Im Gespräche mit Dr. Sheila de Liz
Eltern family: Frau de Liz, täuscht der Eindruck – fangen Mädchen heute früher an zu pubertieren?
Dr. Sheila de Liz: Tatsächlich setzt die erste Periode heute früher ein als zum Beispiel noch während des zweiten Weltkrieges und selbst in den 1980er-Jahren. Bei europäischen Mädchen startet das Brustwachstum im Schnitt mit 10,5 Jahren, die erste Periode findet meist zwischen elf und 13 Jahren statt. Dazu kommt, dass Kinder heutzutage sehr viel früher mit erwachsenen Themen konfrontiert werden. Die wissen mit zehn, elf Jahren schon, was Pornografie ist.
Das hat natürlich auch viel mit Social Media zu tun. Dort finden Mädchen im Grundschulalter dann auch ihre modischen Vorbilder mit geglätteten Haaren und Lipgloss.
Natürlich. Und die Modeindustrie macht sich das zunutze und bietet entsprechend kleinere Größen an, weil sie weiß, dass auch jüngere Mädels schon auf TikTok unterwegs sind und älteren Teenagern nacheifern.
Und trotzdem, schreiben Sie in Ihrem Buch, wissen junge Mädchen erschreckend wenig über ihren Körper. Das erleben Sie auch als "Dr. Sex". Wie kommt das? Das Internet ist doch voll mit Infos.
Weil sie lieber einer Autorität glauben wollen – in der Schule aber, sorry: viel Mist beigebracht bekommen. Im ersten Jahr der Pandemie hatte meine Tochter gerade Sexualkunde im Biologieunterricht, da konnte ich ihr gut über die Schulter schauen. Da wurde zum Beispiel die weibliche Anatomie beschrieben, in einer derart hölzernen Sprache, dass auch ich als Gynäkologin mir das dreimal durchlesen musste, um zu kapieren, was der Lehrer da eigentlich sagen will. Den Vogel abgeschossen hat aber die Formulierung: "Bei Mädchen ist die Vagina durch das Jungfernhäutchen verschlossen" – ich habe wirklich einen Schreikrampf bekommen. Das ist ein Gymnasium! Und Kinder in diesem Alter sind noch nicht in der Lage, so eine Information ordentlich gegenzuchecken. Wenn die Eltern dann noch gewisse Signale senden …
Welche meinen Sie?
Wenn zum Beispiel die Mutter die Unterhose des Mädchens mit spitzen Fingern vom Boden aufhebt, "Uhh, die muss in die Wäsche" – das reicht schon. Und das ist leider noch ziemlich verbreitet. Oder wenn immer nur von "da unten" gesprochen wird.
Wie ist es besser?
Es müssen nicht medizinisch korrekt Vulva und Vagina sein: Man kann auch Scheide sagen oder Mumu oder Schnecke, das sehe ich persönlich jetzt nicht so streng. Wichtig ist, dass es da kein latentes Schamgefühl gibt, das spüren die Kinder ja. Solange das locker-liebevoll ist, in einer entspannten Grundhaltung, ist alles gut.
Und wenn eine Mutter in diesem Moment spürt, dass sie doch etwas verkrampft ist?
Dann ist das eine Chance: Auch wir Mütter wachsen an der Pubertät unserer Töchter, weil wir noch einmal mit unseren ganzen unbewussten Glaubenssätzen konfrontiert werden. Wenn es das eigene Kind betrifft, das einem ja sehr vertraut ist, kann man sich noch mal neu fragen: Ist die Periode etwas Schmutziges? Sind Schamhaare wirklich peinlich? Ist es vielleicht gar nicht so gut, wenn man sie abrasiert? Sind Selbstbefriedigung und sexuelle Lust etwas Schlimmes? Kinder sind unsere besten Lehrer bei diesem deep dive.
Als meine Tochter ihre erste Periode bekam, beschloss sie, sofort Tampons zu benutzen. "Du bist elf!", habe ich gesagt. Und sie: "Na und?" Mir wurde klar, dass auch das ein alter Glaubenssatz war: dass man körperlich erfahrener sein muss zum Benutzen von Tampons.
Und wie sollten sich Väter verhalten, gerade bei pubertierenden Töchtern?
Das ist gar nicht so unkompliziert. Der Vater muss da einen Balance-Akt hinkriegen: weder schweigen oder Dinge sagen wie: "Red' mit deiner Mutter, da bin ich raus" – aber auch nicht versuchen, sich zu sehr zu engagieren. Ich habe beobachtet, dass viele Väter so eine latente Angst davor haben, ihre Tochter würde zu früh sexuell aktiv. Papas tun in jedem Fall sehr gut daran, das Rückzugsbedürfnis pubertierender Mädchen zu respektieren. Da passiert nicht automatisch etwas Schlimmes.
Haben Sie als Fachfrau Ihre Tochter irgendwie auf die Pubertät vorbereitet?
Nein, das ist für ein Kind zu abstrakt. Ich habe es erst angesprochen, als es die ersten Anzeichen gab. Ich dachte: Lass sie noch ein bisschen Kind sein. Das kommt ja auch nicht über Nacht. Sie war da auch ganz offen, kam zu mir, zog das Shirt hoch und sagte: "Mama, ich bekomme Titties!" Eine Brustwarze war etwas geschwollen. Mehr wollte sie auch nicht drüber reden. Das Beste ist, das dann auch genauso unaufgeregt zur Kenntnis zu nehmen.
Mädchen mit Essstörungen entwickeln sie häufig in der Pubertät – also genau dann, wenn ihr Körper eigentlich weiblicher werden sollte. Wie können gerade wir Frauen unseren Töchtern mehr Selbstakzeptanz mitgeben?
Es ist schwer – aber wir müssen bei uns selbst anfangen und nicht ständig an uns selbst herummeckern. Eine Schwierigkeit dabei ist, dass Frauen mit jugendlichen Kindern auch gerade in einem hormonellen Umschwung sind. Dann zwickt da eine Jeans, hier stört eine Speckrolle … diese Kassette läuft ja ständig in unserem Kopf, und die Tochter kriegt das mit. Meine hat mich wirklich mal angebrüllt, ich solle jetzt damit aufhören, ich sähe doch super aus. "Stimmt", habe ich gesagt, "du hast recht. Ich finde mich jetzt mal gut, so wie ich bin." Und dann haben wir uns zusammen Burger bestellt. Man kann davon ausgehen, dass die Tochter einer Mutter, die täglich joggen geht und nur zwei Karotten isst, kein natürliches Verhältnis zum Essen haben wird.
Und wie ist es, wenn sich die Mutter mit Botox und Hyaluron behandeln lässt?
Das verteidige ich meinen Kindern gegenüber – ich färbe mir schließlich auch meine grauen Haare. Ich möchte gerne, dass mein Spiegelbild freundlicher aussieht, und zwar vor allem für mich. Und ich finde es etwas frauenfeindlich, wenn man uns deswegen verdammt. Ich habe sogar noch ein weiteres Argument: Mit Zornesfalte sehe ich sehr besorgt aus, und das ist nicht so gut als Ärztin. Ich finde es legitim, dekorative Dinge zu machen, Schönheit darf ja auch Freude bringen. Wir knallen uns schließlich nicht in Ultra-Mini, Push-up und Stilettos, um Aufmerksamkeit von Männern zu bekommen.
Was halten Sie von einem Phänomen wie period pride? Zum Beispiel einer Party zur ersten Periode?
Finde ich witzig – aber ich würde es immer abhängig davon machen, was die Tochter will. Neulich habe ich davon gehört, dass ein Mädchen mit Freundinnen ihre erste Periode gefeiert hat und auch zwei Jungs dazu eingeladen hat. Sie hat ihre Periode "Harald" getauft und einen roten Kuchen bestellt mit dem Namen darauf. Die Jungs haben sich die ganze Zeit gefragt, wer eigentlich dieser Typ ist (lacht). Ich habe meine Tochter damals zu einem Mädchen-Tag in die Stadt eingeladen – aber nach einer halben Stunde wollte sie wieder nach Hause.
Dr. Sheila de Liz
wurde in den USA geboren und kam mit 15 Jahren nach Deutschland. Sie arbeitet in ihrer eigenen gynäklogischen Praxis in Wiesbaden und hat gerade ein neues Buch über die weibliche Pubertät geschrieben ("Girl on fire", Rowohlt, 16 Euro). Mit dem Urologen Dr. Volker Wittkamp betreibt sie den TikTok-Aufklärungskanal @doktorsex. Sheila de Liz hat eine Tochter und einen Sohn .
Frage und Antwort mit Dr. Volker Wittkamp
Eltern family: Herr Wittkamp, sind Jungs auch immer früher dran mit der Pubertät?
Dr. Volker Wittkamp: Ja. Das hat vermutlich mit unserer guten Gesundheitsversorgung und dem Ernährungsstand zu tun. Ganz genau weiß man es aber noch nicht.
Was sind die ersten Anzeichen?
Penis und Hoden werden größer, der ganze Körper schießt in die Höhe. Dazu können pubertierende Jungen oft kaum stillhalten, haben viel Energie, sind immer on fire. Das fällt dann unangenehm in der Schule auf. Durch die hormonelle Umstellung verändert sich oft auch der Körpergeruch. Das liegt nicht zwangsläufig an fehlender Körperhygiene. Aber das Zimmer eines pubertären Jungen riecht schon ein wenig … anders.
Der berühmt-berüchtigte Pumakäfig?
Genau. (lacht)
Kann man da etwas sagen, ohne das Kind zu kränken?
Ich denke, man muss erst mal gucken, woran es liegt. Wenn das Zimmer unordentlich ist und schmutzige Wäsche nicht den Weg in die Wäschetonne findet, muss man das natürlich sagen. Generell sollte man aber möglichst sensibel sein und vielleicht nicht immer alles direkt ansprechen.
Sondern? Einfach Deo hinstellen?
(lacht) Nein, das ist auch nicht das Sensibelste. Aber man kann ja vielleicht in einem guten Moment mal erwähnen, dass sich da gerade etwas verändert, dass man dann öfter das T-Shirt wechseln darf. Und ansonsten möglichst gelassen bleiben und sich die eigene Pubertät zurück ins Gedächtnis holen. Dann weiß man auch wieder, wie wichtig die Privatsphäre in dieser Zeit wird. Und die sollte man Teenagern auch unbedingt zugestehen. Die Frage ist auch immer, wie es vorher war.
Ihre Söhne sind zwei und vier …
… und mein Älterer sagt jetzt schon, ich solle bitte rausgehen, wenn er aufs Klo geht. Seine Freundin darf aber mit rein. Ich weiß, da sind manche Eltern unentspannt: Was machen die jetzt da drin? Aber ich habe da überhaupt keine Sorgen. Wie so oft im Leben geht es da um gute Kommunikation, offene Ohren und Augen.
Wie wichtig ist eine männliche Vertrauensperson in der Pubertät? Es gibt ja auch Jungs mit alleinerziehenden Müttern …
Das ist ein wichtiges Thema. In der urologischen Praxis ist es tatsächlich besser, wenn der Vater mitkommt anstatt die Mutter. Aber das gilt ja genau so umgekehrt für den Besuch bei der Frauenärztin. Bei allen anderen Themen ist das nicht so festgelegt, glaube ich. Viele Jungen können sehr gut mit ihren Müttern reden. Und wenn ein Heranwachsender Rat in "Männerdingen" braucht, bekommt er den oft auch in der Clique oder bei einem älteren Freund – oder auf TikTok.
Die meisten Mädchen gehen zum ersten Mal zur Frauenärztin, wenn sie eine Verhütung brauchen – wann kommen Jungs denn zum Urologen?
Genau das ist das Problem: Es gibt keinen Pflichttermin für Jugendliche beim Urologen. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum Männer sich später so schwer damit tun – sie melden sich erst, wenn es ein Problem gibt. Anders als Frauen, bei denen es im besten Fall Routine ist. Das haben aber die Urologen inzwischen auch gemerkt, deswegen gibt es nun die "Jungensprechstunde" (siehe unten). Da kann man einen Termin machen in der Praxis, Fragen stellen, vielleicht lernen, wie man sich abtastet und Vertrauen aufbauen.
Und mit welchen Problemen melden sich Jugendliche dann bei Ihnen? Eine Vorhautverengung zum Beispiel zeigt sich ja schon früher, oder?
Das ist richtig – aber es kann sein, dass die erst in der Pubertät Probleme macht. Oft erledigt sie sich aber auch durch das Längenwachstum des Penis. Deswegen ist man heute auch nicht mehr so schnell mit einer Beschneidung wie früher. Man weiß inzwischen, dass man auch einfach abwarten kann, ob das überhaupt Probleme macht. Was sich fast öfter meldet, ist ein verkürztes Penisbändchen zwischen Vorhaut und Eichel, das beim Sex oder bei der Masturbation stört. Und dann bekomme ich in der Praxis oder im Netz viele Fragen zu Sachen, die aber gar kein Drama sind.
Zum Beispiel?
Etwa: Mein Penis ist ein bisschen krumm, ist das schlimm?
Und?
Solange das nicht schmerzt oder die Krümmung extrem stark ist, nein. Das zählt dann eher zur Aufklärungsarbeit. Später kommen natürlich auch Themen wie Geschlechtskrankheiten oder Genitalwarzen dazu. Aber das ist es dann auch schon.
Wie empfinden Sie die Jungs, die sich im Netz mit Fragen an "Dr. Sex" wenden? Sind die heutzutage offener als zum Beispiel in Ihrer Jugend?
Mich erreichen bei TikTok nicht alle Sachen persönlich – aber ich würde sagen, dass sich da zumindest bei den Jüngeren gar nicht so viel tut. Auch wenn das oft so wirkt, weil sie durch das Internet früher mit Sex in Berührung kommen.
Und wie halten Sie es mit Ihren Söhnen?
Ganz natürlich: Wir haben ein super Buch über den Penis, das wir gern zusammen lesen!
Dr. Volker Wittkamp
ist Urologe, arbeitet in einer ambulanten Rehaklinik in Hennef, schreibt Kolumnen und ist das männliche Pendant bei @doktorsex. In seinem Buch "Fit im Schritt" (Piper, 9,99 Euro) berichtet er unterhaltsam aus seinem urologichen Alltag und erklärt "Männersachen". Wittkamp hat zwei Söhne.
Erst mal nur reden
Unter der Adresse www.urologenportal.de/jungensprechstunde finden Jungs gut aufbereitete Artikel rund um körperliche und seelische Veränderungen. Es gibt auch eine Broschüre zum Download und Adressen von Urologen, die in ihrer Praxis eine Jungensprechstunde anbieten.
Für Mädchen heißt das Äquivalent www.mädchensprechstun.de, wo wichtige Fragen vor dem ersten Frauenarzt-Termin geklärt werden.
Für Teenager, die mit ihrem biologischen Geschlecht hadern, und vor allem für ihre Eltern ist der Verein Trans-Kinder-Netz (trans-kinder-netz.de) eine gute Anlaufstelle.
Kopfsache
Die erste Veränderung in Richtung Pubertät sind Freisetzungshormone im Gehirn, die etwa mit neun, zehn Jahren gebildet werden. Sie wirken auf die Hypophyse, die daraufhin Gonadotropine ausschüttet. Diese Botenstoffe regen schließlich Hoden und Eierstöck an, Sexualhormone zu bilden – nun beginnt der Körper, sich zu verändern.