Natascha Sagorski ist Autorin, PR-Managerin, Mutter – und noch vieles mehr. Mit ihrem neuen Buch will sie ein ganz bestimmtes Thema in den Vordergrund rücken, das viel zu wenig Beachtung findet und meist noch immer tabuisiert wird: eine Fehlgeburt. In ihrem Buch finden sich die Geschichten vieler Frauen und eines Mannes, die von ihren Erfahrungen berichten. Es tröstet und macht Mut zugleich.
ELTERN.de: Sie haben das Buch "Jede 3. Frau" geschrieben und dafür Interviews mit 24 Frauen und einem Mann geführt. Was hat Sie dazu bewegt?
Sagorski: Leider etwas sehr Naheliegendes, nämlich meine eigene Fehlgeburt. Die hatte mich so unvorbereitet und tief getroffen, dass es mir im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlagen hat. Ich konnte in den ersten Tagen und Wochen nach dem Verlust meines Babys nicht wirklich mit Menschen über das Erlebte sprechen.
Aber ich hatte das große Bedürfnis, Erfahrungsberichte von anderen Frauen zu lesen, die dasselbe durchgemacht hatten und die es aus dem Tal der Trauer herausgeschafft hatten. Frauen, mit denen ich mich identifizieren konnte, die wieder mitten im Leben standen und die ihr Lachen wiedergefunden hatten. Ich fand einzelne Berichte im Internet, aber ich hätte mir ein Buch wie “Jede 3. Frau“ gewünscht, in dem ich Erfahrungsberichte gesammelt finde. Deswegen habe ich dieses Buch geschrieben und Interviews mit vielen tollen Frauen und einem tollen Mann geführt.
Wie konnten Sie die Kraft dafür (und auch für das Buch) aufbringen?
Das Buch habe ich geschrieben, als ich gerade in der Elternzeit mit meinem Sohn war. Ich hatte also bereits Zeit gehabt, meine Fehlgeburt zu verarbeiten und mein Glück wiedergefunden. Während der Recherche wurde ich wieder schwanger. Manchmal war es natürlich eine große Herausforderung, sich als Schwangere so intensiv mit Fehl- und Totgeburten zu beschäftigen. Aber die Gespräche mit den Frauen waren einfach so bereichernd: Wir haben zusammen geweint, gelacht, uns verstanden und ineinander wiedergefunden. Es waren trotz des traurigen Themas meist positive Gespräche und sie haben mir definitiv mehr Kraft gegeben als genommen.
Haben Ihnen die Geschichten der anderen Frauen/ Betroffenen beim Verarbeiten Ihrer eigenen Fehlgeburt geholfen?
Darüber zu sprechen und sich auszutauschen ist so ein wichtiger Prozess nach einer Fehlgeburt. Ich hatte zu Beginn das Gefühl, diese EINE Frau zu sein, die nicht einfach mal schwanger ist und zehn Monate später selbstverständlich ein gesundes Baby auf die Welt bringt. Die eine große Ausnahme, die versagt hat. Erst durch meine Recherchen, wie häufig und leider normal Fehlgeburten sind, und durch den Austausch mit anderen habe ich dieses Schuld- und Schamgefühl überwinden können. So viele Frauen erleben Fehlgeburten und als ich dazu aufgerufen habe, mir ihre Geschichten zu erzählen, haben die Frauen mein Postfach regelrecht geflutet. Viele wollen darüber sprechen, trauen sich aber nicht und es fragt sie auch keiner.
Ich würde sagen, die Interviews mit den Frauen waren fast wie eine kleine Therapie für mich und das haben mir einige der Frauen auch aus ihrer Sicht so wiedergegeben. Dass nämlich alleine die Tatsache, dass sie endlich jemand nach ihrer Geschichte gefragt und diese dann auch noch aufgeschrieben hat, eine sehr heilsame Erfahrung war. Dieses ganze positive Feedback hat mir natürlich auch noch einmal Kraft gegeben.
Ihr Buch soll Mut machen und erzählt nicht nur von den Fehlgeburten, sondern zeigt auch Happy Ends der etwas anderen Art. Welche zum Beispiel?
Sehr viele der Frauen haben nach ihren Fehlgeburten noch Kinder bekommen. Das ist ja das Schöne, dass statistisch gesehen ein absoluter Großteil der betroffenen Frauen wieder schwanger werden und Babys bekommen kann. Manche der Frauen befinden sich auch noch im Kinderwunsch und warten auf ihr Regenbogenbaby. Sie kämpfen für ihr Happy End und auch wenn der Weg dorthin oft steinig ist, sind die meisten zuversichtlich und glauben daran.
Eine Frau, mit der ich gesprochen habe, hat aber mittlerweile aus medizinischen Gründen mit dem Kinderwunsch abgeschlossen. Das Gespräch mit ihr war ein ganz besonderes und hat mich sehr berührt. Sie hat auch ohne Kind ihr Glück gefunden, sich beruflich verwirklicht und einen tollen Mann an ihrer Seite. Sie sagte mir, dass sie trotz der Fehlgeburt dankbar sei für die erlebte Schwangerschaft. Denn dieses Glücksgefühl, das sie erfasst hat, als der Arzt ihr beim Ultraschall den Herzschlag ihres Babys gezeigt hat, dieses Glücksgefühl war das stärkste, das sie je verspürt hat. Und auch heute noch ist sie dankbar dafür, dass sie dieses Gefühl einmal erleben durfte, denn viele Menschen werden niemals in den Genuss kommen, etwas Vergleichbares zu spüren. Und dass sie dies erleben durfte, empfindet sie bis heute als Privileg. Eine bewundernswerte und wahnsinnig schöne Art und Weise des Umgangs damit, wie ich finde.
Was hat Ihnen persönlich am meisten geholfen?
Gespräche mit anderen. Am Anfang nur mit meinem Mann, denn er war der Erste, bei dem ich meine Sprache wiedergefunden habe. Auch er hatte schließlich unser gemeinsames Baby verloren, das hat uns zusammengeschweißt. Und später dann der offene Umgang mit der Fehlgeburt. Denn so gut wie immer, wenn ich einer Frau davon erzählt habe, im Büro, einer Freundin, im Kosmetikstudio, kam die Antwort “Ich / meine / Freundin / Schwester / Mutter hatte auch eine Fehlgeburt.“
Und wenn man einmal verstanden hat, dass das Thema so viele Frauen betrifft, nur keine darüber spricht, wird einem klar, dass man nicht alleine ist. Dass man nicht die EINE Frau ist, der so etwas Schlimmes passiert ist. Sondern, dass es so vielen so geht und alle darunter leiden. Doch wenn man sich öffnet und austauscht, dann leidet man weniger. So ging es mir zumindest.
Wie schafft man es, über seinen Verlust zu sprechen? Wie haben Sie das geschafft?
Ich habe etwas Zeit gebraucht, um die erste Schockstarre zu überwinden. Durch meine Recherchen und das Lesen von Erfahrungsberichten anderer Frauen hatte ich schon eine Ahnung davon, dass unglaublich viele Frauen betroffen sind. Das hat mir Mut gemacht, mich zu öffnen. Denn nach dem Lesen von Geschichten anderer Frauen wollte ich auch gerne mit Frauen aus meinem Umfeld direkt darüber sprechen. Nachdem ich inzwischen wusste, dass jede dritte Frau betroffen ist, war die Chance, andere Frauen zu treffen, denen es wie mir ging, sehr hoch. Und genauso war es ja auch. So gut wie keine Frau, der gegenüber ich mich geöffnet hatte, war noch nicht selbst oder durch nahestehende Frauen mit dem Thema in Berührung gekommen.
Brauchen wir noch viel mehr Anlaufpunkte und Unterstützung für Betroffene?
Vor allem brauchen wir Aufklärung darüber, wo Frauen sich Hilfe suchen können. Mir sagte weder mein Gynäkologe noch jemand in der Klinik, dass mir eine Hebammenbetreuung zusteht. Die steht aber jeder Frau nach einer Fehlgeburt zu! Es gibt auch viele Sternenkindvereine in ganz Deutschland, die großartige Arbeit leisten. Auch darüber sollten Praxen und Kliniken Frauen informieren, denn nach einer Fehlgeburt ist man oft erstmal wie in einem Tunnel und sich dann selbst aktiv um Hilfe kümmern zu müssen, ist sehr viel verlangt. Ich finde ja, man sollte bereits Frauen im Kinderwunsch aufklären, dass Fehlgeburten leider oft zum Schwangersein dazu gehören. Natürlich möchte sich das keine Frau vorstellen, aber ich wäre im Nachhinein froh gewesen, hätte ich vorher schon gewusst, dass Fehlgeburten sehr häufig sind.
Ich hätte auch gerne vorher mehr über meine medizinischen Möglichkeiten gewusst, denn es muss ja meist nicht zwingend eine Ausschabung gemacht werden- Auch Kleine Geburten mit Hebammenbetreuung zu Hause sind möglich und zum Beispiel in Skandinavien sogar die Regel. Ich bekomme als Frau mit Kinderwunsch ja meist unzählige Broschüren zum Einfrieren von Nabelschnurblut, Pilates, Ernährung, usw. Warum gibt es keine Broschüre zu Fehlgeburten, die auf sanfte, aber informative Weise aufklären? Oder warum spielen Fehlgeburten nicht schon im Aufklärungsunterricht in der Schule eine Rolle? Dass Fehlgeburten sehr häufig sind, sollte Allgemeinwissen werden.
Warum ist eine Fehlgeburt nach wie vor eher ein Frauenthema? Es betrifft ja auch die (werdenden) Väter…
Absolut und auch Väter leiden. Aber ich denke, die unmittelbare Verbindung, die eine Frau sowohl körperlich als auch seelisch zu ihrem Baby aufbaut, ist sehr schnell sehr tief. Das können die meisten Männer fairerweise nicht von Tag eins an in derselben Intensität nachfühlen. Wenn wir Frauen einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand halten, sind wir schon Mamas. Fassen uns bewusst und unbewusst immer wieder an den Bauch, sprechen vielleicht schon mit unserem Baby, kennen den errechneten Geburtstermin und sehen beim Ultraschall (hoffentlich) das kleine Herz in uns schlagen. Deswegen ist der Verlust dieses Wesens in uns etwas, das Frauen so elementar und bis in die tiefste Seele erschüttert. Für Männer ist eine Schwangerschaft glaube ich abstrakter und schwerer zu fassen, oft ja auch erst, wenn sie erste Tritte durch die Bauchwand spüren können. Aber auch hier ist natürlich jeder Mann anders.
Wie kann man in einer Folgeschwangerschaft wieder Vertrauen haben in den eigenen Körper?
Bei mir war der zweite Ultraschalltermin, also der, an dem der Arzt damals den Tod meines Babys feststellte, immer der Knackpunkt. Wenn ich diesen Termin mit einem Ultraschallfoto und dem Klang des Herzschlags meines Babys im Ohr hinter mir hatte, vertraute ich darauf, dass nun alles gut gehen würde. Und das ist der Schlüssel, denke ich. Vertrauen in den eigenen Körper, aber auch in das Schicksal und in die betreuenden Ärzt:innen. Ich habe aber auch mit Frauen gesprochen, die in der Folgeschwangerschaft jede Woche in die Praxis gegangen sind, weil sie Gewissheit brauchten, dass alles gut ist. Das ist natürlich ein wahnsinnig hohes Stresslevel, aber irgendwie auch nachvollziehbar. Ich denke, dass eine gute Hebammenbetreuung, sensible ärztliche und eventuell auch psychologische Betreuung hilfreich sein können, wenn das Vertrauen gänzlich weg ist. Und natürlich auch ein stabiles Umfeld und Gespräche mit anderen Frauen. Reden hilft auch hier so viel.
Sie haben eine Petition ins Leben gerufen, die einen gestaffelten Mutterschutz nach einer Fehlgeburt fordert. Hat es Sie überrascht, dass es noch keine Petition, geschweige denn eine gesetzliche Regelung in diesem Falle gibt?
Absolut. Aber ich denke auch hier fehlt das Wissen in der Gesellschaft. Ich hatte auf jeden Fall keine Ahnung, dass eine Frau, die vor der 24. Woche ihr Baby verliert (und es leichter als 500 Gramm war) vom Gesetzgeber her am nächsten Tag wieder funktionieren muss. Denn auch wenn man meinen sollte, dass diese Frauen automatisch krankgeschrieben werden, so ist das leider oft nicht der Fall. Zu mir meinte eine Ärztin noch in der Klinik am Krankenbett, ich könne morgen wieder arbeiten gehen. Und durch meine Recherchen habe ich erfahren, dass unglaublich viele Frauen dasselbe oder Vergleichbares erlebt haben.
Natürlich gibt es auch sensible Ärzt:innen, die Frauen sofort krankschreiben, andere tun dies aber nicht oder nur für zwei Tage und nach regelrechtem Betteln der Frau. Ich finde es unfassbar, dass dies der aktuelle Stand in Deutschland ist und dass es im subjektiven Ermessen eines einzelnen Arztes liegt, ob und wie lange eine Frau nach einer Fehlgeburt heilen darf. Deswegen denke ich, dass ein, von einer Expertenkommission erarbeiteter, gestaffelter Mutterschutz nach Fehlgeburten überfällig und eine sehr dringende Aufgabe der Politik ist. Ich freue mich über jede Unterschrift für die Petition.
Über die Petition
Die Petition fordert einen gestaffelten Mutterschutz für Frauen, die eine Fehlgeburt erleiden. Denn aktuell steht ihnen bis zur 24. Schwangerschaftswoche kein Mutterschutz zu. Nach dem Verlust ihres Kindes brauchen sie aber Ruhe und Zeit, um heilen und ihre Trauer verarbeiten zu können.
Über das Buch "Jede 3. Frau"
Sagorski sammelt im Buch "Jede 3. Frau" die Geschichten von 24 Frauen und einem Mann. Alle Geschichten sind ganz unterschiedlich, haben aber einen gemeinsamen Nenner: eine Fehlgeburt. Erschienen ist das Buch bei Komplett Media und für 18 Euro erhältlich.