ELTERN family: Sie schreiben in Ihrem Buch über die "Generation Haram". Was bedeutet Haram eigentlich?
Melisa Erkurt: Haram steht im Islam für ein Verbot, das jedoch im Koran nur äußerst selten vorkommt. Ein leichtfertiger Umgang damit ist sogar untersagt. Auf dem Schulhof geben manche muslimische Jungs aber Mädchen mit dem Verbotsruf "Haram" vor, was sie anziehen und wie sie sich verhalten sollen. Dabei haben diese Burschen keine Ahnung vom Islam. Denn das Einzige, was laut Koran wirklich Haram ist, ist, anderen vorzuschreiben, was Haram ist! Die Jugendlichen benutzen dieses Wort vor allem, um sich mächtiger zu fühlen. Denn die Mohammeds und Alis sind die größten Bildungsverlierer in Österreich.
In Deutschland dürfte es nicht viel anders sein ...
Ja. Aber die einzige Antwort der Mehrheitsgesellschaft, der Medien, der Politik lautet: "Gegen diese gefährlichen Burschen müssen wir vorgehen."
Was wäre Ihr Vorschlag?
Diese Jungs haben kaum Zukunfts-Perspektiven. Es ist deshalb falsch, dass man sich – auch medial – so auf sie stürzt, anstatt zu schauen, wie man ihnen helfen könnte, damit sie sich weniger verloren fühlen. Man muss ihnen Alternativen aufzeigen, etwas, worin sie wirklich gut sein können. Doch leider gibt es kaum Vorbilder. Deshalb sind diese Burschen anfälliger für religiöse Radikalisierung und bestätigen wiederum das Klischee, das die Gesellschaft von ihnen hat. Dabei leiden auch die Jungs unter dem Patriarchat – darunter, keine Gefühle zulassen zu dürfen. Sie gehen jedoch nicht in die Opferrolle, sondern geben uns den gefährlichen Macho.
Wie sehen das die Mädchen, die von "Haram" betroffen sind?
Muslimische Mädchen sind durch Social Media und Influencerinnen viel selbstbewusster geworden und lassen sich nicht mehr alles sagen. Instagram hat sie dabei aber weit mehr gestärkt als die Schule.
Was haben Sie noch an Wiener Brennpunktschulen erlebt?
Jede Menge Frust bei den Lehrern. Sie fühlten sich überfordert. Wir lernten in der Ausbildung zwar, wie wir Annas und Pauls unterrichten, aber nicht eine Hülya und einen Cem. Teilweise haben sie ihren Unmut an den Schülern ausgelassen, was durchaus menschlich ist. Und Lehrer stammen ja meist aus der Mittelschicht, Schüler an Brennpunktschulen oft aus der Unterschicht. Diese Kinder haben daheim kein eigenes Zimmer, keinen Laptop, keine Eltern, die helfen könnten. Dieses Bewusstsein war bei vielen Lehrern nicht da. Es hieß stattdessen nur: "Er strengt sich nicht genügend an." Meist wurde mit den Eltern gesprochen, als wären sie Kleinkinder. Vor Akademikereltern und deren Kindern hatten viele Lehrer eine ganz andere Ehrfurcht. Bei den Migranten wusste man eben, dass sie keine Macht hatten, weil sie nie einen Anwalt einschalten würden. Rassismus in der Schule ist eine riesengroße Sache, über die wir leider extrem wenig sprechen.
Deshalb tun wir das jetzt …
Gut wäre, wenn Lehrer sich in Fortbildungen dem eigenen Rassismus stellen würden. Oft glauben sie, dass sie null rassistisch sind und reagieren empört. Doch auch ich denke und handle manchmal rassistisch, weil wir alle so sozialisiert wurden. Das zu reflektieren ist wichtig, damit kein Hass auf die Kinder entsteht. Zudem geht es momentan darum, dass man sich nicht so gern von Migranten erklären lässt, was man jetzt noch zu ihnen sagen oder sie fragen dürfe. Gut wäre aber, das Ganze nicht gleich mit Begriffen wie "Cancel Culture" im Keim zu ersticken. Anstatt sich sofort darüber aufzuregen, könnte man sich fragen: "Warum fühle ich mich dabei eigentlich so auf den Schlips getreten?"
Sie haben schnell resigniert und Ihren Job an der Schule schon nach einem Jahr wieder aufgegeben.
Ja, wie viele engagierte Kolleginnen und Kollegen. Ich merkte, dass ich am System nichts ändern konnte und dass die Mehrheit meiner Schüler den Bildungsaufstieg nicht schaffen wird. Denn die Schule verlässt sich voll auf die Mithilfe der Eltern und verstärkt so die soziale Ungleichheit.
Wie sieht die ideale Schule stattdessen aus?
Die Lehrerausbildung müsste alltagstauglicher und diverser werden. Außerdem sollte Schule ganztags stattfinden und allen Kindern kulturelle und gestalterische Möglichkeiten bieten. Es wäre toll, wenn nicht nur wohlhabende Kinder ein Instrument lernen, tanzen, meditieren oder Theater spielen könnten. Schule muss auch anders aussehen: mit einer riesigen Bibliothek, coolen Sportplätzen, einem netten Café, offenen Kunst-Ateliers … Genial wäre Support-Personal wie in Schweden: Sozialpädagogen, Psychologen, Sport- und Musikpädagogen, an die sich die Schüler wenden können, auch bei mentalen Problemen. Überhaupt bräuchte man viel mehr Personal, vor allem mehr männliches.
Sind Sie mit der frühkindlichen Erziehung zufriedener?
Nein. Kindergartenpädagoginnen müssten unbedingt akademisch aufgewertet und besser bezahlt werden. Zudem ist der Betreuungsschlüssel unglaublich schlecht. In Österreich haben wir zwar ein verpflichtendes Kindergartenjahr, was gut ist. Aber es reicht nicht. Ich bin für ein zweites Pflichtjahr, weil in dieser Zeit so viel Grundlegendes gelernt wird: nicht nur besseres Deutsch, sondern auch Schuhe binden. Oder, dass man zum Schwimmunterricht eine Badehose braucht und keine Unterhose. Grundschullehrer sagen: "Man fängt oft bei Null an, und wir schaffen es nicht, alles in vier Jahren aufzuholen. Wir haben ja auch noch die anderen Kinder." So wird die Bildungskarriere früh bestimmt.
Viele dieser Kinder bringen zwei Sprachen mit. Wird das in der Schule anerkannt?
Nein, denn es gibt "gute" und "schlechte" Fremdsprachen. Französisch etwa ist eine Prestigesprache. Aber Türkisch, Bosnisch, Kroatisch oder Arabisch soll man – gefühlt – verlernen. Dabei zeigen zig Studien, dass man als Mehrsprachiger eine Fremdsprache generell schneller lernt. Auch für die weiteren Talente dieser Kinder ist kein Bewusstsein da: ihre Dolmetscherkenntnisse, die extreme Selbstständigkeit und große Empathie-Fähigkeit, weil sie kleine Geschwister aufziehen. Kinder von Migranten aus unteren sozialen Schichten und aus muslimischen Ländern haben es am schwersten.
Sie selbst kamen 1992 mit ihren Eltern aus Bosnien nach Österreich. Wie haben Sie den sozialen Aufstieg geschafft?
Ich hatte das Riesenglück, dass ich an sehr verständnisvolle Kindergartenpädagoginnen geraten bin. Obwohl ich damals nicht gesprochen habe, weil mich alles viel zu sehr belastete. Sie hätten mir deshalb problemlos den Stempel aufdrücken können: "Muslimisches Mädchen wird zu Hause unterdrückt und kann kein Deutsch." Aber das haben sie nicht. Stattdessen lasen sie mir vor, integrierten mich und spielten mit mir. Sie haben mein Stummsein nicht thematisiert, sondern sind sehr einfühlsam auf meine Andersartigkeit eingegangen. Auch meine Volksschullehrerin hat mich später sehr motiviert, mir nette Zeilen geschrieben, mich gelobt. Das gab mir Selbstbewusstsein.
Und Ihre Eltern?
Sie wollten, dass ich die Hauptschule besuche. Mein Vater fand Geldverdienen wichtiger als Bildung. Und sie wussten: Auf dem Gymnasium kommen Kosten für Ausflüge und Bücher auf sie zu. Aber meine Lehrerin sagte: "Melisa geht aufs Gymnasium." Ohne sie hätte ich diese Karriere nicht gemacht. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. Meine Mama wollte später auch, dass ich Abi mache. Mein Vater nie. Er dachte: "Wir sind in Österreich nur etwas wert, wenn wir arbeiten."
Waren Sie deswegen wütend?
Ja. Heute tut es mir leid, dass ich oft sauer war, weil meine Eltern mir manches nicht bieten konnten. Und, dass ich mich manchmal für sie schämte. Als Erwachsene sehe ich, dass sie geschuftet haben und nur das Beste für mich wollten. Als ich begann, als Lehrerin zu arbeiten, wurde ich erneut wütend: Meine Schüler waren nicht dümmer oder fauler als ich. Sie hatten trotzdem schlechtere Chancen, weil sie nicht dieselben Voraussetzungen hatten: Ich war lange Einzelkind, es gab zu Hause einen ruhigen Rückzugsort. In meiner Schule waren viele Akademikerkinder, also wurde ich mitgezogen. Es macht mich betroffen, dass meine Erfahrung bis heute offenbar so selten ist und sich in all den Jahren kaum etwas geändert hat.
Was wäre der erste Schritt zur Verbesserung?
Die Deutschkenntnisse von Migrantenkindern sind oft zu schlecht, um sie im normalen Unterricht ausgleichen zu können. Auch ihre erste Sprache beherrschen sie meist nicht richtig. Man merkt, dass die Eltern zu Hause zu wenig mit ihnen reden und unternehmen. Für diese Kinder ist es umso wichtiger, vom Kindergarten an vorgelesen zu kriegen und später selbst zu lesen. Mir hat damals auch das Fernsehen geholfen. Der "böse" Fernseher ist eh so was Akademisches. Für viele dient er schlicht dazu, die Sprache zu lernen, und man erfährt jede Menge über Land und Leute. Genau wie bei YouTube oder in den sozialen Medien.
Was haben Sie "ur"-deutschen oder -österreichischen Eltern zu sagen?
Erzieht eure Kinder zu Menschen, die nicht diskriminieren und die anderen nicht von oben herab erklären müssen, wie es läuft. Schön wäre auch, wenn ihr eure Kinder an durchmischte Schulen geben würdet. Und wenn ihr ab und zu ein benachteiligtes Kind aus der Klasse eures eigenen Kindes nach Hause einladet und ihm bei den Hausaufgaben helft. Das kann ein Schicksal komplett zum Positiven verändern.
Unsere Gesprächspartnerin:
Melisa Erkurt, 30, geboren in Bosnien, aufgewachsen in Österreich, arbeitete als Gymnasiallehrerin für Deutsch, Psychologie und Philosophie. Zuvor schrieb sie bereits für das Wiener Migrantenmagazin "biber" und leitete ein Schulprojekt mit über 500 Schülern an Wiener Brennpunktschulen. Heute betreibt sie mit "die chefredaktion" ihr eigenes Medienprojekt auf Instagram. Mit ihrem Buch "Generation Haram – Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben" (Paul Zsolnay Verlag, 20 Euro) gibt sie Einblick in die (Schul-)Welt von Migrantenkindern, wie sie selbst eines war.
Automatisch Hauptschule?
37 Prozent aller Schülerinnen und Schüler hatten in Deutschland 2019 einen Migrationshintergrund, so das Statistische Bundesamt. Auffällig: Ihr Anteil an Hauptschulen war mit 57 Prozent fast doppelt so hoch wie an Gymnasien mit 30 Prozent – auch wenn ihr Anteil hier in den letzten Jahren steigt. Die meisten Familien dieser Kinder stammen übrigens aus der Türkei: nämlich fast sechs Prozent*.
*"Datenreport 2021" der Bundeszentrale für politische Bildung
Auch der Biontech-Gründer kämpfte gegen Vorurteile
"Mein Lehrer wollte, dass ich auf die Hauptschule gehe. Erst durch das Einschreiten meines deutschen Nachbarn konnte ich aufs Gymnasium", so wird Ugur Ahin in der Wochenzeitung "Der Freitag" zitiert. Und dann machte der Sohn türkischer Gastarbeiter 1984 am Kölner Erich-Kästner-Gymnasium das beste Abi seines Jahrgangs. Der Rest ist Geschichte.