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Sie wollte unbedingt dabei sein. Mit der ganzen Klasse für eine Woche an die Ostsee. Schon Monate vorher sprach die achtjährige Kim von nichts anderem. Aber da waren auch die nagenden Zweifel, dass sie es nicht schafft. Heimweh bekommt. Abgeholt werden muss. Wie peinlich!
Erste Hilfe gegen Heimweh: zuhören!
Kim ist nicht die einzige, die vor der ersten Klassenreise Bauchschmerzen hat. Nur leider hilft dieses Wissen den Kindern nur begrenzt. Was sie nun brauchen, so die Münchner Familientherapeutin und Elterncoach Tanja Thelen, ist ein offenes Ohr. Sowohl vor als auch während der Reise. Die Erziehungsexpertin ist sicher, dass viele Kinder selbst ganz genau wissen, was ihnen helfen kann, die Angst zu überwinden. „Leider“, so Thelen, „hören Eltern oft nicht genau zu oder nehmen Kinder nicht ernst genug.“
Zuhören ist also der erste Schritt gegen Heimweh. Und da die Eltern ja nicht vor Ort sind, wenn die Sehnsucht nach zu Hause unter die Bettdecke kriecht, ist es sinnvoll, schon früh die Lehrer oder Betreuer ins Boot zu holen, wenn ein Kind ein „Heimwehkandidat“ ist. So lernt das Kind, dass es mit seinen Problemen jederzeit zu den Betreuern kommen kann. Schon Wochen vor der Fahrt kann im Gespräch geklärt werden, was einem Kind hilft, sein Heimweh in den Griff zu bekommen. Reicht schon das Kuscheltier oder ist ein Pullover von Papa besser? Hilft es, wenn die beste Freundin im Nachbarbett schläft oder ist es wichtiger, möglichst viel über das Ziel der Reise zu wissen?
Nach Hause telefonieren? Wenn`s hilft!
Für Kim war es ein ganzes Anti-Heimweh-Paket, das sie zusammen mit Eltern und Lehrerin schnürte und das ihr Selbstvertrauen und Sicherheit geben sollte. Einige Wochen vor der Reise machte sie mit Mama und Papa einen Ausflug an die Ostsee und sah sich die Jugendherberge an. Mit der Lehrerin wurde ein Geheimzeichen vereinbart, das bedeutete: „Ich muss ganz dringend ALLEINE mit dir reden!“ Und ins Handgepäck kamen Extra-Naschis gegen die Sehnsucht nach zu Hause, ein Kissen von Mama und ein Bild von der ganzen Familie.
Für den Kontakt nach zu Hause galt, was die meisten Lehrer auf Klassenreisen als Devise ausgeben: Rufen Sie nicht an, ich melde mich im Notfall! Die Begründung für ein Verbot von Handys und Eltern-Telefonaten ist in der Regel, dass der Kontakt mit den Eltern das Heimweh nur noch schlimmer macht. Der amerikanische Psychologe und Heimwehforscher Christopher Thurber sieht das anders. Er glaubt, dass Eltern ihr Kind am Telefon beruhigen und stärken und ihm Wege aufzeigen können, besser mit ihrem Heimweh fertig zu werden. Jeden Tag fünf Minuten zu telefonieren hilft dem Kind (und damit auch den Betreuern) vielleicht mehr als ein striktes Telefonverbot und veraltete Durchhalteparolen. Auch Elterncoach Thelen findet es gut, wenn die Kinder sich in einer seelischen Notlage melden können. Umgekehrt rät sie allerdings davon ab: „Erfahrungsgemäß sind es meist die Eltern, die den Kontakt zu den Kindern suchen. Für viele Eltern ist es schwierig, drei Tage nichts von ihren Kindern zu hören, nicht zu wissen, wie es ihnen geht und was sie machen.“ Hier ist also Loslassen die Devise, um die eigenen Ängste nicht auf die Kinder zu projizieren.
Das gelte, so Thelen, auch schon für die Vorbereitungszeit. Sind die Eltern nicht überzeugt, dass das Kind es schaffen kann, spürt das Kind das ganz genau. „Da Kinder über feine Antennen verfügen“, so die Familientherapeutin, „sollten Eltern authentisch bleiben. Neben unseren Worten sind auch die Haltung und die Signale, die wir unbewusst senden, wichtige Informationen für die Kinder, auf die sie sich stützen.“ Oder anders: Merken die Kinder, dass man im Grunde mehr Kinderweh als sie Heimweh haben, kommen sie unter Umständen zu dem Schluss, dass sie besser zu Hause bleiben, damit es Mama und Papa gut geht.
Notfall-Mantra: „Du schaffst das und wir sind immer für dich da!“

Auch das Versprechen, sie im Notfall abzuholen, könne von Kindern missverstanden werden, so der US-Psychologe Thurber. Er empfiehlt, Kindern im Vorfeld nicht zuzusichern, sie heimzuholen. Sein Argument: Die Eltern senden damit die Botschaft, dass sie ihrem Kind nicht zutrauen, sein Heimweh selbst zu überwinden. Tanja Thelen sieht das differenzierter: „Eltern sollten ihre Kinder ermutigen und ihnen Vertrauen schenken. Kinder wachsen an Herausforderungen und ihr Selbstvertrauen wird gestärkt, wenn sie schwierige Situationen meistern. Aber natürlich dürfen Eltern ihren Kindern sagen, dass sie sie nicht im Stich lassen und, wenn es nicht anders geht, sie auch abholen. Manche Kinder brauchen diese Sicherheit, um sich auf das auswärtige Übernachten einlassen zu können.“ Thelen schlägt Eltern in ihrer Praxis folgende Haltung vor: „Ich weiß, dass du das schaffst, und du kannst dich auf mich verlassen; ich bin für dich da.“
Die kleine Kim ist so ein Kind. Ohne das Versprechen, sie im Notfall abzuholen, wäre sie nie in den Bus gestiegen. Es wurde in den letzten Tagen vor der Reise ihr Mantra: „Wenn ich zu doll traurig werde, holt ihr mich aber ab, ja?“ – „Ja, mein Schatz! Das machen wir! Wir haben es ja versprochen! Aber wir glauben, dass du das schaffst!“, bestärkten sie die Eltern. Und so kletterte sie mit einem Proviantrucksack voller ungesunder Sachen stolz und erwartungsvoll in den Reisebus, während ihre Mutter draußen stand und tapfer lächelnd die Abschiedstränen runterschluckte.
Keine gute Idee: das Kind zum Klassenreiseglück zu zwingen
Und was, wenn ein Kind partout nicht mitwill? Soll man es überreden, doch mitzufahren? „Nein!“, sagt Tanja Thelen. „Es ist sehr mutig, sich innerhalb einer Klassengemeinschaft dagegen zu entscheiden. Die Eltern sollten aber beim ersten Nein nicht gleich einknicken und es als entschieden hinnehmen.“ Die Therapeutin empfiehlt, mit dem Kind zu reden und gemeinsam herauszufinden, warum es nicht mitfahren möchte. Oft sei der Grund gar nicht Heimweh, sondern Angst vor anderen Kindern oder Streit mit einem Freund. Erst wenn das Kind nach einer Aussprache immer noch bei seinem Nein bleibt, so die Familientherapeutin, ist es besser, dies ohne Vorwürfe zu akzeptieren.
In der Theorie so einfach: Trösten und Zuhören
Wenn das Heimweh dann mit voller Wucht zuschlägt, sind die Lehrer oder Betreuer gefragt. Das Wichtigste, findet Tanja Thelen, sei es, das Kind nicht vor der Gruppe bloßzustellen und die Gefühle der Kinder nicht runterzuspielen. Ein „Das ist doch alles nicht so schlimm!“ helfe dem Kind nicht weiter. Besser sei es, sich die Nöte erst einmal ohne Kommentar anzuhören. Hat das Kind dann noch einen Freund an seiner Seite, falle es ihm sicher leichter, sich zu öffnen und zu seinem Heimweh zu stehen.
Auch für Eltern am Telefon empfiehlt Thelen: „Hören Sie Ihrem Kind zu! Nehmen Sie Ihr Kind mit seinen Gefühlen ernst! Schlagen Sie nicht gleich eine Lösung vor. Fragen Sie Ihr Kind, was es jetzt braucht. Vielleicht muss Ihr Kind erst mal die Gefühle rauslassen und dann geht es besser. Und“, so Thelen, „schlagen Sie nicht vorschnell vor, es abzuholen. Denn zu diesem Vorschlag kann ein Kind in seiner Seelennot nur sehr schwer ‚Nein‘ sagen.“ Besser sei es, das Kind selbst diesen Wunsch formulieren zu lassen.
Das hätten die Eltern von Kim gerne vorher gewusst. Schon am ersten Abend klingelte um 22 Uhr das Telefon. Kims erstickten Tränen und ihrer Angst, im fremden Bett schlafen zu müssen, hatten sie nicht viel entgegenzusetzen. Sie stiegen ins Auto und holten sie nach Hause. Schon am nächsten Morgen wurde allen klar, dass sie Kim damit nicht unbedingt einen Gefallen getan hatten. Die anderen würden nun eine tolle Woche an der Ostsee verbringen und sie war nicht dabei. „Ich bereue es, dass ihr mich abgeholt habt“, sagte sie todtraurig und enttäuscht von sich selbst. Zurückgebracht werden wollte sie aber auch nicht. Dafür würde sie sich doch zu doll schämen.
Nicht aufgeben: Kinder sind kleine Kämpfer
Die gute Nachricht ist, dass auch ein so negatives Erlebnis nicht ein Leben lang Bestand haben muss. Einige Monate nach der Klassenreise stand eine Übernachtung in der Schule an. „Diesmal schaffe ich es“, verkündete Kim siegessicher. Mit ihren Eltern sprach sie lange darüber, was ihr helfen könnte, das Heimweh in den Griff zu bekommen. Dann schlug Kims Mutter ihr vor: „Wenn du hingehst, vereinbaren wir, dass ich dich NICHT abhole. Würde das helfen?“ Kim lächelte. Erst vorsichtig, dann schelmisch. „Ok, Mama. So machen wir das!“ Nachdem auch Kims Lehrerin eingeweiht wurde, war die Sache klar. Und tatsächlich: Das Telefon blieb die ganze Nacht mucksmäuschenstill. Am nächsten Morgen kam Kim ihrer Mutter lachend entgegengelaufen: „Ich hab‘ s geschafft!“, jubelte sie.
Hätte diese Botschaft auch schon bei der Klassenfahrt gegriffen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es ist einfach wie so oft in der Erziehung: Wie man es macht, macht man‘s falsch. Es gibt keine Patentrezepte. Jedes Kind ist anders, jede Situation ist anders. Aber eins ist sicher: Die nächste Klassenfahrt wird Kim durchhalten. Am letzten Wochenende übernachtete sie im Garten ihrer Freundin spontan im Zelt. „Schaffst du das?“, fragten die Eltern? „Na klar, ich hab‘ ja auch die Klassenübernachtung geschafft“, erinnerte sie Mama und Papa stolz. Die positive Erfahrung hat die Erinnerung an die Niederlage offenbar verdrängt. Wieder etwas gelernt. Wie schön!