegt

Rotzige Anworten können auch Hilferufe sein
So wie bei Robbie aus Timms Tennisverein: Wochenlang tanzte er seiner Mutter auf der Nase herum und stellte sie bloß mit Streiks und rotzigen Antworten. Die können außer Provokation allerdings auch eine Art Hilferuf sein. Zum Beispiel wenn Kinder sich ungerecht behandelt fühlen. So wie Kerstin, die von uns unbewusst eine Zeit lang übermäßig zum Müllrunterbringen, Spülmaschineausräumen und Tischdecken verdonnert wurde, während ihr Bruder sich erfolgreich wegducken konnte. Raus kam das jedoch erst, nachdem wir Kerstin gefragt hatten, warum sie eigentlich dauernd so patzig ist.

Problem gelöst - bitte gleich um das nächste kümmern, heißt es meist in diesem Alter. Zum Beispiel das mit der Goldwaage: "Mama, du hattest mich nach den Hausaufgaben für morgen gefragt, nicht nach den für übermorgen, deshalb habe ich sie dir auch nicht gesagt." Oder: "Ich hab doch meine Klamotten weggeräumt. Na ja, hinters Bett halt. Von Aufräumen hattest du nichts gesagt ..." Antworten, die - jedenfalls bei uns – schon mal einen mittelschweren Vulkanausbruch zur Folge haben können. Oft ohne Erfolg, denn die abschreckende Wirkung lauter Schimpftiraden nimmt so stetig ab, wie die Diskussionsfreude unserer Kinder steigt.

Müssen unsere Kinder zu Dauer-Debattieren werden?
Ja, es ist schön, dass sie selbstbewusst ihre Meinung vertreten und sich dabei nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Aber müssen sie darum gleich zu Dauer- Debattierern werden, die uns das Wort im Munde umdrehen? Ja, müssen sie! Denn sie sind dabei, sich freizuschwimmen, sie entdecken, dass Sprache und sprachliche Präzision geeignete Mittel der Auseinandersetzung und der Behauptung gegenüber anderen Menschen sind. Mittel, die sie ausprobieren und verfeinern möchten.

Eltern müssen sich gegenseitig kontrollieren und mäßigen

Hat eine Weile gedauert, bis wir kapierten: Dies ist eine Herausforderung, die wir annehmen müssen, ohne zu schimpfen oder beleidigt zu sein. Wir schaffen das weitgehend, indem wir Eltern uns gegenseitig kontrollieren und korrigieren: Schlägt einer von uns einen Kasernenhofton gegenüber den Kindern an, etwa weil sie nach der Morgentoilette einen Haar- Dschungel im Waschbecken hinterlassen, nimmt der andere ihn beiseite und mahnt abseits der Kinderohren zur Mäßigung.

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