Kinder haben immer früher Essstörungen

Wenn heute jemand sagt "Ich esse, was mir schmeckt", so kann er sich forschender Blicke sicher sein. Ist er etwas moppeliger, heißt es: "Das sieht man!" Ist er schlank, wird er mit Neid und Ungläubigkeit zu kämpfen haben. Dieser Mensch nimmt sich heraus, was viele sich tagaus, tagein verbieten: zu essen, worauf und wie viel man Lust hat, ohne ständig Idealmaßen hinterherzuhetzen. Aber: Solche Leute braucht das Land! Vor allem solche Eltern. Denn Kinder und Jugendliche sind dringend angewiesen auf einen Halt in der reißenden Flut manipulierender Bilder und Texte.
"Die Situation wird von Jahr zu Jahr schlimmer", sagt Dr. Andreas Schnebel, Psychologe, Vorsitzender des Bundesfachverbandes für Essstörungen und Leiter von ANAD e. V., Beratungsstelle für Essstörungen in München. Die jüngsten Klienten in Beratungsstellen für Essstörungen sind sechs Jahre alt. Schnebel: "Denken Sie nur an Kunstfiguren wie beispielsweise Victoria Beckham. Solche Leute machen ihre Diäten öffentlich, geben wissenschaftlich nicht haltbare Ernährungs- und Work-out-Tipps und helfen mit zahllosen Schönheitsoperationen nach. Dadurch wird den Menschen - und besonders den jungen - vorgegaukelt, man könne seinen Körper so modellieren, wie man ihn gerne haben möchte."
Die Eltern als Vorbilder
Dieses Märchen glauben auch viele Erwachsene. "Zum Teil haben die Kinder und Jugendlichen, die zu mir kommen, Mütter oder Väter, die ständig auf die Linie achten oder auch schon mal den Schönheitschirurgen bemüht haben", so Andreas Schnebel. Erstaunlicherweise, so der Psychologe, seien es immer öfter die Väter, die durch ihr Figur- und Fitnessbewusstsein vor allem den Töchtern Druck machen. "Kürzlich war eine Familie in meiner Beratung, bei der ich schnell merkte, dass die zwar schlanke, aber vollkommen bodenständige Mutter nur wenig mit der beginnenden Magersucht der Tochter zu tun haben konnte. Hier machte der Vater mit seinen Gewichts- und Fitness-Vorstellungen die übrigen Familienmitglieder halb wahnsinnig: Er wog sich jeden Morgen, und nicht selten kam er dann außer sich an den Frühstückstisch und erklärte, er esse nichts, weil er schon wieder fetter geworden sei."
Das Ziel: endlich gesehen zu werden
Andreas Schnebel erlebt aber auch gegenteilige Beispiele. So hat er derzeit einen achtjährigen Jungen in Therapie, dessen Eltern ein Lokal mit deftiger oberbayerischer Küche betreiben. Vater und Mutter sind ziemlich beleibt und haben vor allem ein Thema: Essen. Der Junge ist magersüchtig. "Er kann das Lebensthema seiner Eltern einfach nicht mehr ertragen", so Andreas Schnebel. Manche Jugendlichen scheinen indes haargenau zu wissen, dass Dicksein zu den schlimmsten Dingen gehört, die sie ihren superschlanken, sportlichen und ehrgeizigen Müttern und Vätern zumuten können. "Hier geht es nicht um jugendtypischen Protest", erklärt Andreas Schnebel. "Es geht darum, endlich gesehen zu werden." Wenn es nicht im Guten geht, so eben im Schlechten - das ist die unbewusste Motivation dieser jungen Menschen.
Was sind die Alarmzeichen?
Rund die Hälfte aller Kinder - zu 90 Prozent Mädchen - zwischen neun und 13 Jahren findet sich zu dick. Mehr als 30 Prozent dieser Kinder machen eine Diät, obwohl nur wenige das nötig haben. Für einige von ihnen werden von da an die Themen Gewicht, Essen und Hungern eine rigide Regentschaft über ihr Leben übernehmen. Sie sind in eine Essstörung geraten. Was Eltern da tun können? Vor allem, sagt Schnebel, die Kinder "vertrauensvoll im Auge behalten".
Also die Alarmzeichen für Essstörungen kennen, ohne jedoch das Kind ständig misstrauisch zu beäugen oder gar zu kontrollieren. "Gerade hatte ich einen Vater in meiner Beratung, der von seiner 14-jährigen Tochter berichtete, sie habe früher immer alles gegessen und auch gern genascht", erzählt der Fachmann. "Nun hat er den Eindruck, dass sie sich immer mehr verbietet. Das ist durchaus ein Alarmsignal. In jedem Fall wichtig: die Tochter behutsam ansprechen. Auf keinen Fall mäkeln oder gar schimpfen!"
Aufhorchen, wenn sich Ausflüchte häufen
Wenn sich Ausflüchte häufen ("Mir ist nicht gut", "Ich habe schon bei der Freundin gegessen", "Ich habe keinen Hunger"), dann ist klar, dass hier ein Kind das gemeinsame Essen vermeiden will. Das muss nicht unbedingt auf eine Magersucht hindeuten - das kann genauso gut auch der Beginn einer Bulimie sein, denn die Erkrankten essen oft bei gemeinsamen Mahlzeiten wie ein Spatz und schlagen sich später heimlich den Bauch voll. Die Übergänge zwischen Bulimie, Binge Eating (Essen großer Mengen ohne Kompensation wie Erbrechen, Abführmittel oder Sport) und Magersucht sind fl ießend: 300 Kalorien heute - und morgen 10.000.
Keine Vorwürfe machen
Wirklich beunruhigend ist eine deutliche Gewichtsabnahme des Kindes. "Spätestens dann muss man versuchen, ins Gespräch zu kommen", so Andreas Schnebel. Wichtig sei dabei vor allem, behutsam zu signalisieren, dass man die Verhaltensänderungen wahrnimmt. Also nicht sagen "Du hast doch Probleme mit dem Essen", "Du wirst ja immer dürrer" oder "Gib's zu, du isst heimlich", sondern beispielsweise "Uns fällt auf, dass du anders isst als früher - kannst du dir das erklären?" Möglichst also Ich-Botschaften verwenden und nicht beleidigt reagieren, wenn man abgewiesen wird. Ein paar Tage verstreichen lassen und ein neues Gesprächsangebot machen. Schwierig? Zweifellos. Da müssen Eltern manchmal über sich hinauswachsen ...
Fachliche Beratung suchen
"Selbst wenn man das Kind beim Erbrechen ertappt, ist es besser, keinen Riesenzirkus zu machen, sondern immer auf der Vertrauensebene zu agieren", rät Andreas Schnebel. Mit "Das kommt nicht mehr vor!" oder "Das will ich nicht mehr sehen!" erreicht man nichts. "Manche Mütter sagen dann nur 'Was tust du mir an!'- aber das macht Schuldgefühle und noch mehr Druck. Strafen, Verbote oder Reglements, was und wie viel bei Tisch gegessen werden muss, bringen gar nichts." Hat sich eine Essstörung erst einmal in ein Leben hineingefressen, kommt ein Kind meist nur mit fachlicher Begleitung wieder raus. Schnebel: "In unseren Beratungen schauen wir, wie ernst die Situation ist, und entscheiden, ob ambulante Therapie, therapeutische Wohngruppe oder stationärer Aufenthalt das Richtige ist. Nicht selten braucht es mehrere Anläufe, bis ein Jugendlicher Hilfe annimmt."
Das sind erste Anzeichen
- Das Kind verbietet sich immer mehr Lebensmittel, weil sie angeblich dick machen,
- häuft sich nur Salat oder Gemüse auf den Teller, damit der "voll" aussieht,
- zerteilt die Nahrungsmittel bei gemeinsamen Mahlzeiten in winzige Häppchen, um Zeit zu schinden,
- wirft den Eltern vor, zu fett zu kochen,
- hat auf ehemalige Lieblingsspeisen keine Lust mehr,
- klagt häufi g über Bauchweh, Übelkeit oder Appetitlosigkeit, wenn gemeinsame Mahlzeiten anstehen,
- erfindet Ausreden, um nicht an gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen zu müssen,
- wiegt sich auffallend oft,
- hat deutlich zu- oder abgenommen,
- liest eifrig Zeitschriften, Bücher und Internetseiten, die sich mit Diäten beschäftigen,
- muss angeblich wegen Verstopfung Abführmittel nehmen (oder nimmt diese heimlich),
- erbricht immer wieder (Geruch und Spuren in der Toilette).
Nützliche Internetseiten
www.bundesfachverbandessstoerungen.de
Buchtipps
"Was sind Ess-Störungen?", Monika Gerlinghoff, Herbert Backmund, Beltz, 10,90 Euro
"Iss doch endlich mal normal! Hilfen für Angehörige von essgestörten Mädchen und Frauen", Bärbel Wardetzki, Kösel, 16,95 Euro
"Die Frau, die im Mondlicht aß. Essstörungen überwinden durch die Weisheit uralter Märchen und Mythen", Anita Johnston, Droemer/Knaur, 8,95 Euro
"Nimmersatt und Hungermatt. Essstörungen bewältigen", Marina Jenkner, Frauenoffensive, 13,90 Euro