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Es ist der GAU für jede frisch geborene Mutter: das Gefühl, ihr Baby nicht lieben zu können, das sie unter unvorstellbaren Schmerzen auf diesen Planeten gepresst hat. Sie fühlt nichts, oder nichts als Abneigung gegen dieses Wesen, das sich in ihrem Leben plötzlich so unfassbar breit macht. Tag und Nacht braucht es Zuwendung, Aufmerksamkeit und Liebe. Und ausgerechnet diese Liebe kann sie ihm nicht geben.
Dabei soll doch gerade die Mutterliebe die stärkste Kraft der menschlichen Existenz sein - unverbrüchlich, unerschütterlich, bedingungslos. Eine Liebe, die ganz von selbst von der Mutter Besitz ergreift, sobald sie von diesem kleinen Menschen weiß, der in ihrem Körper heranwächst.
Und nur sie ist nicht fähig zu dieser großen Liebe!? Was soll aus dem Kind werden? Was aus ihr? Sie fühlt sich schuldig, einsam und ist überzeugt, als Frau zu versagen - und als Mutter sowieso.
Ihr seid längst nicht so allein, wie ihr glaubt
Doch auch, wenn es sich so anfühlen mag: Es ist weder monströs noch selten, dass junge Mütter nicht sofort liebevolle Gefühle für ihr Baby entwickeln. Diplom-Psychologin Birgit Spieshöfer spricht aus ihrer Erfahrung als Therapeutin, wenn sie sagt:
Zuallererst sei es wichtig, zu verstehen: Dieses Gefühl hat nichts mit meinem Kind zu tun, sondern mit mir selbst. Wenn ich keine Liebe für mein Kind empfinde, es sogar hasse oder Tötungsfantasien habe, ist das immer ein Schutz, sagt Spieshöfer. „Meist hängt das mit einer Überforderung zusammen - die Frau ist überlastet.“
Der wichtigste Schritt laute jetzt: Das Gefühl nicht zu leugnen, sondern es anzunehmen und nach den Ursachen zu forschen, die dahinterliegen. Erst wenn man an die zugrundeliegenden Gefühle herankomme, könnten diese sich lösen. Erst dann könne man beginnen, sein Kind zu lieben.
5 Ursachen für das Gefühl mangelnder Mutterliebe
- „In der Beziehung zum Kind wird immer auch die Beziehung zu uns selbst berührt“, sagt Corinna Buchholz, Psychologische Psychotherapeutin aus Berlin. Wenn eine Frau als Kind nur unzureichend Zuwendung erfahren hat, werden diese frühen Beziehungserfahrungen wiedererlebt und können zu Ablehnung oder zu Aggressionen führen. In diesem Fall ist es sinnvoll, sich damit auseinanderzusetzen, wie die Beziehung zur eigenen Mutter war. Denn oft kann man dem eigenen Kind nur geben, was man selbst bekommen hat: Habe ich selbst nur wenig Liebe erfahren, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich diese Erfahrung wiederhole. Die gute Nachricht ist: Es ist immer auch eine Chance, sich selbst mehr kennenzulernen und die Beziehung zu sich selbst zu verbessern.
- In unserer Optimierungsgesellschaft leiden Mütter unter den hohen Anforderungen,die an sie gestellt werden – etwa, in allen Lebensbereichen schnell wieder zu funktionieren, mit dem Baby glücklich zu sein und das Kind von Anfang an zu lieben. Birgit Spieshöfer aber weiß: „Die Liebe zum Kind muss oft erst wachsen.“
- DieFrauen setzen sich selbst unter Druck. "Wir sind es nicht mehr gewöhnt, dass die Dinge nicht sofort funktionieren und sich nicht alles kontrollieren lässt“, so Buchholz.
- In der Kleinfamilie bekommen Mütter wenig Unterstützung, sodass sie schnell in eine Überforderungssituation geraten. „Es ist unnatürlich, dass eine Frau sich den ganzen Tag allein ums Kind kümmert. Bei Naturvölkern ist eine Mutter umgeben von Verwandten und dem oft zitierten ganzen Dorf, das es braucht, um ein Kind großzuziehen,“ sagt die Berliner Psychologin.
- Manche Kinder kommen mit einem schwierigem Temperament zur Welt. Die Mama bekommt dann noch eher das Gefühl, dass sie ihrer neuen Rolle nicht gewachsen ist - und gerät in einen Teufelskreis.
Was kann man tun, um vorzubeugen?
Birgit Spieshöfer rät allen Frauen, die ans Kinderkriegen denken: Setzt euch vorher mit der Realität auseinander! „Viele glauben, mit dem Kind ginge endlich ein Märchen in Erfüllung, aber ein Neugeborenes ist furchtbar anstrengend.“
Klar ist aber auch: Auf die erste Zeit mit Kind kann man sich nur begrenzt vorbereiten. Umso wichtiger ist es, sich rechtzeitig ein Netzwerk zu schaffen, damit man mit der massiven Lebensumstellung, die ein Baby bedeutet, am Ende nicht alleine ist.
Und wenn man dann trotzdem in ein tiefes Loch fällt, sollte man sich unbedingt jemandem anvertrauen, dem Partner etwa oder einer Freundin. Bleibt das Gefühl längerfristig bestehen, sollte man sich therapeutische Hilfe holen, um sich unter professioneller Anleitung mit den Ursachen auseinanderzusetzen - und das Leid mit der Liebe zu beenden.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen bei BRIGITTE.de.