Gracia Gracioso ist in den sozialen Medien ziemlich erfolgreich: Über 80.000 Follower:innen auf Instagram, fast 700.000 Follower:innen auf TikTok, Drag Queen of Miss Drag Rheinland-Pfalz … Dabei ist sein Leben als Drag Queen "nur" ein Hobby, denn Gracia ist von Beruf Lehrer an einer Schule in Hessen, nutzt den eigenen TikTok-Account nicht nur für unterhaltsame Videos in Drag, sondern beantwortet auch Fragen im Bereich von Schule und LGBTQIA+.
So viel Aufklärungsbedarf sieht er beim Thema Queerness, dass er nächstes Jahr ein Buch mit dem Titel "L(i)ebe, wie du willst" veröffentlichen wird. Im Interview sprachen wir mit ihm über sein Coming-Out und warum er gerade vor den Reaktionen der Eltern die größte Angst hatte.
"Ich ärgere mich im Nachhinein, dass ich zehn Jahre ein Versteckspiel gespielt habe"
Dass Gracia sich nachts in Drag wirft, wussten seine Schüler:innen viele Jahre lang nicht. Vor fünf Jahren hätte ein Zufall fast zum Fremd-Outing geführt. "Ich war damals auf Klassenfahrt und dort war es den Schüler:innen untersagt, ihr Handy zu nutzen. Aber auf der Rückfahrt durften sie es dann rausnehmen, sie sollten Musik hören und schlafen. Sie und gerade ihre Lehrer sollten auch mal Ruhe haben", erinnert sich Gracia und lacht.
Er habe damals selbst das Handy gezückt und sei nur kurz auf Instagram mit seinem "Gracia Gracioso"-Account gewesen – dabei hatte er nicht bedacht, dass auch Schüler:innen hinter ihm saßen und ihn dabei beobachten konnten. "Zwei Tage später wurde ich dann von vier Schülerinnen auf dem Pausenhof angesprochen." Zunächst seien die vier um das Thema herumgetänzelt, hätten gefragt, ob Gracia Drag Queen Olivia Jones kennen würde. Gracia habe sich damals dumm gestellt, geantwortet, dass er Olivia vom Hören kenne und Drag Queens grundsätzlich in Ordnung fände, da sich manche von ihnen politisch engagieren.
"Und kennen Sie eine Gracia Gracioso?", hätte eine Schülerin dann direkt gefragt. "Da bin ich zusammengezuckt", erinnert sich Gracia. "Ich habe den Schülerinnen dann gesagt: 'Hört zu, ihr habt mir ganz oft eure Geheimnisse anvertraut und jetzt habt ihr ein Geheimnis von mir und ich hoffe darauf, dass ihr das jetzt nicht jedem weitererzählt.'" Am Nachmittag ging Gracia nach Hause und erzählte alles seinem Partner. "Morgen ist die große Gaudi in der Schule, der große Knall, jetzt wissen es alle", davon sei er damals überzeugt gewesen. "Und dann … nichts am nächsten Tag. Gar nichts." Die Schülerinnen haben ihr Versprechen gehalten und ihren Lehrer nicht fremdgeoutet.
Stattdessen konnten Gracia und sein Mann den Zeitpunkt ihres Coming-Outs selbst bestimmen: 2017, als die Ehe für alle in Deutschland in Kraft trat, gehörten die beiden zu den Ersten, die in ihrer Stadt heirateten – was natürlich auch in der Presse für Berichte sorgte. "Und das war dann natürlich ein großes 'Aha, er ist schwul, jetzt wissen wir es'", erinnert Gracia sich an diese Zeit. "Und es war nie ein Problem." Mittlerweile habe er auf dem Lehrkraft-Kalender ein Bild von sich und seinem Mann, "damit auch die neuen Schüler:innen gleich wissen, wie der Hase läuft, ohne dass ich mich direkt oute." Über die manchmal anstrengende Zeit vor dem Coming-Out blickt Garcia ein wenig frustriert zurück: "Ich ärgere mich im Nachhinein, dass ich fast zehn Jahre ein Versteckspiel gespielt habe und heute ganz offen über alle normalen Dinge im Leben reden kann, so wie heterosexuelle Paare es eben auch tun."
"Schüler:innen fragen mich: 'Und was sagt Ihre Mama dazu?'"
Dabei waren nicht die Schüler:innen der Grund, warum er so viele Jahre nicht offen mit seiner Sexualität umging. Zwar würden diese ab und an Fragen stellen, "die man jetzt vielleicht nicht dem heterosexuellen cis-Kollegen oder der heterosexuellen cis-Kollegin [Anm. d. Redaktion: jemand, der:die sich mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifiziert] stellen würde" und manches Mal wundere sich Gracia über die niedrige Hemmschwelle – und die provokative Natur der Fragen, zumindest bei manchen Schüler:innen: "Viele Schüler:innen, die ein Problem mit meiner Homosexualität haben, gehen davon aus, dass es eine Schwachstelle von mir sei und versuchen, diese auszunutzen. Ich bin aber jemand, der diese 'Schwachstelle' zu einer Stärke gemacht hat."
Das habe Gracia auch seiner Familie zu verdanken, deren offene und akzeptierende Erziehung ihm dabei half, dass aus ihm ein selbstbewusster Mensch geworden ist "und ich das natürlich auch in meiner Kunst ausdrücken kann". Zwar seien seine Großeltern dabei etwas zurückhaltender gewesen, schließlich sei es für die beiden eine "ganz fremde andere Welt", doch die noch lebende Großmutter schaue sich bis heute gerne seine Shows an. Umso trauriger mache es Gracia, wenn er mitbekommt, dass andere Kinder dieses Privileg einer akzeptierenden Familie nicht genießen dürfen: "Es zerreißt mir das Herz, wenn Kinder und Jugendliche nicht von ihren Eltern unterstützt werden, weil das sehr viel in ihnen kaputtmacht."
Wenn dann Schüler:innen aus seiner Sexualität ein Thema machen, käme auch gerne die Frage nach der Reaktion der Eltern auf: "Die fragen mich: 'Und was sagt Ihre Mama dazu?' Und wenn ich ihnen dann erkläre, dass meine Mutter bei der Hochzeit dabei war, dann ist alles gut und schön."
Lange hatte Gracia eher Angst vor der Reaktion der Eltern seiner Schüler:innen – auf sein Hobby und auf seine Sexualität. Als Lehrperson käme im Umgang mit den Schüler:innen auch das Thema Religion ins Spiel und "Queerness und Religion sind selten miteinander vereinbar", wie er feststellt. Warum manche Eltern mit der Queerness einer Lehrperson Probleme haben könnten, darüber kann er nur Mutmaßungen abgeben: "Ich denke, dass die große Angst der Eltern Fragen sind, wie: 'Was erzählt er im Unterricht?', 'Klärt er meine Kinder auf? Vielleicht so, wie ich es nicht möchte? Oder so, wie es meine Religion vielleicht nicht unbedingt gutheißt?'"
"Für die Eltern ist es wichtig, auch mal darüber gesprochen zu haben, dass ich auch eine Drag Queen bin"
Tatsächlich sei bisher noch kein Elternteil an ihn oder an das Kollegium herangetreten – Gracia ist sowieso überzeugt davon, dass es hierfür keinen Grund gibt: "Was ich tue, tue ich in meiner Freizeit. Ich laufe ja nicht händchenhaltend mit meinem Mann über den Pausenhof. Aber diese Freiheit würde ich mir auch noch nehmen, wenn er mal in der Schule wäre. Und auch dann mache ich ja nichts, was heterosexuelle Menschen nicht auch tun." Vorrangig sei er Ansprechpartner – egal, ob für heterosexuelle, vermeintlich heterosexuelle oder homosexuelle Schüler:innen. "Ich hoffe, sie sehen in mir den langweiligen Lehrer, der vielleicht, was die sozialen Medien angeht, ein bisschen erfolgreicher ist als der durchschnittliche Lehrer."
Für manche Eltern ist Gracia alles andere als durchschnittlich: Einige würden nach dem Elterngespräch fragen, ob es möglich sei, eine seiner abendlichen Shows zu besuchen. "Da merkt man, dass es für die Eltern wichtig ist, auch mal darüber gesprochen zu haben, dass ich auch eine Drag Queen bin", so Gracia. Und es gebe sogar eine Handvoll Eltern, die immer wieder betonen würden, wie gut sie es finden würden, dass Gracia für ihr Kind eine Vorbildfunktion übernehme. "Da geht es weniger um das Schwul oder Lesbisch sein, sondern dass ich den Kindern zeige: 'Lebe dein Leben so wie du möchtest.' Wichtig ist, dass du glücklich bist und niemandem schadest. Das finden die Eltern sehr wichtig."