Die Pubertät dauert nur ein paar Jahre. Sie macht Mädchen zu Frauen und Jungs zu Männern. Aber ihre Nachwirkungen reichen bis ins Erwachsenenalter. Deshalb tauchen von meinen fünf Kindern nur vier mit Namen in dieser Geschichte auf. Einer wollte auf gar keinen Fall mitmachen, wahrscheinlich zu traumatisch, was in seiner Pubertät passierte. Die anderen haben die Pubertät gut hinter sich gebracht, der Jüngste rutscht gerade rein. Das schreibe ich hier nur auf, damit klar ist, dass ich Profi bin. Pubertäts-Profi.
Aber das nützt gar nichts. Das Prinzip der Pubertät ist nämlich, dass genau das passiert, was niemand erwartet. Maximale Überraschung im besten Fall, maximaler Schock im schlechtesten. Für alle Beteiligten. Und dann stellt man fest, dass man als Eltern wieder mal überhaupt keine Ahnung hat, was los ist.
Eine ereignisreiche Zeit
Ich habe Kids aus der Arrestzelle abgeholt (Flaschenwurf bei einer Party) und bei der Polizei (Wasserbombenwurf von der Dachterrasse). Ich war mit einem Richter, einem Staatsanwalt, einem Jugendamtsmitarbeiter und einer Protokollantin vor Gericht (Schrottfahrrad im Wert von 15 Euro geklaut) und bei der Drogenberatung (extensives Kiffen). Ich habe aber auch sehr schöne Erlebnisse mit meinen pubertierenden Kindern gehabt: gute, intensive Gespräche, gemeinsame Reisen, Erfolg in der Schule, Auseinandersetzungen, Versöhnungen, Krieg und Frieden. Wahrscheinlich ist die Pubertät die aufregendste Zeit, die man mit seinen Söhnen und Töchtern verbringen kann.
Wissenschaftlich ist die Sache klar. Einer meiner Söhne hat es in einem einzigen Satz zusammengefasst: "Ich kann nichts dafür, es sind die Hormone, Papa!". Stimmt! Die Hormone sorgen dafür, dass in unseren Kindern während der Pubertät alles umgebaut wird. Haare wachsen unter der Achsel und im Schritt, Brüste und Hoden vergrößern sich, Mädchen bilden Fettpolster und menstruieren, Jungs bauen Muskeln auf und ejakulieren.
Aber noch krasser sind die Umbaumaßnahmen im Gehirn. Es gleicht in der Pubertät einer außer Kontrolle geratenen Großbaustelle. Bis zu 70 Prozent der Nervenbahnen werden neu verknüpft. Kein Wunder, dass die Kids manchmal total abdrehen. Wenn wir Eltern denken, wir erkennen unsere süßen Kleinen nicht mehr, dann erkennen sie sich selbst erst recht nicht mehr. Das kann ziemlich anstrengend sein.
Wenn aus Kindern Erwachsene werden
Die Münchener Familientherapeutin Miriam Flick, selbst Mutter von drei Söhnen (18, 14, 10 Jahre alt), sagt: "Wir haben die Kinder großgezogen, sie waren auf uns angewiesen und von uns abhängig, ihrer Liebe und Bewunderung konnten wir uns sicher sein. Jetzt zu beobachten und zu begleiten, wie aus diesen Kindern plötzlich eigenständige und selbstbestimmte Erwachsene werden, die zunehmend eigene Wege gehen, ist für die meisten von uns hart und ungewohnt. Und eben dieser veränderten Rolle gerecht zu werden ist auch die Herausforderung für uns Eltern."
Meine Tochter Clara, heute 22, hat es uns leicht gemacht. Während ich diese Geschichte schreibe, fällt mir auf, dass ich von ihrer Pubertät kaum etwas weiß. Als ich mit schlechtem Gewissen nachfrage, sagt sie: "Papa, bleib locker. Mama weiß auch nicht viel mehr. Ich habe meine Pubertät in Argentinien erledigt." Mit 14 war Clara ein Jahr lang Austauschschülerin in einer Kleinstadt in der südamerikanischen Pampa. Ich habe sie nur in Videochats gesehen. Sie saß vor dem Laptop, hinter ihr lag ihre Gastschwester Delfina auf dem Sofa. "In Argentinien hab ich zum ersten Mal geknutscht, zum ersten Mal Alkohol getrunken und zum ersten Mal gekotzt. Tequila." Gut zu wissen. "Und als ich zurück war, hab ich mich mit Mama auf Ibiza gezofft. Ich war in der Pubertät, Mama in den Wechseljahren. Keine gute Kombination. Aber wir haben es insgesamt trotzdem super hingekriegt." Das sehe ich, Clara ist eine tolle Tochter und ein großartiger Mensch.
Vielleicht, weil Clara es uns so leicht gemacht hat, sorgte Samuel, heute 23, für das Gegenteil. Ausgleichende Gerechtigkeit. Er brachte mich tatsächlich an meine Grenzen, ich ihn vermutlich auch. Cannabis, Diebstahl, totale Renitenz. Manchmal war er tage- und nächtelang verschwunden. Als er 14 war, suchte ihn meine Frau nach Mitternacht auf der Reeperbahn. Sie befragte alle Dealer, die im Dunkeln auf Kundschaft warteten. "Schwester", sagten die Dealer, "wir haben die Kids gesehen, die machen da hinten eine Party, aber wir haben ihnen nichts verkauft, wallah, ich schwöre, die sind zu klein für den Scheiß." Um drei Uhr morgens kam meine Frau mit unserem Sohn zurück. Erschöpft. Verzweifelt. Hilflos. Was soll man mit so einem Kind machen? Einmal war ich so wütend, dass ich Samuel geschubst habe. Das war mir vorher noch nie passiert. Ich war geschockt – von mir selbst. Ich frage Miriam Flick: "Was, wenn die Kinder einen an den Rand des Wahnsinns bringen und man plötzlich zu dem Tier wird, das man nie sein wollte?" Sie findet das eine gute Frage und sagt: "Das passiert. Und zwar in jedem guten pubertierenden Haushalt. Das zu wissen beruhigt, bereitet vor. Sich ein- und zuzugestehen, dass man nicht immer pädagogisch adäquat auf zwischenmenschliche Eskalationen reagieren kann und muss, ist der erste große Schritt. Kinder dürfen auch sehr gern merken, dass wir Eltern Menschen sind und Fehler machen. Authentizität ist hier das Zauberwort. Wenn Ausflippen das in diesem Moment einzig zur Verfügung stehende Mittel ist, steht dazu!" Beruhigend zu wissen, dass man anscheinend nicht der Einzige ist, der die Kontrolle verliert. Andere Eltern erleben das auch.
Aggressionen sollten nicht auf der Tagesordnung stehen
Aber ein Freifahrtschein für ständige Ausraster ist das natürlich nicht. Miriam Flick sagt: "Aggressiv reden und handeln soll und darf nicht an der Tagesordnung sein. Schlagen und extrem gewaltvolle Sprache sind tabu. Passiert dies, braucht die Familie objektive und professionelle Unterstützung." So weit ist es bei uns glücklicherweise nie gekommen.
Emil, heute 29, war einer von den unkomplizierten Pubertisten. Falls er Mist gebaut hat (was gut informierte Kreise nicht ausschließen wollen), haben wir nichts davon bemerkt. Der Höhepunkt der Aufregung war, dass der Kontaktbereichsbeamte von der Polizei die Jungs auf dem alten Friedhof angesprochen hat, als sie mit ihren Softairpistolen eine Actionszene nachstellten. Sah ihm zu realistisch aus. Emil war verantwortungsvoll und zuverlässig, hat vereinbarte Zeiten eingehalten, gute Noten in der Schule gehabt. Oft durften seine Freunde nur zu Partys, wenn Emil auch eingeladen war, und er musste versprechen, sie pünktlich um 23 Uhr nach Hause zurückzubringen. Das macht es leicht, respektvoll miteinander umzugehen und die Grenzen immer mehr zu öffnen.
Diese Frage finde ich nämlich am schwierigsten, wenn Kinder pubertieren: Wie weit muss man sie (noch) beschützen, und wo darf man loslassen? Es ist eine Frage des Vertrauens. Und ich glaube, es ist auch eine Frage des Alters. Bei meinem ältesten Sohn war ich ein sehr junger Vater und mindestens so cool wie er. Wenn er harten Rap hörte – meiner war härter. Wenn er die Hose auf halb Acht hatte – meine war auf viertel vor Acht. Und außerdem fand ich da noch antiautoritäre Erziehung gut. Wenig Grenzen, und ich war mehr bester Kumpel als Vater. Heute weiß ich, was das für ein Stress ist in der Pubertät. Wenn es keine Grenzen gibt, wie soll man sie dann überschreiten? Mein Sohn musste sich richtig ins Zeug legen und dicke Bretter bohren, um sich von mir zu unterscheiden und seine eigene Identität zu finden. Armer Kerl, das hat uns alle überfordert.
Klare Maßstäbe vermitteln Sicherheit
Meine jüngeren Kinder hatten es einfacher. Denn wir Eltern halten inzwischen viel davon, klare Maßstäbe zu setzen, wir finden, das gibt Sicherheit und den Teenies die Möglichkeit, bei Bedarf Grenzüberschreitungen zu machen – und zu gucken, wie sich das anfühlt und was dann passiert. So kann man Selbstbestimmung lernen und erwachsen werden.
Aber die Garantie für eine friedvolle Pubertät ist das natürlich auch nicht. Wenn es irgendwo eine Möglichkeit gibt, die ganze Sache zu versemmeln, dann passiert es auch. Weil in der Pubertät gar nichts sicher ist – wenigstens darauf kann man sich hundertprozentig verlassen.
Mein jüngster Sohn ist jetzt 13. Die letzten Milchzähne fallen aus, Haare und Pickel sprießen an Stellen, wo es sie bisher nicht gab. Die Stimme sackt eine halbe Oktave nach unten und knarzt noch ein wenig. Dafür wächst er mir fast schon über den Kopf. Noch kuscheln wir viel und es gibt kaum Streit. Aber wird das so bleiben?
Ich frage nach bei ihm. "Papa, entspann dich", sagt er, "ich trinke keinen Alkohol und nehme keine Drogen. Ich geh nicht mal bei Rot über die Straße. Ich bin nämlich ein echter Spießer. Ihr vertraut mir. Ich vertraue euch. Und wenn ihr keinen Scheiß baut, wird das vermutlich auch so bleiben. Ich glaube, bei mir wird’s eher unauffällig. Ich bin nämlich ein gesettelter Typ."
Schön wär’s ja.
Peer Pressure
Teenager müssen ein eigenständiges Sozialverhalten lernen – das tun sie am besten im Freundeskreis. Dort üben sie, wie man bei anderen ankommt. Das ist eine schwierige Aufgabe, wenn man gerade erst dabei ist, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln, und sich von den Eltern abgrenzt. Der Gruppenzwang ("Peer Pressure") führt oft zu Fehlentscheidungen, zum Beispiel was Drogen, Alkohol, Sprache betrifft. Denn wichtiger, als "es richtig zu machen", ist es, dazuzugehören. Gegen Ende der Pubertät festigt sich die Identität, und der Gruppendruck spielt keine so große Rolle mehr.
Voll auf Risiko
Die Umbauarbeiten im pubertären Gehirn finden nicht in allen Gehirnteilen gleichzeitig statt: So reifen die tieferen emotionalen Zentren wie etwa der Mandelkern (Amygdala) und das Belohnungssystem früher als die Großhirnareale, die die Emotionen und Impulse auf der Vernunftebene kontrollieren. Dies ist auch ein Grund dafür, warum sich gerade Pubertierende oft in riskante Situationen begeben.
Vier Eltern-Mantras für die Pubertät
Die Münchener Familientherapeutin Miriam Flick über den Umgang mit Heranwachsenden
1. Lernt zu vertrauen. In die Fähigkeiten und Kompetenzen eurer Kinder. Sie sind von Geburt an eigene Persönlichkeiten. Und sind damit menschlich und sozial kompetente Partner für uns Erwachsene. Wir dürfen sie in ihrer Entwicklung begleiten.
2. Gebt nie die Hoffnung auf. Und damit ist nicht die Hoffnung auf Anpassung oder Einsicht nach unseren Vorstellungen gemeint. Sondern die Hoffnung auf Verbindung, Entwicklung und Gleichwürdigkeit.
3. Lasst die Leinen los. Aber pflegt die Verbindung. Loslassen bedeutet nicht, die Verbindung zum Kind abzubrechen, wenn es schwierig wird. Loslassen bedeutet, die Kinder so anzunehmen, wie sie sind. Auch wenn es für uns Eltern anstrengend ist. Wir dürfen unsere Vorstellungen loslassen. Zugunsten unserer Kinder.
4. Horcht in euch rein. Im Verhältnis zwischen Kindern, heranwachsenden Jugendlichen und Eltern ist es immer sinnvoll, sich als Erwachsener bei Konflikten selbst zu fragen, was gerade los ist, was uns ängstigt, überfordert, wütend macht – oder welchen wunden Punkt das Kind mit seinem Verhalten gerade triggert. Konflikte lassen sich dann deutlich besser, erwachsener und auf Augenhöhe austragen.